Vater eines behinderten Kindes
Prof. Dr. Kurt Kallenbach
Ausgangssituation und Problematik
Die Geburt eines jeden Kindes verändert ganz erheblich das Zusammenleben in einer Partnerschaft und Familie. Ist das neugeborene Kind wegen eines körperlichen oder geistigen Schadens behindert, durchleben die Eltern in der Regel eine schwere Krise. Der Anblick oder die Mitteilung der Behinderung des Kindes lösen bei beiden Elternteilen innerseelische Erschütterungen in Form eines regelrechten Schocks aus. Sie reagieren auf die unerwartete Situation mit Ohnmacht und Hilflosigkeit, verharren in einer tiefgreifenden und lang anhaltenden Traurigkeit, zeigen vermehrt Ängste, Verzweifelung und Schuldgefühle und geben auch wiederholt gegenseitige Schuldzuweisungen ab.
Durch die Behinderung sind sowohl die Mütter als auch die Väter als die wichtigsten Bezugspersonen des Kindes in ihrer gesamten Lebenssituation stark betroffen. Die in der Regel erforderliche lebenslange Betreuung des behinderten Kindes zwingt sie gleichsam in eine permanente Elternschaft – und auch in eine traditionslose, weil sie keine einschlägigen Erfahrungen im Umgang mit behinderten Kindern haben. Insgesamt ist das familiäre Gleichgewicht der Beziehungen aller Familienmitglieder gefährdet bzw. behindert ( “gefährdete” Familie, “behinderte” Väter).
Neben den Müttern, die meist die Hauptlast der Pflege und Betreuung des behinderten Kindes tragen, leisten viele Väter einen höheren Beitrag zu den Haushaltsaktivitäten und den Pflege- und Betreuungsmaßnahmen für das behinderte Kind, weil die Belastungen durch ein solches Kind zwangsläufig eine Umverteilung der Lasten erfordern.
Nachdem die Mütter aus gesellschaftlicher Sicht lange Zeit die “primäre” Bezugsperson für das Kind und die maßgebliche Repräsentantin der Elternschaft war, ist ihre bisherige Vorrangstellung bei der Analyse der psychosozialen Situation von Familien in den letzten beiden Jahrzehnten durch eine verstärkte Väterforschung relativiert und korrigiert worden. Elternforschung ist nicht mehr nur Mütterforschung. Vorbei ist auch die Zeit der “vaterlosen” Gesellschaft, in der das Thema “Väter” eher stiefväterlich behandelt wurde. Wir befinden uns heute in der Phase einer “neuen” Väterlichkeit, in der die Väter aus ihrer peripheren Rollenposition als uninformierte und oftmals übergangene erzieherische Randfiguren im Familienalltag herausgetreten sind.
Verschiedene Einflussgrößen
Über die familialen Aktivitäten von Männern und Vätern sowohl in Familien mit einem nichtbehinderten als auch mit einem behinderten Kind wissen wir inzwischen eine ganze Menge. Zum Väterverhalten in Familien mit einem behinderten Kind sollen nachfolgend ganz konkret möglichst viele Einflussgrößen kurz angeschnitten und erörtert werden. Wegen ihrer Vielzahl und ihres komplexen Bedingungsgefüges wurde zur leichteren Erfassung eine minimale Strukturierung bzw. Durchgliederung vorgenommen.
Beruf und Familie
Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf stellt für viele betroffene Väter ein gewichtiges Problem dar. Sie wissen, dass ihrer Mitarbeit und ihrem Einfluss in der Familie durch ihre berufsbedingte tägliche Abwesenheit von zu Hause deutliche Grenzen gesetzt sind. Wegen ihrer Berufstätigkeit können die Väter ihre Ehefrauen meistens nur am Wochenende und nach Feierabend bei der Betreuung und Fürsorge des behinderten Kindes entlasten. Bedingt durch arbeitsrechtliche Zwänge haben sie auch Probleme, sich in der Frühförderung oder in der Eltern- und Familienarbeit im Rahmen verschiedener Rehabilitationsmaßnahmen regelmäßig zu engagieren.
Da in Familien mit einem behinderten Kind die Rollenaufteilung häufig in alte traditionelle Strukturen zurückfällt, ist der Vater allein und langfristig für die Sicherung der wirtschaftlichen Grundlagen der Familie verantwortlich. Er übernimmt sozusagen das “Außenministerium” , während seine Ehefrau zu Hause vermehrt im “Innenministerium” arbeitet. Dazu sagte einmal ein Vater im Gespräch: “Ich schleppe nur das Futter in die Höhle, aber dort selbst habe ich nichts zu sagen. Meine Frau ist zum Muttertier geworden; als Mann bin ich da draußen” (in Zeitschrift “zusammen” 1994, 14, Heft 8, S. 8).
