Elternschaft bei Menschen mit Körper- und Sinnesbehinderungen
Prof. Dr. Gisela Hermes
Noch immer findet die Lebenssituation von körper- und sinnesbehinderten Eltern wenig Beachtung und dementsprechend fehlen barrierefreie Zugänge im öffentlichen Raum, notwendige Hilfsmittel und personelle Unterstützungsmöglichkeiten zur Bewältigung des Familienalltags. Durch diesen Mangel wird das Eltern-Sein für die betroffenen Mütter und Väter erheblich erschwert. Der Beitrag thematisiert die Bedarfe von Eltern mit Körper- und Sinnesbeeinträchtigungen und zeigt Lösungsmöglichkeiten auf.
“Während meiner Schwangerschaft beschäftigte ich mich vor allem mit technischen Hilfsmitteln zur Pflege des Kindes, da ich aufgrund meiner spastischen Lähmung in meinen Bewegungsmöglichkeiten eingeschränkt bin. Ich machte mir Gedanken über den Transport, Hinaus- und Hineinheben ins Bettchen usw. Ich rief ein Beratungszentrum für technische Hilfen an und fragte, ob sie dementsprechende Hilfsmittel hätten. Der Mann sagte: ‘Ja, natürlich!’ Ich war überglücklich. Eine Woche später bekam ich einige Broschüren über Hilfsmittel für das behinderte Kind” (Seipelt-Holtmann 1993, S. 20).
Dieses Beispiel einer jungen Mutter, die auf Anfrage lediglich Angebote für die Unterstützung eines behinderten Kindes und nicht, wie gewünscht, für sich selbst als behinderte Mutter erhielt, verdeutlicht zwei Dinge: Zum einen ein gesellschaftliches Vorurteil, auf das behinderte Männer und Frauen mit Kinderwunsch immer wieder treffen, nämlich dass behinderte Menschen grundsätzlich nicht dazu in der Lage sind ein Kind zu bekommen und aufzuziehen und dass es deshalb gar keine behinderten Eltern gibt, deren Bedarfe man berücksichtigen muss. Zum anderen verdeutlicht das oben genannte Beispiel aber auch den Mangel an geeigneten Hilfsmitteln für behinderte Eltern. Obwohl das Zitat aus dem Jahre 1993 stammt, hat sich die Situation behinderter Eltern bis heute nicht maßgeblich verändert. Noch immer gibt es kaum geeignete Unterstützungsmöglichkeiten und Hilfsmittel für die Versorgung des Kindes und noch immer sind behinderte Eltern nicht in der Öffentlichkeit präsent, d.h. sie werden beispielsweise bei der Planung von Angeboten nicht mitgedacht und noch immer gibt es kein Recht auf Elternassistenz.
Seit betroffene Eltern in den 1990er Jahren selbst auf ihre Situation aufmerksam machten, indem sie Bücher veröffentlichten, Tagungen durchführten und einen Bundesverband behinderter und chronisch kranker Eltern – BbE e.V. – gründeten, wird das Thema Elternschaft und Behinderung zwar in Fachkreisen diskutiert, jedoch steht hierbei eher die Situation geistig behinderter Menschen im Mittelpunkt. Dagegen finden die Belange von körperlich und sinnesbehinderten Eltern nach wie vor wenig Beachtung in der Öffentlichkeit und in der Fachwelt und es liegen dementsprechend nur wenige und auch keine neueren Untersuchungsergebnisse vor.
Der Beitrag setzt sich mit den Bedingungen auseinander, die Eltern mit Körper- oder Sinnesbeeinträchtigung benötigen, um ihre Elternschaft positiv leben zu können. Da viele Eltern mit geistiger Beeinträchtigung andere, überwiegend pädagogische Hilfen benötigen, werden sie im Folgenden eher am Rande erwähnt.
