Kein Kontakt zum anderen Elternteil – Konsequenzen für Kinder

Prof. Dr. Bruno Hildenbrand
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Kinder gedeihen besonders dann am besten, wenn sie gemeinsam mit beiden Eltern aufwachsen. In Fällen bei denen Eltern sich trennen, nützt es den Kindern, wenn das Elternpaar zwar kein Einheit mehr bildet, die Eltern sich aber als Eltern weiterhin gemeinsam für das Kind verantwortlich fühlen. Aber auch dann, wenn ein Elternteil durch Tod oder anhaltenden Konflikt nicht mehr in die Erziehung eingreifen kann, ist dem Kind am besten gedient wenn das abwesende Elternteil nicht ausgegrenzt, sondern in angemessener Form in den Erinnerungen bewahrt oder im Gespräch erwähnt wird. Die internationale Charta für die Rechte des Kindes sowie Neuerungen im deutschen Sorgerecht stützen diese Auffassung.

Abwesenheit eines Elternteils ist nicht mehr nur Abwesenheit des Vaters

In der Odyssee – jener großen Erzählung, die im 8. Jahrhundert vor Christus durch Homer dichterisch gestaltet wurde – gilt eine lange Passage der Suche des Telemach nach seinem Vater. Seither ist die Telemachie, die Suche nach dem Vater, Bestandteil der Mythen der europäischen Zivilisation. Nicht der Mutter, nicht dem Bruder, dem Onkel oder der Großmutter gilt die Suche, sondern dem Vater. Er scheint die fragwürdige Person zu sein. Demgegenüber gilt die Anwesenheit der Mutter als fraglos gegeben, und die Abwesenheit der anderen Verwandtschaft wird als vergleichsweise unbedeutend angesehen.

Heute wachsen die „Vaterfamilien“ stärker als die „Mutterfamilien“. Allein erziehende Väter (=Vaterfamilien) stellen aktuell eine bedeutende Größe dar, und diese Zahl wird noch wachsen, wenn die neuen Regelungen des Sorgerechts (dazu unten mehr) gegriffen haben werden: Zwischen 1961 und 1997 ist die Zahl der Vaterfamilien um das dreieinhalbfache gestiegen, während die Zahl der allein erziehenden Mütter lediglich um das 1,4fache zugenommen hat. (Matzner 1999, Seite 189). Kurz: Das alte Bild von den sich entziehenden Vätern stimmt – zumindest als Klischee – nicht mehr.

Für die gewachsene Erziehungsbeteiligung von Vätern spricht auch, dass die Väterbeteiligung am Elterngeld im Jahr 2011 mit 27,3 % einen neuen Höchststand erreicht hat, wie das Bundesamt für Statistik im Juli 2013 mitteilt. Zurzeit wachsen rund 20 % der minderjährigen Kinder bei einem alleinerziehenden Elternteil auf (27 % in Ostdeutschland, 17 % in Westdeutschland).

Nun heißt “bei der Mutter oder beim Vater leben” nicht automatisch, keinen Kontakt zum Vater zu haben (und umgekehrt). Im günstigen Falle bleiben die getrennt lebenden Eltern weiterhin gemeinsam verantwortlich für ihre gemeinsamen leiblichen Kinder. Im ungünstigen, aber häufigen Fall bricht der Kontakt zum leiblichen Vater oder zur Mutter ab; Mutter bzw. Vater erziehen ihr Kind bzw. ihre Kinder alleine oder konfrontiert sie mit einem Lebenspartner oder einer Lebenspartnerin, der bzw. die an die Stelle des leiblichen Vaters treten soll.

Nicht selten gibt es das Phänomen, das mit „maternal gate keeping“ bezeichnet wird. Damit soll eine Situation beschrieben werden, derzufolge eine Mutter ihrem Kind den Zugang zum Vater verwehrt, wodurch aufgrund der Bedeutung des Vaters für das Aufwachsen von Kindern je nach Umständen das Kindeswohl gefährdet sein kann. (Von einem „paternal gate keeping“ ist nichts bekannt, es wird empirisch aber schon vorhanden sein.) Hierzu ein Beispiel: Eine allein erziehende Mutter, die mit einem verheirateten Vater ein Kind hat, schreibt: „Meine kleine Tochter wächst frei und unbeschwert auf, ich fürchte, dass der Kontakt zu ihrem Vater und Umfeld für sie zu einer Belastung werden würde.“ (Persönliche Mitteilung).

