Leben mit einem körperbehinderten Kind

Prof. Dr. Gerd Hansen

Körperbehinderungen bei Kindern entstehen für die Eltern zumeist unerwartet. So kann ein Kind von Geburt an motorisch beeinträchtigt sein (z.B. bei einer infantilen cerebralen Bewegungsstörung) oder im Laufe seiner Entwicklung durch Unfall oder Krankheit eine dauerhafte Bewegungsbeeinträchtigung erleiden. In manchen Fällen ist es möglich (etwa bei der angeborenen Querschnittlähmung spina bifida), bereits vor der Geburt durch Maßnahmen der so genannten pränatalen Diagnostik festzustellen, ob ein Kind mit einer körperlichen Schädigung auf die Welt kommen wird.

Am Anfang stehen oft Sorgen und Nöte

Allen Möglichkeiten ist gemeinsam, dass die Diagnose einer dauerhaften Bewegungsbeeinträchtigung bei Kindern das Leben der Eltern und der Familie insgesamt verändert. Zunächst bestimmen oft Ängste und Verzweiflung die Situation. Der Alltag verläuft von einem auf den anderen Tag anders; vieles muss umorganisiert und neu gelernt werden. Viele Eltern sorgen sich um die Zukunft, sowohl um die des Kindes als auch um die eigene. Manchmal geben sie sich vollkommen zu Unrecht die Schuld für die Entstehung der Schädigung. Fast täglich haben die Eltern nun mit Einrichtungen und Berufsgruppen Kontakt, die ihnen vorher nicht oder allenfalls über Medien bekannt waren.

In dieser akuten Krise können die Eltern noch nicht den Blick dafür öffnen, dass das Leben mit einem körperbehinderten Kind keineswegs mit dauerhaftem Leid, Belastung und Verzweiflung gleichzusetzen ist, sondern gleichwohl schön, harmonisch und lustig sein kann. Diese Erkenntnis kann sich meist erst später herausbilden.

Entwicklungschancen statt Defizitorientierung

Zu der negativen Sicht von Bewegungsbeeinträchtigungen hat auch die Wissenschaft über lange Jahre aktiv beigetragen. So war es bis vor einigen Jahren die Regel, Kinder mit Bewegungsbeeinträchtigungen und ihre Entwicklungsmöglichkeiten sehr negativ darzustellen. Einseitig wurde betont, was sie nicht können und in Zukunft auch nie lernen werden.

Die wissenschaftliche Sicht von Entwicklung hat sich aber gewandelt. Der alte, so genannte defizitorientierte Blickwinkel ist einer Sichtweise gewichen, der die Entwicklungschancen und -möglichkeiten betont. Bewegungsbeeinträchtigte Kinder können von diesem Perspektivenwechsel profitieren, weil ihnen nun endlich Entwicklungspotenziale zugetraut werden.

Die meisten Eltern berichten, dass ein Klima der Unterstützung und Ermutigung von Seiten des professionellen Umfelds einen wichtigen Beitrag für eine positive emotionale Beziehungsgestaltung zum Kind leistet. Eine emotional warme, wertschätzende und ermutigende Beziehung der Eltern zu ihrem Kind kann aus heutiger Sicht als eine der wichtigsten Bedingungen für eine gelingende Entwicklung gelten – neben einem anregungsreichen Lernmilieu und der Möglichkeit zur selbstbestimmten Verwaltung eigener Gestaltungsräume.

Als besonders problematisch hat sich dagegen eine Erziehungshaltung herausgestellt, die darauf abzielt, aus einem behinderten Kind ein nichtbehindertes zu machen. Wenn ein Kind durchgängig die Erfahrung macht, nicht so wie es ist respektiert und geliebt zu werden, wird es auf Dauer große Probleme entwickeln, sich selbst zu akzeptieren. Dadurch steigt die Wahrscheinlichkeit, sozial-emotionale Störungen und oft auch Lernbeeinträchtigungen zu entwickeln.