Familiale Aktivitäten
Der Umstand, ein behindertes Kind zu haben, führt bei vielen Männern aber auch zu einem veränderten Rollenverhalten. Sie lassen sich zur Entlastung ihrer Ehefrauen stärker in familiale Verpflichtungen einbeziehen und beteiligen sich an der Pflege und Betreuung des behinderten Kindes. Sie helfen z.B. morgens beim Aufstehen und abends beim Füttern, Ausziehen und zu Bett bringen. Sie packen bei älteren Kindern vor allem auch dann mit an, wenn diese gehoben und getragen werden müssen. Unangenehme Tätigkeiten, wie Windeln wechseln und Hilfen beim Toilettengang, überlassen die Väter aber meistens ihren Ehefrauen. Auch bei den Arbeiten im Haushalt beteiligen sie sich eher selektiv und neigen dazu, “sich die Rosinen aus der Alltagsarbeit herauszupicken” . Zu den häufigsten Betätigungen im Haushalt gehören Einkaufen, Reparaturen im Haus, Müll entfernen, Staub saugen, Aufräumen, Abwaschen und Abtrocknen.
Trotz der Beteiligung der Väter an den Pflege- und Betreuungsaktivitäten sind manche Mütter noch unzufrieden, neigen zu Verweigerungshaltungen und richten weitere Erwartungen und Forderungen an ihre Ehepartner, die sie durch ihre Abend- und Wochenendbetreuung eher als “Teilzeitväter” ansehen. Viele Väter wollen aber auch einmal abschalten und sich am Wochenende ausruhen. Die Mütter dagegen erleben sich eigentlich permanent “im Dienst” , können kaum einmal entspannen und keine Verantwortung abgeben. Sie bleiben sehr stark auf das behinderte Kind fixiert (Dreyer 1990).
Außerfamiliäre Kontakte
Erstaunlich ist, dass die Väter neben ihren innerfamiliären und beruflichen Verpflichtungen noch Zeit für außerfamiliäre Kontakte finden, und zwar in einem Maße, wie wir das bisher nicht vermutet hatten. Nach neueren Untersuchungsergebnissen aus Befragungen von Vätern behinderter Kinder (Kallenbach 1999b), leben die betroffenen Familien lange nicht so isoliert und zurückgezogen, wie das immer wieder von den Müttern dargestellt wurde. So haben die befragten Väter beispielsweise – verglichen mit denen von nichtbehinderten Kindern – fast doppelt so viele Kontakte zu einem insgesamt großen Verwandten-, Bekannten- und Freundeskreis. Sie kennen und benennen ebenfalls sehr viel mehr Leute, mit denen sie auch einmal ganz persönliche Dinge besprechen, mit denen sie die an sich knappe Freizeit verbringen oder zu denen sie engere gefühlsmäßige Beziehungen pflegen.
Durch ihre außerfamiliären Kontakte und ihre tägliche berufsbedingte räumliche und innerliche Abwesenheit von der Familie und dem behinderten Kind schätzen die Väter ihre persönliche Belastung vielfach günstiger ein und stellen ihre Gesamtsituation sehr viel positiver dar als ihre Ehefrauen. Sie suchen zwar nach wie vor immer wieder das persönliche Gespräch mit ihnen – soweit neben dem erhöhten Pflegeaufwand und den übrigen Haushaltstätigkeiten Zeit bleibt -; ihre Gesprächsanteile zu Freunden und Bekannten, in denen dann nicht nur immer familiäre Problemfelder thematisiert werden, sind jedoch deutlich höher.
Solche Gespräche haben ebenso wie die außerhäuslichen Freizeitkontakte der betroffenen Familienväter offenbar einen hohen Stellenwert zur Selbstfindung und Selbstverwirklichung und können auch die insgesamt positive Einschätzung ihrer persönlichen Zufriedenheit mit ihrem Leben insgesamt erklären.
Vater-Kind-Beziehungen
In nahezu allen Familien mit Kindern, ob nun behindert oder nichtbehindert, haben Männer inzwischen eine neue aktive Vaterrolle eingenommen.
Schon durch ihre häufigen Betreuungsaktivitäten hat sich die persönliche Beziehung der Väter zu ihrem behinderten Kind (und natürlich auch zu ihrer Ehefrau!) deutlich verbessert. Es befriedigt sie, etwas für ihr Kind zu tun, und hilft ihnen auch, sich einfühlsamer in sein Verhalten hineinzuversetzen. Sie erleben dadurch, wie bedeutsam sie für das Kind sind.