Das Problem, das mit diesem Fall verbunden sein kann, aber nicht muss, weil nicht jede ungünstige Situation zu einem Drama führen muss, wie die Resilienzforschung zeigt, vgl. Welter-Enderlin und Hildenbrand 2006, besteht darin, dass diese Mutter ihre Tochter vom „Dritten“, der für die Identitätsbildung bedeutend ist, fernhält. Entgegen früheren Auffassungen, denen zufolge allein erziehende Mütter als defizitär betrachtet werden, weil halt „der Mann fehlt“ (Nave-Herz 2003), spielt hier das Geschlecht gar keine Rolle. Auch bei alleine erziehenden Vätern fehlt die dritte Person. Jedoch ist die Forschung über den abwesenden Vater erheblich umfangreicher als jene über die abwesende Mutter. Hier muss man sich mit so genannter schöngeistiger Literatur weiterhelfen. Jüngst sind zwei bedeutende Bücher erschienen: Hanns-Josef Ortheil, Die Erfindung des Lebens, 2011; Peter Wawerzinek, Rabenmutter, 2012, beides hervorragend geschriebene autobiografische Romane.

Nicht zu vergessen seien auch jene Fälle, bei denen der leibliche Vater zwar physisch anwesend ist, aber als Partner seiner Ehefrau bzw. Lebensgefährtin und als Bezugsperson für seine Kinder ausfällt. Auch hier stellt sich die Frage nach den Konsequenzen für die Kinder.

Bevor man über Abwesenheit eines Elternteils sprechen kann, muss die Frage behandelt werden, welche Bedeutung die Anwesenheit von Eltern für das Aufwachsen von Kindern in der Familie hat. Hierzu muten wir der Leserin bzw. dem Leser zunächst einige Gedankengänge aus den für dieses Thema einschlägigen Wissenschaften zu. Diese Gedankengänge illustrieren wir anschließend anhand eines Fallbeispiels. Sodann werden wir uns mit Möglichkeiten der Unterstützung von Kindern, bei denen ein Elternteil abwesend ist, auseinandersetzen.

Aufwachsen von Kindern in der Familie: Ist die Dyade oder die Triade die grundlegende Einheit der Erziehung?

Es ist eine wenig überraschende Erkenntnis, dass sich die Beschaffenheit einer Beziehung grundlegend verändert, je nachdem, ob zwei oder drei Personen beteiligt sind. Kommt eine dritte Person dazu, entstehen rasch Situationen des zwei zu eins. Was das für die Kernfamilie bedeutet, haben eindrucksvoll Elisabeth Fivaz und Antoinette Corboz an jungen Familien untersucht. Ihr Ergebnis lautet: „Im Zentrum unserer intimen Beziehungen steht die affektive Kommunikation – der intuitive emotionale und oft unbewusste Austausch mit dem Gegenüber; das primäre Dreieck aus Vater, Mutter und Kind ist die natürliche Einheit, in der solche Beziehungen gegründet werden.“ (Fivaz und Corboz 2003).

Wie die Bedeutung des jeweiligen Elternteils im Aufwachsen von Kindern eingeschätzt wird, hängt davon ab, ob man die Mutter-Kind-Beziehung (Dyade) oder die Mutter-Vater-Kind-Beziehung (Triade) als die grundlegende Einheit von Erziehung in der Familie ansieht.

Wo die Dyade zur Grundlage gemacht wird, ist die Mutter-Kind-Beziehung die vorrangige, und dem Vater kommt eine ergänzende Funktion zu. Er trägt zum Familieneinkommen bei, unterstützt die Mutter im Haushalt und in der Kindererziehung und kann sie sogar ersetzen, wenn sie ausfällt.