Ein Gedankenexperiment

Als nicht mehr zeitgemäß in der Förderung bewegungsbeeinträchtigter Kinder gelten aus heutiger Sicht isolierte Trainings einzelner Funktionsbereiche. Sie führen häufig nur zu zusätzlichen Belastungen und nicht selten zu gesundheitlichen Beeinträchtigungen. Früher mussten Kinder mit motorischen Beeinträchtigungen im Zuge der Bemühungen, sie “normal” zu machen, immer wieder trainieren, was sie nicht gut konnten. In meinen Lehrveranstaltungen rege ich die Studierenden zu folgendem Gedankenexperiment an, zu dem ich auch Sie gerne einladen möchte: Denken Sie an etwas, was Ihnen besonders schwer fällt. Nun stellen Sie sich vor, Sie würden regelmäßig jeden Tag – manchmal sogar mehrmals täglich – dazu angehalten, diese nicht vorhandene Fähigkeit immer und immer wieder zu üben. Einen Einfluss auf das Geschehen haben Sie nicht. Manchmal kommt es sogar vor, dass Sie am gleichen Tag – jedoch mit einer neuen Aufgabenstellung und mit einem anderen Menschen – etwas Ähnliches üben müssen. Wie fühlen Sie sich? Was denken Sie, wie Sie auf Dauer mit diesen Anforderungen umgehen werden?

Inzwischen wissen wir, dass Kinder, die auf diese Weise “gefördert” werden, auf Dauer häufig mutlos, deprimiert und passiv werden, sich im Extremfall dem Lernen sogar verschließen. Eine solche in veralteter wissenschaftlicher Tradition verhaftete Förderung kann also sogar die Entwicklung hemmen.

Viel Therapie hilft viel – ein Trugschluss

Auch andere Fördermodalitäten sind inzwischen als problematisch oder gar schädlich erkannt worden. So findet sich manchmal bei Eltern der durch Expertenaussagen gestützte Glaube, der Entwicklung des Kindes durch eine möglichst große Zahl von Therapien auf die Sprünge helfen zu können. Inzwischen wissen wir, dass ein Alltag, der ausschließlich auf die Durchführung von Therapien ausgerichtet ist, die ohnehin erschwerte Situation zusätzlich belasten kann. Therapeutische Umwelten sind oft durch ein hohes Maß an Fremdbestimmung gekennzeichnet; sie können die Eltern von ihren Kindern entfremden und derartig viel Zeit binden, dass so bedeutsame entwicklungsförderliche selbstbestimmte Aktivitäten wie gemeinschaftliche Unternehmungen, Spielen und Erkunden fast vollständig in den Hintergrund gedrängt werden.

Diese Einschätzung bedeutet keineswegs, Therapien generell in Fragen zu stellen. Sie sollen aber auf ein verträgliches, gut dosiertes Mindestmaß reduziert werden und die Beziehungsqualität zwischen Eltern und Kindern nicht antasten. Eltern sollen Eltern bleiben dürfen und nicht in therapeutische Rollen gedrängt werden, die sie und die Kinder verwirren können und oft emotional belasten.

Die Elternrolle stärken

Insbesondere in den ersten Lebensjahren brauchen Kinder ihre Eltern als pflegende, versorgende, emotional zugewandte und Sicherheit gebende Bezugspersonen und nicht als Therapeuten und Anleiter. Aktive Teilhabe am Leben und Einbettung in die soziale Gemeinschaft können aus heutiger Sicht als deutlich entwicklungsförderlicher gelten als ein oft sogar gut gemeintes Überfrachten mit “künstlichen” Rehabilitations-Umwelten. Jede Art von therapeutischer Intervention sollte auf Verträglichkeit mit dem Familienleben überprüft werden. Im Zweifelsfall geht Letzteres vor.

