Die Situation von Familien mit behinderten Kindern aus Elternperspektive

Christiane Müller-Zurek

Ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht für Sie: Die gute zuerst: Familien mit behinderten Angehörigen sind wesentlich normaler, als man denkt. Wir sind stolz auf unsere Söhne und Töchter mit Behinderung, und wir ermöglichen ihnen ein Leben in weitgehender Normalität. Aber der Preis, den wir dafür zahlen, ist hoch. Und damit komme ich auch schon zur schlechten Nachricht: Die sich aus der Behinderung ergebenden Belastungen sind erheblich und können nur unter günstigen Rahmenbedingungen aufgefangen werden.

Es gibt nicht die Familie mit behindertem Kind

Was für die Pluralisierung familiärer Lebensformen generell gilt, gilt auch für Familien mit behinderten Angehörigen. Das gemeinsame Schicksal, ein behindertes Kind zu haben, macht uns noch lange nicht zu einer homogenen Gruppe – im Gegenteil, Familien mit behinderten Kindern repräsentieren die gesamte Gesellschaft mit ihren Strömungen und Problemen.

Meine eigene Familie mit Vater, Mutter und drei Kindern entspricht dem tradierten Familienmodell, wenn sie auch größer ist als die deutsche Durchschnittsfamilie. Untersuchungen – vorwiegend an Familien mit Kindern mit Down-Syndrom – belegen, dass Familien mit behinderten Kindern größer sind als vergleichbare Familien. Und nach meinen Erfahrungen nicht trotz, sondern wegen pränataldiagnostischer Möglichkeiten!

Die Pluralisierung familiärer Lebensformen hat jedoch auch vor Familien mit behinderten Kindern nicht Halt gemacht: Die allein erziehende Mutter mit behindertem Kind ist inzwischen gesellschaftliche Normalität. Ich kenne den allein erziehenden Vater, die Variante der Wochenend-Familie, die Pflegefamilie, die nichteheliche Partnerschaft ebenso die Patchwork-Familie mit deinen Kindern, meinen Kindern, unseren Kindern. Auch behinderte Kinder wachsen heute in Wohngemeinschaften auf. Auf die besondere Problematik von Immigranten- und Unterschichtfamilien kann ich in diesem Zusammenhang nicht eingehen.

Die Herausforderung, ein behindertes Kind zu erziehen, stellt alle Familien vor besondere Aufgaben. Schon im klassischen Familienmodell wie bei mir ist die Organisation des Familienlebens ein hoher logistischer Abstimmungsaufwand. Wie viel schwieriger erst gestaltet sich der Alltag bei zumindest zeitweise Alleinerziehenden? Es handelt sich hier nicht nur darum, dass weitere Probleme hinzukommen, sondern dass sich diese wechselseitig verstärken. In der Regel müssen die Interessen aller beteiligten Parteien austariert werden.

Nach der Geburt eines behinderten Kindes

Alle Eltern behinderter Kinder stehen vor der Aufgabe, die Behinderung ihres Kindes zu verarbeiten – zu akzeptieren, dass ihr Kind, unser Kind, nicht unseren Wünschen und Erwartungen entspricht. Und wir müssen uns mit den Folgen der Behinderung realistisch auseinandersetzen. Hier handelt es sich in erster Linie um eine narzisstische Kränkung, denn unser Kind erlebt sich in der Regel – zumindest, wenn es noch sehr jung ist – nicht als defizitär.

In dieser Phase sind wir Eltern stark mit uns selbst beschäftigt und sehr verletzlich. Und ausgerechnet in dieser Situation sehen wir uns mit einer Fülle von Anforderungen und Personen konfrontiert: Arztbesuche, unter Umständen Krankenhausaufenthalte, behinderungsbedingte Schwierigkeiten im Umgang mit dem Kind, die Auseinandersetzung mit Frühförderung, Therapeuten, ersten Institutionen, Behörden, Krankenkasse usw. Oft schießen wir Eltern über das Ziel hinaus und versuchen, durch mehrere, gleichzeitig stattfindende Therapien die Behinderung des Kindes zumindest teilweise zu kompensieren.