Angemessener erscheinen uns Ansätze, in denen dem Vater von vorne herein eine Bedeutung zugemessen wird, die über Ergänzung und Unterstützung der Mutter-Kind-Dyade hinausgeht. Erst so kann erklärt werden, warum Vaterabwesenheit in unserer Zivilisation ein zentrales Thema ist (siehe oben den Verweis auf die Odyssee). Sieht man den Vater oder die Mutter als Teil einer Triade, dann ist er bzw. sie nicht eine Zutat zum mütterlichen Erziehungsprozess, auf die gegebenenfalls verzichtet werden kann, sondern er bzw. sie ist unverzichtbar. Fällt er bzw. sie aus, kann ihr Verlust auch nicht durch umfangreiche staatliche Sozialleistungen kompensiert werden. Für die Position des Vaters selbst bedarf es einer Kompensation, damit das Kind sich möglichst unbelastet entwickeln kann. Offen ist dann, welcher Art diese Kompensation sein könnte. Wir werden darauf weiter unten eingehen.

Aus psychologischer Sicht wird die Bedeutung des Vaters beim Aufwachsen von Kindern in der Familie wie folgt beschrieben: Im lebensgeschichtlichen Ablauf sei die Mutter-Kind-Dyade schon aus biologischen Gründen primär. Die Mutter bilde während der Schwangerschaft eine Einheit mit dem Kind, sie bringt das Kind zur Welt, sie stillt es. Aufgrund dieser biologischen Gegebenheiten weise die Mutter-Kind-Dyade eine Tendenz zur Isolierung auf. Der Vater als der Dritte in der Triade setze dieser Tendenz zur Isolierung eine grundlegende Offenheit entgegen. Eine andere, klassische Formulierung der unterschiedlichen Funktionen von Mutter und Vater lautet: Während die Mutter für Bindung zuständig ist, ist der Vater der Agent für die Distanz.

Kritik erfahren heute solche Positionen deshalb, weil Bindung und Distanz einseitig Geschlechtern zugeschrieben werden – als ob Frauen zu Distanz und Männer zu Bindung unfähig wären. Das ist mit einer solchen Position auch nicht gemeint. Im weiteren Lebensverlauf ist es hilfreich für das Kind, wenn Bindung und Distanz situationsangemessen sowohl vom Vater als auch von der Mutter kommen. Aber bei der Schwangerschaft, der Geburt und unmittelbar danach ist nun einmal die Mutter biologisch näher am Kind als der Vater.

Die Bedeutung des Dritten im Erziehungsprozess in der Familie, sei das nun der Vater oder die Mutter, wird erst dann so richtig deutlich, wenn man sich vor Augen hält, welche Merkmale Familienbeziehungen in unserer Gesellschaft aufweisen – gleichgültig, ob es sich um verheiratete Paare mit Kindern oder um nichteheliche Lebensgemeinschaften handelt. Wir beginnen mit der Paarbeziehung:

  • Die Personen betrachten sich wechselseitig als nicht austauschbar.
  • Das Paar eint eine uneingeschränkte emotionale Bindung, die den Bereich der Erotik einschließt.
  • Die Beziehung ist zeitlich nicht beschränkt, sondern wird zeitlich unbegrenzt eingegangen.

Nun zur Eltern-Kind-Beziehung:

  • Auch hier sind die Personen nicht austauschbar.
  • Es gilt ebenfalls die uneingeschränkte emotionale Beziehung; jedoch ist die Erotik ausgeschlossen, es gibt das Inzest-Tabu.
  • Auch hier ist die Beziehung zeitlich nicht beschränkt. Zwar ist die Familie eine sich selbst auflösende Gruppe, indem von den Kindern erwartet wird, dass sie sich von den Eltern ablösen. Jedoch bleiben nach der Ablösung – etwa, wenn es um soziale Unterstützung geht – Eltern Eltern und Kinder Kinder.

Demnach bestehen in der Kernfamilie mindestens drei dyadische Sozialbeziehungen, in denen die Beziehungspartner einen ungeteilten Anspruch aufeinander haben und die zusammen genommen eine Triade bilden.

