Mutter eines behinderten Kindes
Dr. Dieter F. Hinze
Nach wie vor trägt die Mutter die Hauptverantwortung für das behinderte Kind. Auch wenn dies seine guten Gründe hat, so sind doch grundlegende Änderungen erforderlich. Dabei ist vor allem der Vater dazu aufgefordert, seine Rolle zu erweitern und die elterliche Zusammenarbeit mit der Mutter zu stärken.
Zur Mutter eines behinderten Kindes gehört immer auch ein Vater. Mutter und Vater gehören als Eltern immer zusammen. Sie bilden eine elterliche Partnerschaft und stehen in einer wechselseitigen Beziehung zueinander. Beide bestärken sich durch ihre Gemeinsamkeit und ergänzen einander durch ihre Unterschiedlichkeit. Der eine hat, was dem anderen fehlt, und dem einen fehlt, was der andere hat.
Mutter und Vater sind zwei voneinander grundsätzlich verschiedene Personen. Sie unterscheiden sich voneinander durch ihr Geschlecht, ihre persönliche Eigenart, ihre Bedürfnisse, Gewohnheiten und Überzeugungen sowie dadurch, dass jeder von ihnen immer auch seinen eigenen Weg geht.
Auf diesem Hintergrund von Gemeinsamkeit und Unterschiedlichkeit ist es für das Verständnis der Situation der Mutter eines behinderten Kindes wichtig, den Bezug zum Vater herzustellen und seine Situation mit zu bedenken. Denn wie sich die Mutter verhält, hängt immer auch vom Verhalten des Vaters ab, der seinerseits durch das Verhalten der Mutter beeinflusst wird.
Die wichtigsten Fragen, die sich daraus ergeben, sind: Was hat die Mutter mit dem Vater gemeinsam? Was macht ihre Andersartigkeit aus? In welcher Weise unterscheidet sie sich vom Vater? Und wie trägt der Vater dazu bei, dass die Mutter mit der Behinderung ihres Kindes anders umgeht?
Was Mutter und Vater gemeinsam haben
Von der Behinderung ihres Kindes sind beide Eltern stark betroffen. Ihre besondere Lebenssituation bedeutet für beide eine große Belastung und stellt zugleich eine große Herausforderung für sie dar. Die Rolle der Eltern wird zur Sonderrolle. Ihre Lebensverhältnisse ändern sich. Und ihre Vorstellungen vom Leben bekommen eine andere Qualität.
In der fortlaufenden Auseinandersetzung mit der Behinderung unternehmen die Eltern verschiedenste Bewältigungsversuche und machen dabei wichtige und widersprüchliche, gute und schlechte Erfahrungen.
Solange die Behinderung noch nicht fest steht, belastet sie am meisten die Ungewissheit. Dabei schwanken sie zwischen Verzweiflung und Hoffnung hin und her. Die Endgültigkeit der Diagnose schockiert die Eltern. Das sichere Wissen um die Behinderung bringt aber auch eine gewisse Entlastung mit sich. Mutter wie Vater stellen sich ihrer Situation und setzen sich aktiv für die Förderung ihres Kindes ein. Genauso mobilisieren sie aber auch Abwehrkräfte, bagatellisieren die Behinderung und beschwichtigen ihre schwierige Lage. Sie bejahen die Tatsache der Behinderung und halten dennoch an ihrer Hoffnung auf eine Normalisierung ihres Kindes fest. Sie lernen, sich mit der Behinderung abzufinden, bezweifeln aber, mit dieser Tatsache wirklich fertig werden zu können. Sie schaffen es, gut mit ihrem Kind zusammen zu leben und für ihre eigene Zufriedenheit zu sorgen. Dennoch erleben sie immer wieder Phasen von Niedergeschlagenheit, Zukunftsangst und Sinnlosigkeit.
Bei alledem wird deutlich: Die Auseinandersetzung mit der Behinderung ist ein langer, wechselvoller und tief greifender Prozess. Die Eltern scheitern und sie wachsen in ihre Situation hinein. Sie erleben Rückschläge und sie wachsen über ihre Situation hinaus. Sie fühlen sich belastet und sie entwickeln viel Kraft. Sie wissen nicht, was sie tun sollen, und sie verändern sich und entwickeln sich weiter.
Was an der Mutter anders ist
Intensiv erleben
Auch wenn der Vater heutzutage sichtbarer und aktiver in Erscheinung tritt, trägt nach wie vor in aller Regel die Mutter die elterliche Hauptverantwortung. Biologische ebenso wie gesellschaftliche bzw. kulturelle Faktoren spielen dabei eine wesentliche Rolle. Auf diesem Hintergrund verstehen sich der häufig besonders tiefgehende Schmerz, die maßlose Enttäuschung und die starke innere Abwehr der Mutter in Anbetracht der Behinderung ihres Kindes: “Während die Diagnose für meinen Mann von Anfang an ein klarer Sachstand war, habe ich lange Zeit nicht daran geglaubt. Ich habe mich immer weiter damit beschäftigt, wie ich S. weiterbringen kann.”