Zusätzlich zu ihrem Betreuungsaufwand investieren sie noch einmal sehr viel Zeit in die Spiel- und Freizeitaktivitäten mit ihrem behinderten Kind, für das sie offensichtlich zu den attraktivsten Spielpartnern gehören. In der Rolle des anregenden und interessierten Spielkameraden bauen die Väter auch eine enge emotionale Beziehung zu ihrem behinderten Kind auf. Dabei stellen vor allem Schmusen und Körperkontakt ein entscheidendes Maß für die Qualität des väterlichen Zuwendungsverhaltens dar.
Gegenüber den routinemäßigen Pflegeaufgaben fällt den Vätern die spielerische Stimulation des Kindes auch leichter. Das Spiel der Väter ist oft anregend und einfallsreich und physisch mit viel Körperkontakt verbunden. Es ist lebhaft und spaßig und ermuntert das behinderte Kind durch Faxen zum Lachen. Im Spiel kommen die Väter auch emotional ihrem Kind näher, wenn sie versuchen, es aufzuheitern, es loben anstatt schimpfen, sich mit ihm freuen, es trösten und in den Arm nehmen und zärtlich zu ihm sind.
Sowohl Väter nichtbehinderter Kinder als auch solche mit einem behinderten Kind begründen ihr kindbezogenes Freizeitengagement gleichermaßen u.a. damit, dass Kinder ihr Leben intensiver und erfüllter machen und ihnen das Gefühl geben, gebraucht zu werden. Darin sehen sie auch einen wesentlichen Faktor zur Stabilisierung der gesamten Familiensituation (Kallenbach 1997, S. 47 f.).
Belastungsverarbeitung
Die oft permanente Überforderungssituation und die tiefgreifenden seelischen Erschütterungen, denen die Familie durch das behinderte Kind ausgeliefert sind, prägen auch die individuell-persönliche Gefühlswelt des Vaters, beeinträchtigen sein Selbstverständnis, verändern seine Lebenseinstellung und werfen für ihn immer wieder neue Fragen nach dem Lebenssinn auf.
Aus Berichten von Vätern behinderter Kinder (Kallenbach 1999a) geht hervor, dass ihr Erleben von starken Gefühlen der Angst, Unsicherheit und Bedrohung bestimmt wird. Sie betrachten den Umstand der Behinderung ihres Kindes als einen “Anschlag” auf ihr “Ich” und fühlen sich in ihrer männlichen Identität bedroht. Sie zeigen anfangs Gefühle der Verzweiflung und reagieren auf die Geburt des behinderten Kindes mit Trauer, Aggression und Zorn. Viele offenbaren große innere Not und wollen alles nicht wahrhaben.
Zum Kontaktaufbau brauchen Väter stärker als Mütter Ermunterungen und konkrete Hinweise auf gezielte Aktivitäten mit ihrem behinderten Kind, um nicht in Hilflosigkeit und passive, entschuldigende und resignierende Reaktionen zu verfallen. Die Mütter sind häufig weniger depressiv, wenn sie durch den täglichen Umgang mit dem Kind seine kleinen Entwicklungsfortschritte sehen. Allerdings haben sie auch weniger Möglichkeiten der Entlastung, weil sie sehr stark auf das behinderte Kind fixiert bleiben. Die Väter dagegen erreichen durch ihren Beruf z.T. eine gewisse äußere und innere Distanz zum behinderten Kind und zur Familie, was sich stabilisierend auf ihre Psyche auswirkt und von ihnen auch als eine Möglichkeit der Behinderungsverarbeitung angesehen wird.
Bei der Verarbeitung ihrer Belastungssituation hilft ihnen oft ihre größere Sachlichkeit und Selbstbeherrschung. Nach außen hin geben sie sich gefestigt, nervenstark und stabil, weil sie ihre Gefühle nicht zulassen und nicht “losheulen” können. Dabei sind die betroffenen Väter doch gefühlvoller, als ihre Sachlichkeit vermuten lässt (Hinze 1993). Manche leiden nicht nur psychisch, sondern auch psychosomatisch (durch psychisch bedingte Erkrankungen) unter ihren erschwerten Lebensbedingungen und Problemen.