Vielfach wird gegen diese Bestimmung von Familie eingewandt, sie sei überholt oder gar normativ. Man sollte aber soziale Regeln nicht mit Normen verwechseln.. Das würde man schon daran erkennen, daß die Zahl der Scheidungen und der Alleinerziehenden steige. Von Nichtaustauschbarkeit der Personen und von zeitlicher Unbeschränktheit der Paarbeziehung könne keine Rede mehr sein. Schon alleine deshalb müsse man von der Mutter-Kind-Dyade ausgehen.

Wir halten diesen Einwand für unzutreffend. Denn die oben beschriebenen Merkmale von Paar- und Familienbeziehungen beschreiben einen Erwartungsrahmen, an dem Paare bzw. Eltern sich orientieren. Sie beschreiben kein tatsächliches Geschehen. Diese Merkmale haben den Stellenwert einer Landkarte, auf der man ja auch nicht fährt, sondern auf den realen Straßen, die sie abbildet. Die Landkarte dient nur der Orientierung.

Das bedeutet: Paare bzw. Eltern handeln, als ob die oben aufgeführten Strukturmerkmale uneingeschränkt gültig wären. Wo sie im Verlauf einer Paar- und Eltern-Kind-Beziehung mit der Realität nicht mehr übereinstimmen, wird dies als Scheitern erlebt.

Da nun in einer Familie gleichzeitig drei dyadische Sozialbeziehungen bestehen (Paarbeziehung, Mutter-Kind-Beziehung, Vater-Kind-Beziehung), von denen jede durch einen ungeteilten Anspruch der Personen aufeinander gekennzeichnet ist, hat dies zur Konsequenz, dass es hier notwendigerweise zu Prozessen des Einschlusses und des Ausschlusses kommen muss.

Dazu ein Beispiel: Wenn der achtjährige Sohn mit seinem Vater an einem verregneten Sonntag eine Fahrradtour im Wald unternimmt und beide nass und verdreckt nach Hause kommen, dann könnte es sein, dass die Mutter die beiden Männer als unvernünftig hinstellt und der Sohn sich stolz mit dem Vater gegen die besorgte Mutter verbündet weiß. Das wird den Sohn aber nicht daran hindern, gleich nach der mütterlichen Ansprache eine warme Dusche zu nehmen, sich an die Mutter zu kuscheln und den Vater aus dieser innigen Beziehung auszuschließen.

Es ist dieser ständige, mit Konflikten verbundene Wechsel in der Triade, der die Persönlichkeitsbildung beim Kind voranbringt. Emotionale Basis, Dauer und Verlässlichkeit bilden die Grundlage dafür, dass das Kind diese Konflikte überhaupt aushalten kann, die notwendig sind, um eine Identität auszubilden. Fehlt ein Element in dieser Triade, weil es von Anfang an nicht vorhanden oder durch Trennung oder Tod ausgefallen ist, fordert dies zu Kompensationsleistungen heraus. Eine davon – aus der Sicht der betroffenen Kinder – ist die mitunter lebenslange Suche nach dem ausgefallenen Elternteil, also meist dem Vater.

Ein Fallbeispiel

Manche Kinder wachsen mit Eltern auf, die die zuletzt erwähnten ständigen, notwendig mit Konflikten einhergehenden Wechsel in der Triade nur schwer oder gar nicht bewältigen. Dies kann gegebenenfalls zur Trennung führen. Wir halten jedoch die Annahme für irrig, dass problematisches Erziehungshandeln von Eltern oder die Abwesenheit von Elternteilen immer zu Problemen führen muss. Denn diese Annahme rückt nur die möglicherweise schädlichen Einflüsse in den Blick und lässt die Möglichkeit nicht zu, dass die Mutter, der Vater, Angehörige und andere Bezugspersonen sowie schließlich das Kind selbst Möglichkeiten finden, den Ausfall eines Elternteils zu bewältigen. Im Zweifelsfall gilt: Es wird schon gut gehen.

Andererseits erfahren wir über mögliche Schwierigkeiten, die mit der Abwesenheit eines Elternteils verbunden sein können, vor allem dann etwas, wenn wir Fälle des Scheiterns betrachten. Ein Fall des Scheiterns soll nun vorgestellt werden. Dieser Fall ist vor allem deshalb interessant, weil sich noch im Scheitern Möglichkeiten der Bewältigung zeigen.