Menschen mit Behinderung haben wie alle anderen Menschen ein Recht auf Elternschaft. Dieses leitet sich unter anderem aus Art. 23 der UN-Behindertenrechtskonvention ab. Dort steht:
„(1) Die Vertragsstaaten treffen wirksame und geeignete Maßnahmen zur Beseitigung der Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen auf der Grundlage der Gleichberechtigung mit anderen in allen Fragen, die Ehe, Familie, Elternschaft und Partnerschaften betreffen, um zu gewährleisten, dass (…) b) das Recht von Menschen mit Behinderungen auf freie und verantwortungsbewusste Entscheidung über die Anzahl ihrer Kinder und die Geburtenabstände sowie auf Zugang zu altersgemäßer Information sowie Aufklärung über Fortpflanzung und Familienplanung anerkannt wird und ihnen die notwendigen Mittel zur Ausübung dieser Rechte zur Verfügung gestellt werden; (…)“
Es stellt sich heutzutage demnach nicht mehr um die Frage, ob behinderte Menschen überhaupt Eltern werden sollen, können oder dürfen[1] sondern wie und unter welchen Voraussetzungen sie ihre Elternschaft leben können.
Behinderte Menschen stoßen mit ihrem Kinderwunsch häufig auf Vorurteile und im Alltag mit Kind auf große Schwierigkeiten. Behinderung und Elternschaft sind zwei Themen, die sich aus Sicht vieler Menschen gegenseitig ausschließen. Die Vorstellung, dass Personen, die als behindert gelten und die in verschiedenen Lebensbereichen selbst auf Hilfe angewiesen sind, für ein Kind sorgen und es erziehen, erscheint vielen Mitmenschen so abwegig, dass Eltern mit Behinderung mit ihren Bedürfnissen von der Öffentlichkeit gar nicht erst wahrgenommen werden (vgl. Hermes 2004).
Die Realität zeigt jedoch, dass die gesellschaftliche Vorstellung vom partner- und kinderlosen Behinderten nicht stimmt. Denn Menschen mit Behinderung werden ebenso Mütter und Väter wie nichtbehinderte Menschen, wenn auch nicht so häufig. Laut Teilhabebericht der Bundesregierung lassen sich zwar
„in Bezug auf die Familiengründung (…) deutliche Unterschiede zwischen Frauen mit und ohne Beeinträchtigungen feststellen. Nahezu drei von vier Frauen mit Beeinträchtigungen im Alter von 25 bis 59 Jahren sind kinderlos“ (BMAS 2014, S. 72),
aber die Zahlen belegen eben auch, dass jede vierte behinderte Frau ein oder mehrere Kinder hat. Bei behinderten Männern liegen die Zahlen etwas höher. Elternschaft bei Menschen mit ganz unterschiedlichen Beeinträchtigungen ist demnach keine Seltenheit mehr ist. Vor allem behinderte Menschen, die außerhalb einer Sondereinrichtung wohnen, haben heute eher die Möglichkeit, Sexualität und verschiedene Formen der Beziehung, einschließlich der Elternschaft, zu leben.
Betrachtet man die Situation behinderter Menschen, die in Heimen leben, zeigt sich dagegen ein anderes Bild. Die Heimstrukturen, wie Unterbringung in Mehrbettzimmern, geschlechtshomogene Gruppen, fehlende private Rückzugsmöglichkeiten und die oft negative Haltung vieler Einrichtungsträger gegenüber Elternschaft, erschweren Sexualität und Partnerschaft sowie ein Zusammenleben als Familie (vgl. Hermes 2004). Das bedeutet aber nicht, dass Menschen, die in Heimen leben, keine Kinder bekommen. Bei einer Befragung bundesdeutscher Behinderteneinrichtungen nach der Anzahl der ihnen bekannten Elternschaften von Menschen mit geistiger Behinderung, stießen Pixa-Kettner u.a. auf überraschende Erkenntnisse: Die 670 Träger, die sich rückmeldeten, berichteten von ca. 1000 Elternschaften mit ca. 1.300 Kindern (vgl. Pixa-Kettner u.a. 1996, S. 230). Da Wohnheime selten auf die Versorgung von behinderten Eltern mit Kindern eingestellt sind, und bundesweit nur sehr wenige Dienste und Einrichtungen spezielle Wohn- und Betreuungsangebote für Eltern mit geistiger Behinderung anbieten bleiben den betroffenen Eltern kaum Chancen, gemeinsam mit ihrem Kind zu leben – noch immer wird der überwiegende Teil dieser Familien getrennt, die Mütter mit ihren Kindern in speziellen Einrichtungen betreut oder die Kinder werden in Pflegefamilien untergebracht (vgl. Zinsmeister 2006, S. 5).