Aber das Kind und wir leben in keinem Vakuum: Geschwisterkinder fordern ihr Maß an Aufmerksamkeit. Unser Partner teilt uns mit: “Ich bin auch noch da!” Da sind die Großeltern, die informiert werden wollen, die mit uns trauern, uns helfen wollen, aber mitunter nicht wissen wie. Auf unser weiteres soziales Umfeld will ich hier gar nicht eingehen.

Unschätzbare Dienste – übrigens nicht nur hier – leisten Elterngruppen. Das Gespräch mit anderen Eltern bietet sozial-emotionale Unterstützung und einen wertvollen Informationsaustausch. Deshalb sollten Elterngruppen von Staat und Gesellschaft unterstützt werden: Selbsthilfe ist nicht zum Nulltarif zu haben und sollte organisatorisch an kompetente Berater gebunden werden!

Die Vorurteile – auch im eigenen Kopf

Gibt es Unterschiede in der Diagnose einer geistigen Beeinträchtigung eines Kindes im Vergleich zu anderen Diagnosen? Ist doch jede Abweichung von der Norm für Eltern erst einmal ein Schock, egal ob es sich dabei um eine chronische Erkrankung, eine Körper- oder Sinnesbehinderung oder um eine der zahlreichen unspezifischen Diagnosen wie Lernbehinderung, Entwicklungsverzögerung, ADS oder Hyperkinetisches Syndrom handelt.

“Hauptsache, nicht geistig behindert!” Schonungslos offenbart dieser immer wieder fallende Spruch das negative gesellschaftliche Stigma der so genannten geistigen Behinderung. Selbst innerhalb der Behindertenszene finden sich Menschen mit geistiger Behinderung nur zu oft am unteren Ende einer Klassengesellschaft. Während Eltern körper- und sinnesbehinderter Kinder stolz sein können auf intellektuelle, sportliche oder künstlerische Leistungen ihrer Kinder, müssen Eltern geistig behinderter Kinder lernen umzudenken. Wir müssen unser bisheriges Wertesystem in Frage stellen und mit grundlegend veränderten Zukunftsperspektiven unserer Kinder fertig werden.

Die größte Sperre dabei sind die Ängste, Zweifel und Vorurteile im eigenen Kopf. Und das gesellschaftliche Klima, in dem die Möglichkeiten der Pränataldiagnostik, die Forschung an nicht einwilligungsfähigen Personen und die Sterbehilfe diskutiert werden, macht es schwer, ein Kind zu akzeptieren, das sich so radikal vom gesellschaftlichen Leitbild des idealen Kindes unterscheidet.

Ich weiß, dass mein Sohn kein Abitur machen wird. Er wird kein genialer Journalist im Rollstuhl werden, kein blinder, aber hochbegabter Jurist sein. Nicht einmal Klempner oder Busfahrer. – Nein, auch wenn er sich noch so anstrengt, wird er niemals – von Insidern abgesehen – andere Menschen durch seine Leistungen beeindrucken. Er ist die Herausforderung pur, Leben in seiner Vielfalt und seinem Anderssein zu akzeptieren und unsere Leistungsgesellschaft in Frage zu stellen.

Für Eltern geistig behinderter Kinder ist die Entdeckung der Langsamkeit kein Kultbuch, sondern Alltag mit all seinen mausgrauen und manchmal auch schillernden Facetten. Wir müssen Geduld jeden Tag neu erfinden, wie es die Gebärdensängerin Kerstin Rodgers kürzlich so treffend in einem Interview über ihren behinderten Sohn formulierte.

Wir Eltern reiben uns auf im Kampf, die richtige Institution zu finden – immer im guten Glauben, zu wissen, was für unser Kind das Richtige ist: Die schönste Kita, die beste Schule; die Gretchenfrage nach Sonderschule oder integrativem Unterricht, ohne hier eine Wertung auszusprechen! Dabei sind wir abhängig von den Möglichkeiten an unserem Wohnort. Nicht alle Familien können sich einen Integrationstourismus erlauben. – Welche Freizeitangebote gibt es für unsere Kinder? – Die Suche geht weiter nach einer adäquaten Ausbildung und einem Arbeitsplatz: auf dem 1. Arbeitsmarkt oder doch die Werkstatt? – Wie und wo soll unser Sohn/ unsere Tochter wohnen? – Und es bleibt die Sorge, was wird, wenn wir nicht mehr da sind!