Die Kindertherapeutin Françoise Dolto (1989, S. 22-26) hatte Daniel in Behandlung, der zunächst wegen Zwangshandlungen aufgefallen war. Er ahmte ohne Unterlass die Bewegungen einer Nähmaschine nach. Nach einem aufgrund übergroßer Ängstlichkeit gescheiterten Eintritt in den Kindergarten und einigen Monaten bei der Mutter wurde er in ein Internat für Schwererziehbare eingewiesen und zeigte dort bald “psychotische” Symptome.

Die biographische Anamnese ergab: Die ersten Lebensjahre verbrachte Daniel alleine mit seiner Mutter in einer kleinen Wohnung. Ein Vater war weder vorhanden noch bekannt. Die Mutter bestritt ihren Lebensunterhalt mit Heimarbeit an der Nähmaschine. Der einzige Außenkontakt mit einem Mann ergab sich samstags, wenn die Mutter ihre Erzeugnisse in der Fabrik ablieferte und den Lohn in Empfang nahm. Dabei wurde sie regelmäßig von Daniel begleitet.

Der Junge fiel sehr früh durch wache Intelligenz und Selbständigkeit auf, besonders in der Unterstützung der Mutter bei der Hausarbeit. Doltos Deutung seiner lebensgeschichtlichen Problematik, die ihre erfolgreich verlaufende Therapie leitete, lautet: Daniels Zwangshandlungen weisen darauf hin, dass er den Vater spielte, indem er die Nähmaschine nachahmte: “Das war seine Identifikation mit dem Objekt Nähmaschine, die für ihn die Stütze seiner männlichen symbolischen Funktionen war” (S. 25). So entsteht eine triadische Struktur. Mutter und Nähmaschine bilden ein Paar; der Sohn ist, so lange die Mutter näht, ausgeschlossen. Er betrachtet diese Dyade aus einem Abstand heraus. Ahmt Daniel die Nähmaschine nach, kommt er der Mutter so nahe, wie die Nähmaschine ihr nahe ist. Aber auch Distanz ist auf diese Weise möglich: Wenn Daniel mit der Nähmaschine identifiziert ist, steht er als Sohn der Mutter gegenüber.

Daniel kann also auf diese Weise eine Triade inszenieren. Das ist sein Resilienzpotenzial. Das einzige, allerdings nachhaltige Problem besteht darin, dass eine Nähmaschine als toter Gegenstand keinen sozialen Austausch zulässt.

Ist das Thema „Kein Kontakt zum anderen Elternteil“ aufgrund der neuen Rechtslage Geschichte?

Auf Druck der Europäischen Union wurde in Deutschland im Jahr 2013 das Sorgerecht für unverheiratete Väter geändert. Es dürfte nun unverheirateten Müttern nicht mehr so einfach fallen, diese Väter von ihrem Kind fernzuhalten. Die Internetplattform http://www.Mandat.de/Väter (abgerufen am 17.7.2013) schreibt: „Die Gesetzesreform zum Sorgerecht nichtverheirateter Väter ist am 19. Mai 2013 in Kraft getreten. Der europäische Gerichtshof für Menschenrechte hatte bereits 2009 die bisherige Sorgerechtsregelung in Deutschland, nach der unverheiratete Väter ohne die Zustimmung der Mutter kein Sorgerecht für ihre Kinder erhalten konnten, als Diskriminierung der Väter verurteilt. Die dadurch erforderlich gewordene Neuregelung des Sorgerechts bringt eine Verbesserung für Väter, ist aber noch weit von einer gleichberechtigten Lösung entfernt.“

Weil es aber erfahrungsgemäß für Eltern sehr schwierig ist, in einer konflikthaften Trennungssituation zu unterscheiden zwischen dem Elternwohl und dem Kindeswohl, also zwischen der Paarebene und der Eltern-Kind-Ebene, wird auch eine rechtliche Regelung wenig dazu beitragen, dass Eltern die Bereitschaft finden, ihre Konflikte als Paar zu Gunsten des Wohls ihres Kindes zurückzustellen. Aber immerhin bietet das neu formulierte Recht einen Rahmen, der diesen Eltern, vorausgesetzt, sie sind bereit, ihre eigenen emotionalen Ansprüche denen ihres Kindes unterzuordnen, Hinweise gibt, welches Verhalten die Gesellschaft von ihnen erwartet.