Vorurteile gegenüber der Elternschaft bei behinderten Menschen
Obwohl insbesondere körper- und sinnesbehinderte Menschen im gesellschaftlichen Leben als Mütter oder Väter auftreten, existieren häufig negative gesellschaftliche Einstellungen gegenüber ihrer Elternschaft. Vor allem Frauen mit Behinderung berichten, dass sie bereits im Vorfeld und während einer Schwangerschaft, aber auch als Mütter auf eine stark ablehnende Haltung und auf Diskriminierungen stoßen. Hinter der fehlenden Akzeptanz behinderter Mütter verbergen sich verschiedene Vorurteile und Fehlannahmen:
- Frauen mit Behinderung bringen behinderte Kinder zur Welt
- Behinderte Menschen können keine Verantwortung übernehmen
- Behinderte Eltern vernachlässigen oder missbrauchen ihre Kinder
- Kinder leiden unter der Behinderung der Eltern
- Behinderte Eltern verursachen auf jeden Fall zusätzliche staatliche Kosten
Diese Vorurteile können zwar aus heutiger Sicht widerlegt werden, sie bestehen jedoch hartnäckig weiter und sind die Ursache für diskriminierendes Verhalten gegenüber den betroffenen Eltern. So haben behinderte Menschen in Deutschland beispielsweise kaum die Möglichkeit, ein Kind zu adoptieren oder in Pflege zu nehmen. Ein entsprechender Antrag scheitert in der Regel an der ablehnenden Haltung der zuständigen Behörden. Dagegen steigt die Wahrscheinlichkeit der Vermittlung an, wenn Paare, in denen einer der Partner behindert ist, sich bereit erklären, ein ebenfalls behindertes Kind aufzunehmen (vgl. Hermes 2004).
Aus Angst vor negativen Konsequenzen, verzichten einige Mütter und Väter mit Behinderung auf die Beantragung dringend benötigter Hilfen zur Versorgung des Kindes. Sie befürchten, dass ihnen ihr Kind weggenommen wird, da Hilfebedürftigkeit von manchen Jugendämtern mit elterlicher Inkompetenz gleichgesetzt wird. Kerstin Blochberger schreibt hierzu:
„Diese Bedenken sind leider nicht unbegründet, vor allem wenn der behinderte Elternteil allein erziehend ist. Es kommt (…) vor, dass MitarbeiterInnen der jeweils zuständigen Jugendämter die Unterbringung des Kindes in einer Pflegefamilie oder im Heim anordnen, ohne die Möglichkeiten der Unterstützung innerhalb der Familie auszuschöpfen.“ (Blochberger 2005)
Alltagsbarrieren
Eltern mit Behinderung erleben die gleichen gesellschaftlichen Vorurteile und Ausgrenzungen wie andere behinderte Menschen auch. Sie stoßen im Alltag auf Barrieren wie fehlende Rampen und Aufzüge, fehlende Informationen in Blindenschrift oder auch fehlende Gebärdensprachdolmetscher.