Es mag mit ihrer Eigenart als Frau zusammen hängen, dass die Mutter ihre seelischen und sozialen Belastungen im Allgemeinen mehr kundtut als der Vater. Dabei kann auch die Wechselseitigkeit der Beziehung zwischen beiden wirksam werden: “Ich war oft sehr aufgewühlt und habe geweint. Mein Mann hat sich immer viel ruhiger gegeben” (Mutter). “Meine Frau war manchmal ganz schön daneben, und ich habe sie dann immer wieder ins Gleichgewicht gezogen, weil ich mehr über der Sache stand” (Vater).
Sicherlich trägt die besondere biologische Beziehung zwischen ihnen dazu bei, dass Mutter und Kind in besonderer Weise miteinander verbunden sind: “Als Mutter habe ich doch eine ganz andere Beziehung zu meinem behinderten Kind, nachdem ich es neun Monate in mir getragen habe. Als Mutter ist man die Nächstbetroffene und fühlt sich doch am meisten angesprochen.”
Dies und die damit verbundene Rollenteilung führen dazu, dass sich die Erwartungen an eine gute Eltern-Kind-Beziehung und an Fortschritte beim Kind vor allem an die Mutter richten: “Der Arzt hat gesagt, dass es auch sehr von mir abhängt, wie M. sich weiter entwickelt. Da habe ich mir natürlich gesagt, dass ich mich jetzt ständig mit ihr beschäftigen muss. Ich dachte, wenn sie in der Entwicklung zurückfällt, dann ist das meine Schuld.”
Immer aktiv sein
Mütter sehen sich durch die Behinderung ihres Kindes besonders stark herausgefordert. Sie entwickeln ein großes Problembewusstsein und viel praktische Aktivität. Sowohl innerhalb wie außerhalb der Familie sind sie in der Regel weit mehr mit dem Kind beschäftigt als Väter. Zumeist sind es die Mütter, die die Untersuchungs- und Therapietermine wahrnehmen und in Absprache mit den Fachkräften die häusliche Förderung ihres Kindes übernehmen.
Die ständige Beschäftigung mit dem Kind kann positive wie negative Folgen haben. Einerseits haben Mütter dadurch bessere Voraussetzungen, um sich mit der Behinderung vertraut zu machen, und es fällt ihnen folglich auch leichter, den erforderlichen besonderen Umgang mit ihrem Kind zu erlernen. Andererseits sind sie in Gefahr, sich zu überfordern. Dies führt dann oftmals dazu, dass sie sich über die mangelnde Mitarbeit ihres Mannes beklagen und Anerkennung und Würdigung durch ihn schmerzlich vermissen. Darüber hinaus kann bei der Mutter ein erzieherischer “Alleinvertretungsanspruch” entstehen, durch den der Vater in seiner Nebenrolle bestätigt und sein Zugang zum Kind erschwert wird: “Eigentlich würde ich gerne mehr tun. Aber durch meine Frau fühle ich mich ins Abseits gedrängt. Sie tut immer so viel für den Jungen. Außerdem ist sie mehr auf dem Laufenden als ich. Sie ist besser informiert und kann sich entsprechend mehr Gedanken machen. Und dadurch ist es auch viel leichter für sie zu lernen, dass wir ein behindertes Kind haben.”
Kontakt und Unterstützung suchen
Es dürfte mit ihrer geschlechtsspezifischen Eigenart, ihrer emotionalen Ansprechbarkeit und mit der tagtäglichen Konfrontation mit ihrem behinderten Kind zusammenhängen, dass Mütter häufig Gelegenheiten suchen, mit anderen über ihre Probleme und die ihres Kindes zu reden, um dadurch die nötige Unterstützung zu bekommen. Die Neigung des Vaters, die Probleme für sich zu behalten und eher zu schweigen, steht diesem Bedürfnis allerdings entgegen: “Ich würde gerne viel mit meinem Mann über die Probleme reden und über die Sorgen, die ich mir mache. Aber es gibt immer nur wenige Momente, wo er sagt: ‘Gut, reden wir darüber’.”
Die Unterschiedlichkeit kann hier allerdings auch in ausgleichender Weise wirken: “Wenn ich von der Arbeit nach Hause kam, wollte meine Frau immer eine Menge los werden. Aber das habe ich nicht zugelassen. Ich habe dann gesagt: ‘Mach’ dich nicht verrückt, du machst dir zu viele Sorgen!’ Insgeheim wusste ich natürlich, dass sie recht hatte. Aber wenn ich mich auch noch so aufgeregt hätte, wäre alles noch schlimmer geworden.”