Aufgrund der Bedeutung dieses Themas werde ich mich im Weiteren darauf beschränken.

Was tun bei Abwesenheit eines Elternteils

Wir gehen davon aus, dass die grundlegende Einheit des Aufwachsens in der Familie die Triade von Mutter, Vater und Kind ist. Diese Auffassung, dass die Triade ein günstiger Kontext für das Aufwachsen von Kindern ist und der Dyade vorzuziehen sei, gilt mancherorts als konservativ bis reaktionär. Fragt man aber Kinder, dann erklären diese sich deutlich: Sie ziehen die Triade von Vater, Mutter und Kind der Dyade vor. Der Fall des Daniel hat dies eindeutig gezeigt. Unsere Untersuchungen haben ergeben, dass nicht die Abwesenheit das Problem ist, sondern die Frage, wie diese Abwesenheit gestaltet wird (Funcke und Hildenbrand 2009).

Wir gehen entsprechend davon aus, dass auch dort, wo diese Triade durch Verlust eines Elternteils (Verschwinden, Tod, Scheidung, emotionale Trennung) nicht aktiv ist, ein Kind angemessen aufwachsen kann. Wichtig ist in einem solchen Fall, dass hinsichtlich des ausgefallenen Elternteils nach Lösungen gesucht wird. Diese werden uns nun beschäftigen.

Ist es wichtig, in welchem Lebensalter des Kindes ein Elternteil ausfällt?

Je nachdem, in welchem Entwicklungsstadium des Kindes die Situation eintritt, dass das Kind keinen Kontakt zu einem Elternteil hat, stellen sich die Aufgaben der Bewältigung dieser Situation anders. Wir behandeln nun einige dieser Variationen der Reihe nach und werden uns bemühen, dort, wo es sinnvoll erscheint, das Thema des Keinen-Kontakt-Habens sowohl für die Mutter als auch für den Vater zu berücksichtigen.

  • Das Kind hat die Eltern nie als Paar erlebt. Von Bedeutung ist hier zunächst die Frage, ob der abwesende Elternteil für das Kind mit einem Gesicht verbunden werden kann oder nicht. Hat es für das Kind kein Gesicht, etwa weil die Mutter bei der Geburt verstorben ist oder weil die Mutter sich noch während der Schwangerschaft von ihrem Partner trennte, dann gilt es, dem abwesenden Elternteil ein Gesicht zu geben. Dies kann durch Erzählungen, Bilder, andere Dokumente, Kontakt mit dessen Verwandten etc. geschehen.

Auch wenn der abwesende Elternteil für das Kind ein Gesicht hat, ist dieses Vorgehen sinnvoll. Das vorhandene Gesicht gilt es dann phantasievoll auszugestalten. In beiden Fällen ist es wichtig, dass – dem Alter des Kindes gemäß – der abwesende Elternteil dem Kind in seiner personalen Vielfalt und nicht als einseitig positiv oder negativ idealisierte Person erscheinen kann. So wird vorgebeugt, dass sich das Kind in seinem späteren Leben auf die Suche nach dem verloren gegangenen Elternteil macht und diese Suche mangels realer Informationen mit Phantasien anreichern muss, die sich mehr oder weniger von der Realität entfernen und einseitigen Idealisierungen Raum geben.