Dies ist nicht nur für eine gute Beziehung der Eltern untereinander und zum behinderten Kind von Bedeutung, sondern auch für das Wohlbefinden eventuell vorhandener Geschwister. Wir wissen heute aus der Geschwisterforschung, dass Geschwister von behinderten Kindern vor allem dann die Leidtragenden sein können, wenn Inhalt, Form und Ablauf des Familienlebens mehr oder weniger ausschließlich von der Beeinträchtigung des behinderten Kindes bestimmt werden.

Es war bereits darauf hingewiesen worden, dass die Beziehungsqualität zwischen Eltern und Kindern heutzutage als eine der wichtigsten förderlichen Entwicklungsbedingungen gilt. Es sind also weniger – wie viele Jahre angenommen – bestimmte Behandlungsformen und Methoden für eine erfolgreiche Entwicklungsunterstützung maßgeblich, sondern vielmehr die Art der Vermittlung über eine verlässliche, zugewandte und respektvolle Beziehungsqualität. Für Eltern körperbehinderter Kinder bedeutet dies unter anderem, sie in ihrer Rolle als Eltern zu stärken und nicht zum verlängerten Arm professioneller Fachdienste zu machen.

Selbsthilfeorganisationen helfen

Als besonders hilfreich hat sich in diesem Zusammenhang die Mitgliedschaft in Selbsthilfeverbänden und -vereinen erwiesen. Hier trifft man Menschen mit ähnlichen Sorgen und Problemen; es können neue Informationen ausgetauscht und gemeinsame Unternehmungen geplant werden. Über die empfundene Solidarität und soziale Unterstützung werden oft neue Freundschaften geschlossen.

Manche Eltern mit körperbehinderten Kindern neigen dazu, sich nach der Geburt ihres Kindes aus der sozialen Gemeinschaft zurückzuziehen. Manchmal müssen sie auch die bittere Erfahrung machen, dass ihr soziales Umfeld (Nachbarn, Freunde) mit zunehmender Distanz reagiert. Für ein glückliches Leben mit einem körperbehinderten Kind muss den Eltern eindringlich empfohlen werden, weiterhin aktiv soziale Kontakte zu suchen und sich nicht aus der Gemeinschaft zurückzuziehen. Die meisten Eltern berichten, dass der Wegfall von vermeintlichen Freunden durch neue, deutlich intensivere Freundschaften mehr als ausgeglichen worden ist. Der Anschluss an Selbsthilfegruppen kann ein wichtiger Schritt auf diesem Weg sein.

Nicht jeder Experte ist hilfreich

Eingangs war angeklungen, dass das Leben mit einem körperbehinderten Kind in aller Regel bedeutet, mit einer Vielzahl von Experten umgehen zu müssen, die man vor der Diagnose Körperbehinderung nicht kannte. Das Verhältnis von Experten und Eltern hat sich in der letzten Zeit deutlich gewandelt. Eltern gelten nicht mehr als unmündige Laien, sondern als “Experten in eigener Sache” . Das Verhältnis von Eltern zu Experten sollte also von partnerschaftlicher Kooperation geprägt sein.

Experten, die Eltern nicht in ihre Entscheidungen einbeziehen, die ihnen Druck und Angst machen, einseitig Probleme und Defizite statt Entwicklungschancen thematisieren, wenig Verständnis für die Lebenssituation der Familie aufbringen und den Eltern zu verstehen geben, dass sie im Grunde genommen wenig von ihrem Kind verstehen, arbeiten nach einem überholten Professionsverständnis. Hier ist höchste Vorsicht geboten, weil die Erziehungskompetenz der Eltern nicht ermutigt und unterstützt wird, sondern Angst und Abhängigkeit geschürt werden.

Ein positives Qualitätsmerkmal ist dagegen, wenn Experten Eltern als wissende Partner akzeptieren, wenn sie ein offenes Ohr für deren Nöte und Schwierigkeiten haben und wenn sie kompetente Entscheidungshilfen anbieten, ohne Entscheidungen vorzuschreiben oder sie mit Angst und Panikmache zu begründen.