Als Eltern treffen sie auf die gleichen strukturellen Schwierigkeiten, wie mangelnde Kinderbetreuungsmöglichkeiten, fehlende Teilzeitarbeitsplätze etc., von denen Familien in Deutschland generell betroffen sind. Diese Potenzierung belastender Faktoren erschwert behinderten Eltern den Alltag mit ihren Kindern in besonderem Maße. Zusätzlich zu den üblichen Alltagsbarrieren stoßen sie auch in allen Bereichen der Kinderversorgung und -betreuung auf eine große Bandbreite an Hemmnissen, die ihnen die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben erschweren.
Zugangsbarrieren für körperbehinderte Menschen
Der Zugang zu öffentlichen Gebäuden wie Behörden, Freizeitstätten, Schulen und Kindergärten etc. ist für körperbehinderte Menschen oft erschwert oder sogar unmöglich, weil zwar Stufen vorhanden sind aber Rampen oder Aufzüge fehlen. Türen sind zu eng, Behindertentoiletten, die auch für Kleinkinder behinderter Eltern wichtig sind, fehlen, und noch immer ist ein großer Teil der öffentlichen Verkehrsmittel für mobilitätsbehinderte Menschen unzugänglich. Öffentliche Familienangebote (wie Babygruppen, Mütterzentren, Schwimmbäder, Parks, Kinderspielplätze) sind für Mütter und Väter, die einen Rollstuhl nutzen, häufig gar nicht erreichbar oder nutzbar. Für mobilitätsbehinderte Eltern besteht eine der größten Einschränkung des Familienlebens im Mangel an geeigneten barrierefreien Transportmöglichkeiten für ihr Kind. Sie wissen oft nicht, wie sie das Baby oder Kleinkind, in der Wohnung und auch außerhalb, von einem Ort zum anderen tragen können. Weil sie die meist unzugänglichen öffentlichen Verkehrsmittel nicht allein benutzen können, sind sie außerdem auf ein Auto angewiesen. Doch nicht alle können selber ein Auto steuern oder sind im Besitz eines umgebauten Kraftfahrzeugs.
Die beschriebenen Barrieren können zum gesellschaftlichen Ausschluss einer ganzen Familie führen oder die Familien stark in ihren gemeinsamen Aktivitäten einschränken. Da auch Kindergärten und Schulen meistens nicht barrierefrei zugänglich sind, hängt die Wahl der Einrichtung oft davon ab, ob sie zugänglich ist, und nicht von der Entscheidung, welche Institution pädagogisch bevorzugt wird. Die Frage der Zugänglichkeit ist für behinderte Eltern enorm wichtig, denn sie bestimmt nicht nur über die Teilhabe und Nicht-Teilhabe am Leben der Gemeinschaft, über das soziale Eingebunden-Sein, sondern auch darüber, Wahlmöglichkeiten zu haben und eigene Entscheidungen treffen zu können.
Kommunikationsbarrieren für blinde und gehörlose Menschen
Auch für blinde Eltern liegt die größte Schwierigkeit in der mangelnden Barrierefreiheit. Für sie stellt das Fehlen von Kommunikationsmöglichkeiten ein großes Problem dar. Weil barrierefreie taktile Informationsangebote zum Beispiel in Kindergärten und Schulen fehlen (so zum Beispiel Anschlagblätter oder Informationsbroschüren in Brailleschrift), sind sehbehinderte Menschen oft von wichtigen Informationen ausgeschlossen. Um ihnen eine kindgerechte Kommunikation mit ihrem Nachwuchs zu ermöglichen, sind sie außerdem auf blindengerechte Kinderbücher und Spiele angewiesen, die aber nur in sehr geringer Anzahl vorhanden sind.
Gehörlose Eltern mit hörenden Kindern sehen sich weit stärkeren Kommunikationsbarrieren gegenüber. Sie stehen vor dem Problem, kaum Zugang zur hörenden Welt ihres Kindes zu erhalten. Informationen, Wissen und Bildung sind ihnen schwer zugänglich, und sie haben größte Schwierigkeiten, sich bei pädagogischen Fragen Informationen und Unterstützung zu holen. Eine zufriedenstellende Kommunikation mit pädagogischen Fachkräften in Kindergarten, Schule und Erziehungsberatungsstellen ist wegen fehlender Unterstützung in Form von finanzierten Gebärdensprachdolmetschern bisher kaum möglich. Weil diese dringend erforderliche Unterstützungsleistung nicht gewährt wird, müssen sich die betroffenen Eltern teilweise mit völlig unzureichenden Behelfslösungen, wie den Einsatz ihrer Kinder als Dolmetscher oder dem Lesen schriftlicher Protokolle im Anschluss an Elternabende begnügen.