  • Das Kind hat ein Elternteil vor dem dritten bis fünften Lebensjahr verloren. Dies bedeutet, dass das Kind eine der Schlüsselphasen der Persönlichkeitsbildung nicht in der Triade erlebt hat. Diese Schlüsselphase wird in der Psychoanalyse als “Ödipuskomplex” beschrieben und bezeichnet einen andauernden Interaktionsprozess zwischen Eltern und Kindern. In dessen Verlauf will das Kind die Grenze zwischen Paar- und Eltern-Kind-Beziehung überschreiten, indem es sich mit einem Elternteil gegen den anderen zu verbünden sucht. Es handelt sich hier um jenen Prozess, den wir oben als kontinuierlichen Prozess des Ein- und Ausschließens beschrieben haben. In diesem Prozess kann das Kind beginnen, Persönlichkeitsstrukturen in der Form auszubilden, dass es in der Lage ist, sich aus der Perspektive Anderer zu sehen.
  • Das Kind hat ein Elternteil nach der ödipalen Krise verloren. In diesem Fall ist das Kind in der Entwicklung seiner Persönlichkeit vorangekommen. Daher ist zu erwarten, dass es die mit der Abwesenheit eines Elternteils verbundenen Bewältigungsaufgaben leichter löst als ein Kind, das den Kontakt zu einem Elternteil während oder vor der ödipalen Krise verloren hat.
  • Das Kind verliert ein Elternteil zwischen dem Abflauen der ödipalen Krise und der beginnenden Pubertät. Das ist jene Zeit (in der Psychoanalyse Latenzzeit genannt), in der die Konflikte in der Triade abnehmen und zum Beispiel im Kontakt zwischen Kindern und ihrem Vater vertrauensvolle Beziehungen entstehen, die auf Erschließen der Welt jenseits der Familie gerichtet sind. Hier entsteht jenes Vertrauen, das das Kind und seine Eltern dabei unterstützt, die Stürme der Pubertät und der Adoleszenz zu überstehen.
  • Das Kind verliert ein Elternteil während der Pubertät. In der Pubertät lebt der Kampf in der Triade wieder auf; entsprechend gilt für diese Situation dasselbe wie für den Verlust eines Elternteils zwischen drei und fünf Jahren – mit dem Unterschied, dass während der Latenzzeit das erwähnte Vertrauen, wenn es gut ging, entwickelt werden konnte.

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass das Fehlen eines Elternteils umso leichter kompensiert werden kann, je später der Ausfall im Leben eines Kindes auftritt. Im Gegensatz zu früheren Auffassungen ist man heute jedoch der Meinung, dass das Persönlichkeitswachstum nicht auf einzelne Stufen beschränkt ist, sondern laufend stattfinden kann. Konkret heißt das: Was in früheren Phasen nicht geschafft wurde, kann später jeweils nachgeholt werden. Und weiter bedeutet das: Weil sich die Anforderungen und Bezugsgruppen ständig ändern, ist Persönlichkeitsentwicklung nicht auf die Zeit bis zur Bewältigung der Adoleszenz und zum Übertritt ins Erwachsenenalter beschränkt, sondern ist eine laufende Aufgabe.

Welche Unterstützung brauchen Kind und verbliebener Elternteil – unabhängig vom Lebensalter des Kindes, in dem der Kontaktverlust zu einem Elternteil aufgetreten ist?

Hilfreich ist, wenn die verbliebene Mutter oder der verbliebene Vater auf ein gut funktionierendes Unterstützungsnetz aus der Verwandtschaft oder aus dem Freundes- und Bekanntenkreis zurückgreifen kann. Angeblich sollen alleinerziehende Väter großes Geschick haben, Frauen zu finden, die ihnen ihre Aufgaben abnehmen, aber die Forschung bestätigt diese Unterstellung nicht (Matzner). In Verwandtschaft oder im Freundes- und Bekanntenkreis können dann Vertrauenspersonen gefunden werden, die sich in späteren kritischen Phasen des Lebenslaufs (Pubertät, Ablösung…) als hilfreich bewähren können. In christlich geprägten Familien sind das Patenonkel oder-tanten.

Ist der Vater abwesend, braucht das Kind in diesen Phasen eine verlässliche männliche Bezugsperson, die dort Grenzen ziehen kann, wo es nötig ist. Hier kann man unter Umständen auf ältere Modelle der Bewältigung der Abwesenheit eines Elternteils zurückgreifen, beispielsweise auf den Taufpaten. Dieser ist oft nicht von ungefähr ein Bruder der Mutter, denn in mutterrechtlichen Gesellschaften war die relevante Bezugsperson für das Kind nicht der leibliche Vater, sondern Mutters Bruder.