Bejahen und annehmen
Mütter haben oft gute Möglichkeiten, die Behinderung ihres Kindes zu bejahen und innerlich zu verarbeiten. Die tagtägliche intensive Konfrontation kann die Fähigkeit und Bereitschaft fördern, die Behinderung innerlich anzunehmen. “Ich komme besser mit der Behinderung zurecht als mein Mann, weil ich viel damit konfrontiert war und bin. Es ist einfacher, mit der Behinderung fertig zu werden, wenn man gut damit vertraut ist.”
Durch ihr Bedürfnis, Gefühlsprobleme zur Sprache zu bringen und offen über die Behinderung zu reden, unterstützen sich Mütter darin, sich mit ihrer besonderen Elternrolle zu identifizieren. Auf diese Weise stärken sie auch ihre Selbstsicherheit: “Ich glaube, dass ich besser mit der Behinderung fertig geworden bin als mein Mann, weil ich mehr darüber rede. Mir macht es nichts mehr aus zu sagen, dass meine Tochter behindert ist. Im Gegenteil: das tut mir richtig gut. Mein Mann ist da viel verschlossener und will nicht auffallen.”
Ihre Fähigkeit, ihr Muttersein nach außen zu vertreten, kann in positiver Weise auch nach innen wirken. In dem Maße, in dem es der Mutter gelingt, ihr behindertes Kind so anzunehmen, wie es ist, kann sie ihr Selbstwertgefühl und ihre persönliche Zufriedenheit stärken: “Ich habe gelernt, meine Tochter so anzunehmen, wie sie ist, und fühle mich jetzt auch wohl dabei. Ich vergleiche sie nicht mehr mit anderen Kindern, sondern gehe von ihr selbst aus. Und wenn sie wieder etwas Neues gelernt hat, dann ist das sehr schön für mich!”
Abschließende Gedanken
Elternschaft mit Mutterschaft gleichzusetzen hat Tradition. Nach wie vor trägt die Mutter die Hauptverantwortung für die Kindererziehung. Für die Mutter eines behinderten Kindes gilt dies in besonderem Maße. Die weit verbreitete Auffassung, der Vater sei weniger belastet, weniger hilfsbedürftig, weniger interessiert und berufsbedingt ohnehin wenig verfügbar, trägt maßgeblich dazu bei, dass die Mutter im Mittelpunkt steht und der Vater eine Randposition einnimmt. Dieser Tatbestand hat zweifellos seine guten Gründe und fordert doch dazu auf, Änderungswünsche zu entwickeln.
Mütter mit einem behinderten Kind können lernen, ihre Situation aus dem Abstand achtsam zu betrachten und sie in einen größeren Rahmen zu stellen, in dem der Vater deutlicher sichtbar ist und seinen festen Platz hat und in dem sie sich selbst vielseitiger bewegen können. Einen solchen Schritt zu tun, verlangt viel Bereitschaft zum Umdenken und Flexibilität im täglichen Handeln auf beiden Seiten.
Mit den Risiken, die dieser Umstellungsprozess in sich birgt, sind Entwicklungsmöglichkeiten verbunden. Die Mutter hat mehr Möglichkeit, ihre ständige Beschäftigung mit dem Kind auch einmal ruhen zu lassen und sich vom Erfolgsdruck zu befreien. Der Vater hat die Möglichkeit, die Behinderung seines Kindes besser zu verstehen, seine erzieherische Kompetenz zu erhöhen und sein elterliches Selbstwertgefühl zu stärken. Mutter und Vater haben die Chance, ihre individuelle Art und Weise, mit der Behinderung ihres Kindes umzugehen, gegenseitig besser zu verstehen und sich mehr Unterstützung zu geben.
Um diese und andere Veränderungen aussichtsreich in Gang setzen zu können, sind Mutter wie Vater auf vielfältige Unterstützung angewiesen. Fachleute in der Behindertenhilfe, Angehörige und Freunde, Nachbarn und Kollegen ebenso wie andere betroffene Eltern können, jeder auf seine Art, dazu beitragen.
Literatur
Hinze, D.: Väter und Mütter behinderter Kinder. Der Prozess der Auseinandersetzung im Vergleich. Heidelberg: Universitätsverlag Heidelberg, 3. Aufl. 1999 (Die Zitate sind diesem Buch entnommen).
Autor
Dr. Dieter F. Hinze, Diplom-Psychologe, Supervisor, Psychotherapeut, ehem. langjähriger Mitarbeiter im Kinderneurologischen Zentrum Bonn, arbeitet freiberuflich im Bereich der Erwachsenenbildung und leitet u.a. Seminare und Workshops für Fachleute in der Behindertenhilfe sowie für Eltern behinderter Kinder.
Kontakt
Dr. Dieter F. Hinze
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Erstellt am 8. September 2004, zuletzt geändert am 12. Juni 2015