Hilfsmittel sowie barrierefreie Produkte zur Versorgung der Kinder
Für behinderte Eltern stellen sich viele praktische Fragen wie zum Beispiel: Wie kann ich mein Kind wickeln, wenn ich mit dem Rollstuhl nicht unter die Wickelkommode fahren kann? Oder: Wie kann ich als blinder Vater mit meinem Kind Bilderbücher anschauen? Ob behinderte Mütter und Väter ihre Kinder teilweise alleine versorgen können, hängt nicht nur von der Barrierefreiheit der gesellschaftlichen Bereiche sondern von weiteren Faktoren ab. So sind auch technische Hilfsmittel und barrierefreie Produkte zur Versorgung des Kindes sehr wichtig. Blinde Eltern benutzen beispielsweise Hilfsmittel wie sprechende Fieberthermometer, gehörlose Mütter setzen vor allem visualisierende Techniken wie zum Beispiel Babyphone, die Lichtsignale senden, ein. Körperbehinderte Eltern benötigen dagegen angepasste Kindermöbel oder Tragemöglichkeiten. Die Abhängigkeit behinderter Eltern von fremder Hilfe kann teilweise reduziert werden, wenn geeignete Hilfsmittel und (Kinder)Möbel verfügbar sind, die an ihre Bedürfnisse angepasst wurden. In diesem Bereich gibt es jedoch immer noch einen eklatanten Mangel und häufig Finanzierungsschwierigkeiten, da viele Hilfsmittel im Katalog der Krankenkassen nicht aufgeführt sind.
Elternassistenz für stark eingeschränkte Eltern
Eine Körper- oder Sinnesbehinderung beeinflusst grundsätzlich nicht die Erziehungskompetenz der Eltern. Aber sie können manchmal nicht selbst alle Handlungen so auszuführen, wie sie es für sinnvoll und erforderlich halten. Zum Ausgleich benötigen manche Eltern Unterstützung in Form von persönlicher Assistenz, die sie grundsätzlich in die Lage versetzt, ihre Elternaufgaben zu erfüllen.
Julia Zinsmeister hat diese Problematik sehr anschaulich zusammengefasst:
„Bildlich gesprochen benötigen sie Menschen, die ihnen ihre Augen, Ohren, Hände oder Füße leihen. Sei es, um für die rollstuhlfahrende Mutter die Glasscherben aufzusammeln, an denen sich ein Kleinkind zu verletzen droht, oder um einem blinden Vater die Beaufsichtigung des Kindes auf dem Spielplatz abzunehmen.“ (Zinsmeister 2006)
In Fachkreisen wird für die beschriebene Unterstützungsform der Begriff der Elternassistenz verwendet. Für körperbehinderte Mütter und Väter ist insbesondere Assistenz bei der Mobilität, Unterstützung bei der Kinderpflege und Hilfe im Haushalt wichtig. Sehbehinderte und blinde Eltern benötigen dagegen eher Assistenz bei der Beaufsichtigung von Kleinkindern, bei der Mobilität außerhalb des Hauses oder später bei der Hausaufgabenbetreuung. Ob und wie viel Assistenz eine behinderte Mutter oder ein behinderter Vater benötigt, ist sehr unterschiedlich. Dieses hängt von verschiedenen Faktoren wie der Anzahl und dem Alter der Kinder, der Art der Behinderung und Stärke der Einschränkung, den zur Verfügung stehenden Hilfsmitteln und der Wohnumgebung ab.