Wieder führen wir einen Kampf mit uns selbst – ohne uns dessen so richtig bewusst zu sein. Loslassen ist eine unserer wichtigsten Aufgaben als Eltern – bei unseren behinderten wie auch bei unseren nicht behinderten Söhnen und Töchtern. Ablösung ist nichts, was vom Himmel fällt oder plötzlich erfolgen muss. Nein, Loslassen beginnt bei der Geburt, Schritt für Schritt, und wir Eltern haben viel, viel Zeit es zu lernen.

Familienbeziehungen – zur Situation der Eltern, der nicht behinderten Geschwister und der Großeltern

Unsere nicht behinderten Söhne und Töchter, hier sind sie endlich wieder. Viele Kinder mit Behinderungen wachsen heute erfreulicherweise mit Geschwistern auf, erleben dadurch von klein auf Normalität und Integration bereits in der Familie. Aus Elternsicht und Sicht der behinderten Kinder ein unschätzbarer Vorteil!

Wie erleben die Geschwisterkinder ihre besondere Familiensituation? Leider nicht so uneingeschränkt positiv, wie wir Eltern uns das manchmal schön reden möchten, aber auch nicht so negativ, wie es gängigen Klischees entspricht. Wenn wir Eltern ein paar wenige Regeln befolgen und unseren nicht behinderten Kindern genügend Aufmerksamkeit und Zeit widmen, sie nicht überfordern, haben die Geschwisterkinder gute Chancen auf eine eigenständige Entwicklung. Je selbstsicherer und unabhängiger die Geschwister sind, desto besser können sie ihren behinderten Bruder/ ihre behinderte Schwester akzeptieren und das Zusammenleben mit einem behinderten Menschen als persönliche Chance für die eigene Entwicklung nutzen. Bewährt haben sich auch eigene Angebote für Geschwisterkinder, bei denen sie sich untereinander austauschen können.

Die Situation von Müttern behinderter Kinder ist vielfach untersucht und beschrieben worden; ich brauche das hier nicht zu wiederholen. Tendenziell ist zu beobachten, dass Mütter behinderter Kinder verstärkt ihre eigenen Rechte reklamieren. Sie sind berufstätig, bzw. wenn sie zu Hause sind, ist es in der Regel eine bewusste Entscheidung. Die in früheren Müttergenerationen häufiger anzutreffende Verbitterung, das eigene Leben dem behinderten Kind geopfert zu haben, ist seltener geworden. Wir Frauen haben gelernt, mehr auf uns selbst zu achten, und wissen, dass es unseren Familien nur gut gehen kann, wenn es uns selbst gut geht.

Väter stehen nicht am Rand; richtig ist, dass sie die Behinderung anders verarbeiten als wir Frauen. In den mir bekannten Familien – zugegebenermaßen ausschließlich Mittelschichtfamilien – teilen sie die Last mit ihren Frauen im Rahmen ihrer Möglichkeiten.

Durch die vielfältigen und von Familie zu Familie sehr unterschiedlichen Belastungen, die von Art und Schwere der Behinderung abhängen, sind wir Eltern jedoch häufig in einer Art Hamsterrad gefangen. Wir versuchen, den Bedürfnissen aller unserer Kinder gerecht zu werden und im Beruf zu funktionieren. Da bleibt kaum Zeit für uns selbst, geschweige denn als Paar. Das Klischee, Ehen zerbrächen an der Behinderung des Kindes, ist falsch; vielmehr sind es die sich aus der Behinderung ergebenden Belastungen, die einen Risikofaktor für die Ehe darstellen.

In vielen Familien sind es die Großeltern, die versuchen, einen Teil dieser Belastungen aufzufangen. Dabei spielen allerdings drei Faktoren eine einschränkende Rolle:

  1. In der mobilen Gesellschaft leben die Großeltern oft weit entfernt.

  2. Moderne Großmütter sind häufig berufstätig.

  3. Die Kräfte der Großeltern lassen nach.

  4.  

