Kuscheln, Lesen, Spielen – alleinerziehende Eltern verbringen sehr bewusst Zeit mit ihren Kindern

Gespräch mit  Miriam Hoheisel, Bundesgeschäftsführerin des Verbandes alleinerziehender Mütter und Väter (VAMV) e.V., über die Ressourcen von Alleinerziehenden.

Wenn ich mich in meinem Freundes- und Bekanntenkreis umschaue, dann sehe ich mehrere Einelternfamilien. Niemand von ihnen lebt am Existenzminimum oder fällt irgendwie durch eine besondere Bedürftigkeit auf. Ist Alleinerziehend „normal“ geworden?

Miriam Hoheisel: Ja, Einelternfamilien sind heute eine ganz normale Familienform. Das bestätigen nicht zuletzt die Zahlen: Wenn jede 5. Familie aus einer Alleinerziehenden und ihren Kindern besteht, kann man von einer gesellschaftlichen Normalität sprechen. Einelternfamilien sind auch keine homogene Gruppe. Sie unterscheiden sich genauso voneinander, wie es Paarfamilien tun. Deshalb brauchen sie in der Zeit des Übergangs von einer Familienform in die andere – üblicherweise von der Paarfamilie in die Einelternfamilie – ganz unterschiedlich Unterstützung. Unterhalt, Sorgerecht, Erwerbstätigkeit müssen geregelt werden …

… die gravierenden Themen …

Miriam Hoheisel: … genau, und dabei ist unsere Erfahrung, dass die Arbeitsteilung vor einer Trennung entscheidend beeinflusst, wie gut oder schlecht das finanzielle Auskommen als Einelternfamilie ist. Wer z. B. als verheiratete Mutter nur einen Minijob hatte, wird es schwer haben, nach einer Trennung am Arbeitsmarkt wieder existenzsichernd Fuß zu fassen. Insgesamt gibt es jedoch nur eine statistisch eher kleine Gruppe, wo die langfristige Verfestigung einer prekären Lebenssituation droht. Das sind vor allem die sehr jungen alleinerziehenden Frauen ohne Ausbildung.

Stichwort Ausbildung: Eine Bankkauffrau lebt mit ihren zwei Kindern in einer Eigentumswohnung, eine Ärztin leistet sich eine Klavierlehrerin für ihre drei Kinder, eine Lehrerin ermöglicht ihrem 16-jährigen Sohn einen Auslandsaufenthalt in Neuseeland – drei Beispiele für gut ausgebildete allein erziehende Frauen. Wie wichtig ist das Bildungsniveau von Alleinerziehenden, um mit Kindern gut zu leben?

Miriam Hoheisel: Im VAMV sehen wir, dass es Alleinerziehenden mit einem hohen formalen Bildungsabschluss in der Regel gut gelingt, belastende Situationen für ihre Kinder abzufedern. Sie bewegen sich unbefangen und souverän in den Unterstützungs- und Bildungssystemen und begegnen den Ansprechpartnern dort „auf Augenhöhe“. Das ist ein großer Vorteil. Umso wichtiger ist es unserem Verband, Alleinerziehende mit geringeren formalen Bildungsressourcen im Umgang mit Behörden kompetent zu machen. Insgesamt haben Alleinerziehende und Mütter in Paarfamilien ein vergleichbares Bildungsniveau. Wie alle Eltern profitieren natürlich auch Alleinerziehende von den Vorteilen einer hohen Qualifikation. Sie begünstigt ein gutes Einkommen. Bei Familien unter der Armutsgrenze kann sie sogar negative Auswirkungen von Armut ausgleichen. Das hat zum Beispiel Axel Schölmerich von der Ruhr-Universität Bochum herausgearbeitet. Er konnte nachweisen, dass das Bildungsniveau der Eltern einen stärkeren Einfluss auf das Wohlergehen von Kindern als die Höhe des Familieneinkommens.

Geld verdienen, Haushalt führen, Kinder erziehen, Freundschaften und Hobbies pflegen, sich weiterbilden: Sind Mütter als die große Mehrheit der Alleinerziehenden, die das und noch viel mehr alleine managen, besonders „tough“?

Miriam Hoheisel: Die meisten allein erziehenden Mütter sind gut organisiert, arbeiten effektiv, pflegen ihre Netzwerke, haben ihre Kinder im Blick und registrieren aufmerksam, wie sie sich entwickeln. Und wenn das Kind krank ist, haben Sie in der Regel einen Plan B in der Tasche, um am Arbeitsplatz nicht zu häufig auszufallen. Wir beobachten im Verband insgesamt, dass Alleinerziehende bei großer Belastung eine hohe Zufriedenheit signalisieren, die sich wiederum positiv auf die Kinder auswirkt.

Bisher haben wir vor allem von Müttern gesprochen, der mit 90% großen Mehrzahl der Alleinerziehenden. Wie leben Väter mit ihren Kindern?

Miriam Hoheisel: Der gravierende Unterschied zwischen alleinerziehenden Müttern und Väter liegt zum einen in der ökonomischen Situation. Zum anderen betreuen alleinerziehende Väter Kinder, die schon älter sind: Nur bei gut 11 Prozent ist das jüngste Kind unter sechs Jahre alt. Ein weiterer Unterschied liegt darin, dass Väter im Schnitt älter als Mütter sind, rund 60 Prozent sind zum Beispiel älter als 45 Jahre. Sie sind beruflich eher etabliert, arbeiten häufiger in Vollzeit und blicken auf weniger familiär bedingte Erwerbsunterbrechungen zurück. Folglich leben sie in ökonomisch stabileren Situationen. Zum Beispiel haben 22,2 Prozent der alleinerziehenden Väter ein monatliches Nettoeinkommen von 2.6oo Euro, aber nur 6,8 Prozent der Mütter.