Bisher existiert kein expliziter Rechtsanspruch auf Elternassistenz. Auf der Webseite der Bundesbehindertenbeauftragten Verena Bentele[2] steht hierzu Folgendes:
„Das Sozialgesetzbuch IX stärkt die Rechte von Frauen mit Behinderung, es enthält allerdings keine ausdrückliche Anspruchsgrundlage zur Elternassistenz. Sofern Eltern derartige Hilfen gewährt werden, kommen einmal Leistungen nach dem SGB VIII als Leistungen für das Kind in Betracht. Ferner kann es sich aber auch um Leistungen der Eingliederungshilfe als Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft (§§ 53, 54 SGB XII in Verbindung mit § 55 SGB IX) handeln.“
Derzeitige Finanzierungsmöglichkeiten von Assistenz sind Folgende: Im Rahmen einer beruflichen oder medizinischen Rehabilitation werden Kinderbetreuungskosten und Kosten für Haushaltshilfen von den jeweiligen Kostenträgern übernommen. Behinderte Eltern, die keine Rehabilitationsmaßnahme erhalten, können Kosten für die notwendige Assistenz bei Kranken- oder Pflegekassen, Sozial- und Jugendämtern beantragen. Weil eindeutige gesetzliche Regelungen zur Elternassistenz fehlen, stoßen behinderte Menschen, die zur Ausübung der Elternschaft Hilfe benötigen, häufig auf enorme Schwierigkeiten, diesen Bedarf gegenüber Sozialleistungsträgern durchzusetzen.
Elternassistenz bringt jedoch eine Vielzahl an positiven Faktoren mit sich: So wird Müttern und Vätern mit starken körperlichen Einschränkungen eine große Unabhängigkeit von der Hilfsbereitschaft ihrer Mitmenschen ermöglicht. Sie können über Zeit, Art und Umfang der Hilfeleistung selbst bestimmen und den Alltag ihren Bedürfnissen entsprechend gestalten. Ihnen wird ermöglicht, unabhängig vom Partner auf das Kind reagieren und eigene Sichtweisen von Erziehung zu leben. Zudem wird die eigenständige Beziehung zum Kind gefördert, wenn der schwerbehinderte Elternteil mit Unterstützung eigene Aktivitäten mit dem Kind durchführen kann. Eine aktive Gestaltung der Elternschaft wird manchen Müttern und Vätern erst durch die Assistenz möglich.
Dabei besteht ein Bedarf an Elternassistenz bei körper- und sinnesbehinderten Eltern vor allem in den ersten drei Lebensjahren des Kindes und reduziert sich danach stark (vgl. Hermes 2004). Gehörlose Mütter und Väter sind allerdings darüber hinaus zur Kommunikation mit der hörenden Außenwelt immer dann auf Gebärdensprachdolmetscher angewiesen, wenn medizinische, schulische oder behördliche Angelegenheiten zu regeln sind. Nach § 17 SGB I haben gehörlose Menschen zwar seit Juli 2001 in allen Sozialleistungsbereichen Anspruch auf kostenlose Gebärdensprachdolmetschung, diese Regelung bezieht sich aber lediglich auf den Kontakt mit Ärzten und Ärztinnen sowie Ämtern und schließt Kindergarten und Schule nicht mit ein.
Gesetzliche Nachteilsausgleiche
Zum Ausgleich einer Behinderung hat der Gesetzgeber einige Unterstützungsmöglichkeiten geschaffen, wie beispielsweise den barrierefreien Umbau der Wohnung, spezielle Computerausstattungen für blinde Menschen oder Kraftfahrzeughilfen für mobilitätsbehinderte Menschen. Viele dieser gesetzlichen Nachteilsausgleiche sind jedoch an die Erwerbstätigkeit gekoppelt, das heißt Mütter und Väter mit Behinderung, die nicht im Erwerbsleben stehen, sind von diesen Leistungen ausgeschlossen. In seltenen Ausnahmefällen wurde auch ein Fahrzeug finanziert, wenn ein behinderter Mensch dieses zur Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft benötigte.