Auf die Unterstützung der Großeltern können wir folglich nur begrenzt setzen. Hilfe von weiteren Verwandten, Freunden und Nachbarn wird mit der Schwere der Behinderung weniger angeboten, so dass viele Familien mit behinderten Kindern auf bezahlte Helfer und professionelle Dienste angewiesen sind. Es fällt uns Eltern heute leichter, Hilfen zu akzeptieren, wenn sie zur Verfügung stehen und bezahlbar sind. Gerade Mittelschichtfamilien sitzen da häufig zwischen allen Stühlen: “Sie sind eine so tolle Familie. Sie schaffen das auch so. Da haben wir ganz andere Familien!” Oder: “Sie haben jetzt schon so lange Unterstützung gehabt. Jetzt muss aber mal Schluss sein!” – Diese Aussagen von Ämtern lasse ich unkommentiert im Raum stehen!

Normalisierungsprinzip – und die Notwendigkeit familienentlastender Dienste

Auf die genaue Darstellung von Belastungen habe ich bewusst verzichtet, da sie individuell von Familie zu Familie variieren und von vielen Faktoren abhängen, von denen Art und Schwere der Behinderung lediglich zwei Aspekte sind. Wir Eltern legen heute Wert auf größtmögliche Normalität; dadurch werden die enormen Anpassungsleistungen im Zusammenleben mit behinderten und schwerst behinderten Menschen von Außenstehenden kaum wahrgenommen und Hilfen mitunter versagt.

Betrachten wir Familie ganzheitlich, müssen wir, um das behinderte Kind zu stützen und zu fördern, seinen Eltern ermöglichen, ihr Familienleben so zu organisieren, dass alle Beteiligten Normalität erleben können. Das heißt im Klartext: Das Normalisierungsprinzip darf nicht nur auf Menschen mit Behinderung selbst angewandt werden, sondern muss auch für seine Geschwister und Eltern gelten!

Familienentlastende bzw. Familienunterstützende Dienste müssen in die Lage versetzt werden, flexibel auf die individuellen Bedürfnisse von Familien reagieren zu können. Die Verbesserungen, die sich mit der Einführung des neuen SGB IX für uns Eltern ergeben haben, begrüßen wir sehr, aber es fehlt leider der Leistungsanspruch auf Familienunterstützung. Der Gesetzgeber möge sich bei der Novellierung des SGB IX einen Ruck geben und die Ressourcen der Familie nachhaltig stärken.

Abschließend möchte ich den Blick lenken auf Menschen mit Behinderung selbst. Sehr erschüttert haben mich Berichte von körperbehinderten, aber auch von geistig behinderten Menschen – mit denen ich in Selbstbestimmungsgremien der Lebenshilfe Berlin zusammenarbeite -, wie wenig akzeptiert sie sich von ihren Eltern fühlen. Welch katastrophale Auswirkungen das auf das Selbstbild dieser Menschen haben muss!

Jan, mein zehnjähriger Sohn mit Down-Syndrom, klaut zur Zeit Schlüssel – die der Lehrer, den Zimmerschlüssel seines älteren Bruders, unsere Haustürschlüssel. Nahezu täglich gibt es Streit und Ärger. Dahinter steht der verzweifelte Versuch von Jan, ernstgenommen zu werden, selbstständig sein zu dürfen. “Ich e groß gewachsen, Mama. Ich alleine!” Wie lange werden wir ihm wohl noch einen Haustürschlüssel verweigern können?! – Er ist ein Kämpfer! Schon vor einiger Zeit hat er gegen unsere Ängste durchgesetzt, statt mit dem Behindertenfahrdienst alleine mit dem Linienbus von der Schule zum Hort fahren zu dürfen.

Sie sehen, wir Eltern brauchen jede Unterstützung, um mit unserer besonderen Familiensituation umgehen und unsere Kinder zu selbstbewussten Menschen erziehen zu können.

Anmerkung

Dieser Beitrag ist das in wenigen Punkten geänderte Referat anlässlich der Fachtagung der vier großen Fachverbände für Menschen mit geistiger Behinderung, unter Federführung der Bundesvereinigung Lebenshilfe, vom 17.-19.10.2001 in Berlin. Siehe hierzu “Familien mit behinderten Angehörigen: Bedarfe wahrnehmen – Lösungen entwickeln”

Autorin

Christiane Müller-Zurek
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Erstellt am 18. Februar 2002, zuletzt geändert am 8. März 2010