Wirkt sich die prekäre wirtschaftliche Situation der Mütter auf deren Kinder aus?

Eindeutig ja. Der Erziehungswissenschaftler Holger Ziegler von der Uni Bielefeld hat 2011 in einer Studie festgestellt, dass Alleinerziehende ihre eigene hohe Belastung nicht an ihre Kinder weitergeben. Diese bekommen nach seinen Ergebnissen mindestens genauso viel Aufmerksamkeit und Zuwendung wie ihre Altersgenossen in Paarfamilien. Tendenziell fühlten sie sich sogar besser aufgehoben. Wenn für alleinerzogene Kinder eine höhere Belastung besteht, dann aufgrund einer schlechten sozioökonomischen Situation, nicht aufgrund der Familienform oder des Zeitmangels der Mütter.

Dabei sollte man denken, dass gerade „Zeit“ eine Ressource ist, von der Alleinerziehende wirklich zu wenig haben.

Miriam Hoheisel: Das ist auch so. Zeit ist Mangelware. Mehr als ein eigenes Haus oder anderen repräsentativen Wohlstand wünschen sich alleinerziehende Mütter eine höhere Zeitsouveränität; zumal sie auch noch mehr Energie in Netzwerke stecken als Mütter in Paarfamilien. Aber: Gerade deswegen nutzen die Mütter die geringen Zeitressourcen sehr konzentriert für ihre Kinder. Kuscheln, Spielen, Lesen, gemeinsame Mahlzeiten sind im Alltag vieler Alleinerziehender fest eingeplant. Das ist ein wirksamer Schutzfaktor z. B. gegen trennungsbedingte Ängste bei Kindern. Ihnen zuzuhören, gerade wenn man sich vielleicht erst am frühen Abend nach einem langen Tag in Schule und Büro trifft, spielt im Familienleben eine große Rolle.

Kuscheln, spielen, lesen… Das klingt idyllisch. Es ist sicher entlastend, wenn nach partnerschaftlichem Streit, Auseinandersetzungen vor Gericht und familiären Zerwürfnissen nach und nach Ruhe einkehrt. Möglicherweise ist Alleinerziehend eine gute Alternative, wenn die Partnerschaft zu einer übergroßen Belastung geworden ist.

Miriam Hoheisel: Wir wissen aus der Scheidungsforschung, dass viele Schwierigkeiten, die der Scheidung angelastet werden, in schlecht funktionierenden Familien bereits vorher auftraten. Der Wechsel von einer konfliktreichen Familienform in eine weniger belastete kann deshalb von Kindern und Erwachsenen als positiv erlebt werden, und Eltern und Kinder, die eine belastende Situation wie eine Trennung bewältigt haben, können daraus durchaus gestärkt hervorgehen. Eine Studie der Sinus Markt- und Sozialforschung im Auftrag des Bundesfamilienministeriums weist alleinerziehenden Müttern einen hohen Bewältigungsoptimismus nach, von dem auch die Kinder profitieren.

Warum gelingt es der Familienform trotz dieser optimistischen Haltung und den geschilderten Anstrengungen und Ressourcen der Mütter nicht, aus den prekären Lebenslagen herauszukommen?

Miriam Hoheisel: Alle Studien zeigen, dass das Armutsrisiko für Alleinerziehende unverändert hoch ist und sich dies in den vergangenen zehn Jahren sogar verschärft hat. Das macht die Situation für Mütter und Kinder so prekär. Dieses Risiko ist aber nicht individuell verschuldet! Es gelingt der Politik trotz mehrerer Reformen immer noch nicht, Alleinerziehende passgenau zu unterstützen. Hier gibt es ein grundsätzliches Problem : Obwohl Einelternfamilien „normal“ geworden sind, gehen der Arbeitsmarkt, die Familienförderung, die Kinderbetreuung, das Steuerrecht – um nur einiges zu nennen – in ihrer Systematik immer noch von der Paarfamilie aus. Sie benachteiligen dadurch systematisch die Familienform der Alleinerziehenden. (vgl. auch Texte Lenzen)

Das Gespräch führte Inge Michels.

Literatur

  • „Wohlergehen von Kindern“, eine Studie der Ruhr-Universität Bochum im Auftrag des Bundesministeriums der Finanzen und des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend; Schölmerich, Agache, Leyendecker, Ott & Werding 4/2013
  • „Auswirkung von Alleinerziehung auf Kinder in prekärer Lage“, Holger Ziegler, Universität Bielefeld; 2011
  • „Lebenswelten und Wirklichkeiten von Alleinerziehenden“, eine Studie der Sinus Markt- und Sozialforschung im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend; 2011

Quelle

Erstveröffentlichung: Zeitschrift „Schüler. Wissen für Lehrer“ ; Themenheft „FamilienLeben“; Friedrich Verlag, 2015

Das Interview wird hier mit freundlicher Genehmigung des Friedrich Verlags übernommen.

eingestellt am 03.11.2015
 

 

Staatsinstitut für Frühpädagogik und Medienkompetenz
Logo: Staatsinstitut für Frühpädagogik und Medienkompetenz