Wenn die Großeltern die maßgeblichen Unterstützer sind, dann kann dies bedeuten, dass die Ablösung der Mutter bzw. des Vaters aus der eigenen Familie rückgängig gemacht wird. Denn Mutter oder Vater kommen dann ihren eigenen Eltern gegenüber selbst wieder in eine Kind-Position und die Generationengrenzen zwischen Mutter bzw. Vater und Kind können ins Verschwimmen geraten. Dies ist zu bedenken, wenn solche Angebote verwandtschaftlicher Solidarität in Anspruch genommen werden.

Zum Verhältnis von leiblichem und “sozialem” Elternteil

Personen in der Triade lassen sich nicht einfach ersetzen. Hier kann von einem Kind nicht erwartet werden, dass es umstandslos den neuen Partner (Partnerin) der Mutter als“sozialen” Vater oder Mutter anerkennt. Ein solcher Ersatz des leiblichen Vaters oder Mutter durch einen “sozialen” Vater oder Mutter stellt eine (u. U. glückliche) Extremvariante dar. Je nach Einzelfall sind Lösungen sinnvoller, bei denen der neue Partner/die neue Partnerin sich eher auf seine/ihre Rolle als Unterstützer/in beschränkt und sich aus elterlichen Aufgaben heraushält. Dies wäre die andere Extremvariante.

Bei Lösungen zwischen den beiden genannten Extremen ist, so das Fazit, Gestaltungsvielfalt gefragt. Eine Lösung ist umso besser, je mehr sie dem leiblichen Elternteil – unabhängig davon, wie geschickt oder ungeschickt er bzw. sie sich in der Beziehung zu den Kindern anstellt – seinen oder ihren Platz belässt. Ob eine solche Lösung im Interesse des leiblichen Elternteils liegt, ist zweitrangig. Erstrangig ist das Wohl des Kindes als dem schwächeren Part in der Beziehung. Für das anwesende Elternteil kann es eine große Belastung sein, dem Wunsch des Kindes nachzugeben, dauerhaft Beziehungen zum abwesenden Elternteil aufrecht zu erhalten. Das Kind jedoch wird diesen Anspruch früher oder später stellen.

Literatur

  • Matzner, Michael, Alleinerziehende Väter. In: Heinz Walter (Hrsg.): Männer als Väter. Gießen: Psychosozial-Verlag 2002, S. 187-218.
  • Rosemarie Nave-Herz, Alleinerziehende Mütter. Neuere Forschungsergebnisse. In: dieselbe, Familie zwischen Tradition und Moderne. Oldenburg: bis 2003, S. 189-201.
  • Dorett Funcke, Bruno Hildenbrand, Unkonventionelle Familien in Beratung und Therapie. Heidelberg: Auer 2009.
  • Françoise Dolto: Alles ist Sprache. Weinheim: Quadriga 1989.
  • Elisabeth Fivaz-Depeursinge/Antoinette Corboz-Warnery: Das primäre Dreieck – Vater, Mutter und Kind aus entwicklungstheoretisch-systemischer Sicht. Heidelberg: Carl-Auer-Systeme Verlag 2001.
  • Christine Nöstlinger: Olfi Obermeier und der Ödipus. Eine Familiengeschichte. Hamburg: Verlag Friedrich Oetinger 1994.
  • Statistisches Bundesamt Deutschland: Die Familie im Spiegel der amtlichen Statistik. http://www.destat.de o. J.
  • Heinz Walter (Hrsg.): Männer als Väter. Gießen: Psychosozial-Verlag 2002.
  • Heinz Walter, Andreas Eickhorst (Hg.) Das Väter- Handbuch. Theorie, Forschung, Praxis. Gießen: Psychosozial-Verlag 2012.
  • Rosmarie Welter-Enderlin, Bruno Hildenbrand (Hg.) Resilienz – Gedeihen trotz widriger Umstände. Heidelberg: Auer 2006.

Kontakt

Prof. Dr. Bruno Hildenbrand
Friedrich-Schiller-Universität Jena
Institut für Soziologie
Carl-Zeiß-Straße 2
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Erstellt am 13. Oktober 2004, zuletzt geändert am 23. Juli 2013