Hilfsmittelversorgung

Manche Kinder mit körperlicher bzw. motorischer Beeinträchtigung benötigen Hilfsmittel, um sich bewegen oder kommunizieren zu können. Gerade für die Fortbewegung wurde lange Jahre der Standpunkt vertreten, eine zu frühe Versorgung mit solchen rollenden Hilfsmitteln (etwa Rollbrettern, Rollstühlen) würde die Kinder faul und träge in Bezug auf ihre Geh- und Stehmotivation machen. Diese Ansicht gilt heute als überholt.

Kinder, die früh an die Möglichkeiten rollender Fortbewegungsmittel herangeführt werden, können viel eher selbstbestimmt und selbstständig ihre Umgebung erkunden. Dies gilt als wichtiger Entwicklungsschritt für die Entwicklung der Wahrnehmung und des räumlichen Denkens. Die Kinder sollten also bereits früh erfahren, dass rollende Fortbewegung nicht minderwertig ist.

In diesem Zusammenhang soll noch einmal wiederholt werden, dass neue wissenschaftliche Befunde die Bedeutung von Möglichkeiten zur Gestaltung selbstverwalteter Freiräume für die Entwicklung eindrucksvoll belegen. Dies gilt besonders für die Intelligenzentwicklung, aber auch für andere Entwicklungsbereiche von Kindern mit körperlicher bzw. motorischer Beeinträchtigung.

Zur Frage der Förderung in integrativen Einrichtungen

Abschließend soll noch ein Punkt angesprochen werden, der im Zusammenleben mit einem körperbehinderten Kind irgendwann unweigerlich zur Sprache kommen wird: die Frage, ob das Kind eher in einer integrativen Einrichtung (integrativer Kindergarten, gemeinsamer Unterricht) gefördert werden soll oder in einer speziellen Einrichtung (Schule mit dem Förderschwerpunkt Beeinträchtigungen der körperlichen/ motorischen Entwicklung, vielerorts noch Schule für Körperbehinderte genannt).

Die wissenschaftliche Diskussion über das Für und Wider integrativer und inklusiver Förderung war über lange Zeit von Ideologien und Interessen durchsetzt. Eine wirkliche Entscheidungshilfe für betroffene Eltern konnte daraus nur schwerlich abgeleitet werden. Heute ist die Diskussion erfreulicherweise sachlicher geworden.

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass es die Überlegenheit der einen oder anderen Organisationsform so nicht gibt. Eltern sei geraten, sich bei der Frage immer direkt vor Ort in schulischen und vorschulischen Einrichtungen umzuschauen und die Förder- und Unterstützungsmöglichkeiten für ihr Kind zu klären. Ideal ist es, wenn wohnortnah integrativ arbeitende Regeleinrichtungen mit entsprechend ausgebildeten sonderpädagogischen, therapeutischen oder pflegerischen Fachkräften vorhanden sind. Auch Barrierefreiheit ist ein wichtiger Gesichtspunkt. Aber eine spezielle Einrichtung wie eine Schule für Körperbehinderte ist keineswegs zweite Wahl.

Eltern sollten sich für die Einrichtung entscheiden, in der ihr Kind die besten Förderbedingungen antrifft und zu der sie und ihr Kind Vertrauen finden können. Die Entscheidung für eine integrativ arbeitende Schule steht dann noch unter dem Vorbehalt einer schulbehördlichen Genehmigung.

Kontakt

Prof. Dr. Gerd Hansen
Universität zu Köln
Heilpädagogische Fakultät
Lehrstuhl Didaktik in schulischen und vorschulischen Rehabilitationsfeldern
Klosterstr. 79b
50931 Köln

Tel.: 0221/4705514

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Erstellt am 14. September 2004, zuletzt geändert am 2. März 2010