Väter können über die Behinderung ihres Kindes und ihre persönliche Betroffenheit nur schwer mit anderen reden. Die Mütter holen sich ein Teil ihrer Kraft für die Behinderungsverarbeitung in Kontakten und offenen Gesprächen mit anderen Mitbetroffenen und bestätigen, dass diese ihnen sehr geholfen haben. Väter suchen da eher eine distanzierte Bewältigungsform, indem sie sich gedanklich und alleine (auch schriftlich, wie bei Stettner 1992 und bei Kallenbach 1999a) mit ihren behinderungsrelevanten Schwierigkeiten auseinandersetzen oder sich aktiv in Selbsthilfegruppen und Behinderungsverbänden engagieren.
Die Auseinandersetzung mit der Behinderung ihres Kindes bleibt aber letztlich für alle Väter ein mehr oder weniger lebenslanger, z.T. verdrängter und vielfach unabgeschlossener Verarbeitungs- und Bewältigungsprozess.
Schlussbetrachtungen
Viele Väter und Familien müssen durch die besondere Lebenssituation mit dem behinderten Kind erhebliche Einschränkungen in ihren eigenen Lebensmöglichkeiten hinnehmen. Die durch die Behinderung des Kindes ausgelösten und hier angeschnittenen Probleme bieten den Vätern andererseits aber auch die Chance, sich bei entsprechender rationaler, vor allem aber auch emotionaler Verarbeitung der Behinderung persönlich weiterzuentwickeln.
Es muss auch nicht zwangsläufig zu einem Rückzug der Familien mit einem behinderten Kind kommen. Durch die Kontakte zu Außenstehenden können die vom Leid der Behinderung Betroffenen oft einen Großteil von dem kompensieren, das nicht direkt durch die körperlichen, geistigen oder anderen Schädigungen des Kindes, sondern indirekt durch die negativen Einstellungen der Umwelt zu behinderten Menschen bedingt ist.
Allen betroffenen Vätern zum Trost muss auch noch einmal betont werden, dass viele von ihnen, die in den ersten Jahren nach der Geburt ihres behinderten Kindes den anfänglichen Schock, die Veränderungen und schwierigen Eingewöhnungsphasen im Zusammenleben mit ihm aktiv anstatt resignativ angegangen sind, die Behinderung durch ihre individuellen Bewältigungstechniken und Verhaltensformen positiv verarbeitet haben.
Für die ehelichen Beziehungsverhältnisse und die innerfamiliäre Gesamtatmosphäre wäre es angebracht, wenn die Mütter eher zuversichtliche Betrachtungsansätze von Vätern übernehmen würden. Dies hätte positive Auswirkungen für ihr eigenes Empfinden und für die anderen Familienmitglieder.
Durch die Krise der Behinderung sind bei den Vätern ebenso wie bei allen anderen unmittelbar Betroffenen und Beteiligten mitmenschliche und psychosoziale Entwicklungen unterschiedlichster Art in Gang gesetzt worden, wodurch der Gesellschaft andere und auch gänzlich neue Lebens- und Wertmaßstäbe aufgezeigt wurden.
Vermutlich kommen Väter mit einem behinderten Kind bei dessen Annahme dem Leitbild einer innerfamiliären Partnerschaft bzw. der Realisierung einer geteilten Elternschaft schon sehr nahe, so dass sie gleichsam auch eine Vorbildwirkung in Bezug auf eine “neue Väterlichkeit” haben können. Mir persönlich ist bei der Beschäftigung mit der Thematik noch einmal klar geworden, dass gelebte Vaterschaft nach meinen Erfahrungen eine echte Bereicherung des Lebens mit ganz eigenen Lebensqualitäten und Sinngebungen mit sich bringt.
Literatur
- Dreyer, P.: Ungeliebtes Wunschkind. Frankfurt 1990
- Hinze, D.: Väter und Mütter behinderter Kinder. Heidelberg 1993
- Kallenbach, K.: Vater unser bestes Stück. In: Zeitschrift “zusammen” 1994, 14, Heft 8, S. 6-10
- Kallenbach, K.: Väter schwerstbehinderter Kinder. Münster 1997
- Kallenbach, K.: Väter behinderter Kinder. Eindrücke aus dem Alltag. Düsseldorf 1999a (verlag selbstbestimmtes leben)
- Kallenbach, K.: Unterstützende soziale Netzwerke in Familien mit einem behinderten Kind. In: Zeitschrift Heilpädagogische Forschung 1999b, 25, S. 61-74
Autor
Prof. Dr. Kurt Kallenbach, Pädagoge und Diplom-Psychologe, ist emer. Professor für Körperbehindertenpädagogik, Universität Hamburg.
Erstellt am 17. Januar 2002, zuletzt geändert am 17. Januar 2002