Da insbesondere die Chancen von Müttern mit Behinderung, auch mit Kind berufstätig zu sein, indem sie zum Beispiel eine (Teilzeit-)Arbeitsstelle finden, sehr gering sind, haben diese nicht nur finanziell schlechtere Ausgangsbedingungen als viele andere Familien, sondern zusätzlich den Nachteil, dass sie notwendige Alltagshilfen nicht beantragen können. Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend stellt in einer Broschüre hierzu fest:
„Wenn beispielsweise eine erwerbstätige Frau durch einen Unfall erblindet, werden die Kosten für eine entsprechende Umschulung und die notwendige Ausstattung am Arbeitsplatz übernommen. Einer Frau, die in der Familienarbeit tätig ist, werden jedoch unter denselben Umständen die Kosten für das notwendige Mobilitätstraining und die Umbauten der Wohnung in der Regel nicht finanziert.“ (BMFSFJ 2003)
Zusammenfassung und Ausblick
Trotz der eingeschränkten gesellschaftlichen Teilhabemöglichkeiten und fehlenden Unterstützungsstrukturen empfinden Eltern mit Behinderung das Leben mit einem Kind als große Bereicherung und viele Betroffene entscheiden sich für diese Lebensform. Im Alltag mit Kind stoßen sie auf vielfältige Barrieren, die sie bei der Bewältigung der Familienarbeit einschränken, sie möglicherweise an der Erfüllung ihrer Erziehungsaufgaben hindern oder sie in ungewollte Abhängigkeiten gegenüber Familienangehörigen oder Freunden zwingen. Zu einer Beeinträchtigung kommen oft Vorurteile über mangelnde Elternkompetenz und bauliche oder gesellschaftliche Barrieren hinzu. Wenn die Eltern versuchen, Hilfen zu organisieren, werden sie wegen gesetzlicher Uneindeutigkeiten oft zwischen Behörden hin- und hergeschickt, und sie warten häufig vergeblich auf Unterstützung bei der Pflege und Versorgung ihrer Kinder. Auf diese Weise werden viele Familien in Armut und in soziale Isolation gedrängt (vgl. Hermes 2004). Nicht selten wird die Trennung von Mutter bzw. Eltern und Kind veranlasst, obwohl das Kindeswohl nicht durch die Eltern sondern durch mangelnde Hilfen wie Elternassistenz oder begleitete Elternschaft gefährdet wird (vgl. Bundesverband behinderter und chronisch kranker Eltern 2011).
Nur wenige der im Alltag auftretenden Probleme hängen kausal mit der Beeinträchtigung der Eltern zusammen. Der weitaus größere Teil beruht auf Umweltbarrieren und unzureichenden Rahmenbedingungen. Wenn keine Möglichkeit zur Finanzierung von erforderlicher Assistenz oder notwendiger technischer Hilfen besteht, müssen behinderte Eltern auf diese Formen der Unterstützung möglicherweise ganz verzichten. Das Fehlen von benötigter Unterstützung kann jedoch extrem ungünstige Auswirkungen auf die körperliche und psychische Situation von Eltern mit Behinderung und somit auf die gesamte Familie haben. Es ist dringend notwendig, klare gesetzliche Regelungen für Elternassistenz zu schaffen, damit behinderte Eltern nicht länger zwischen Kinder- und Jugendhilfe auf der einen Seite und der Behindertenhilfe auf der anderen Seite hin- und hergeschoben werden und sie die Hilfen erhalten, die sie bei der Familienarbeit brauchen. Zum anderen sollte die Bewilligung von Nachteilsausgleichen nicht länger an eine Berufstätigkeit gekoppelt werden. Notwendige Hilfsmittel müssen finanziert und in die Hilfsmittelkataloge der Krankenkassen aufgenommen werden.
Behinderung und Elternschaft sind gut miteinander vereinbar, wenn die notwendigen Rahmenbedingungen und Unterstützungsmöglichkeiten vorhanden sind.
Fußnoten
[1] Unter dem Titel „Sollen, können, dürfen Behinderte heiraten?“ erschien im Jahr 1977 ein Sammelband, der im Jahr 2000 in unveränderter Form neu aufgelegt wurde (vgl. Kluge & Sparty 1977 und 2000). Unterschiedliche Autor/innen gehen in diesem Buch der Frage nach der Reproduktion bei behinderten Menschen unter besonderer Betrachtung verschiedener Behinderungsarten sowie medizinischer, ethischer und theologischer Sichtweisen nach. Die meisten Autor/innen stimmen einer Ehe behinderter Menschen, die als einzige akzeptable Form der Partnerschaft gesehen wird, nur unter der Voraussetzung zu, dass diese kinderlos bleibt. Dagegen verlangen alle Expert/innen von den behinderten Ehepartner/innen den Verzicht auf Kinder, wenn ein Risiko oder der Verdacht der Vererbung der Behinderung besteht (vgl. ebda.).
[2] Website der Bundesbehindertenbeauftragten, Stichwort Elternassistenz, verfügbar hier (Zugriff: 22.7.2015).
Quellen
- Blochberger, Kerstin (2005): Behinderte Eltern – Immer noch ein Tabu oder bereits ein Trend? Die Realität zwischen Bewunderung und Grenzüberschreitung. Verfügbar (Zugriff am 22.7.2015).
- BMAS (2014): Teilhabebericht der Bundesregierung über die Lebenslagen von Menschen mit Beeinträchtigungen. Teilhabe – Beeinträchtigung – Behinderung, Berlin
- BMFSFJ (Hrsg.) (2003): Einmischen – mitmischen. Informationsbroschüre für behinderte Mädchen und Frauen. Bonn.
- Bundesverband behinderter und chronisch kranker Eltern (BBE) e.V. (2011): Stellungnahme zum Referentenentwurf des Nationalen Aktionsplanes der Bundesregierung zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention (NAP), Hannover. Verfügbar (Zugriff am 22.7.2015).
- Hermes, Gisela (2004): Behinderung und Elternschaft leben – kein Widerspruch. Eine Studie zum Unterstützungsbedarf körper- und sinnesbehinderter Eltern in Deutschland. Neu-Ulm.
- Pixa-Kettner, Ursula; Bargfrede, Stefanie & Blanken, Ingrid:„Dann waren sie sauer auf mich, daß ich das Kind haben wolllte…“ Eine Untersuchung zur Lebenssituation geistigbehinderter Menschen mit Kindern in der BRD. Bayreuth. 1996
- Zinsmeister, Julia (2006): Staatliche Unterstützung behinderter Mütter und Väter bei der Erfüllung ihres Erziehungsauftrages. Rechtsgutachten im Auftrag des Netzwerks behinderter Frauen Berlin e.V. mit Unterstützung der Aktion Mensch. Nürnberg/Köln. Verfügbar (Zugriff am 22.7.2015).
- Bei dem Beitrag handelt es sich um eine leicht veränderte und ergänzte Version des Vortrags „Krücken, Babys und Barrieren: Elternschaft bei Menschen mit Körper- und Sinnesbehinderungen“, gehalten im Rahmen des Fachtags „… mit Kind? Zukunftsperspektiven selbstbestimmter Elternschaft bei Menschen mit Behinderungen“ am 26. Juni 2014 in Frankfurt/Main, veranstaltet von pro familia Hessen
Autorin
Prof. Dr. Gisela Hermes
HAWK – Hochschule für Angewandte Wissenschaft und Kunst Hildesheim / Holzminden / Göttingen
Fakultät Soziale Arbeit und Gesundheit
Brühl 20, 31134 Hildesheim
Erstellt am 31. März 2003, zuletzt geändert am 11. September 2015