Soziale Vaterschaft in Stieffamilien

Dr. Gert H. Döring

Der nachfolgende Text versucht, in einem kurzen Überblick einige Aspekte der Lebenswelt von sozialen Vätern in Stieffamilien zu umreißen. Es wird dabei auf Vorerfahrungen mit Väterlichkeit in Stieffamilien, auf die Begrifflichkeit und die Vielfalt sozialer Vaterschaft in dieser Familienform, auf die Variationsbreite der Vaterform und auf Verantwortlichkeit eingegangen. Außerdem werden einige Facetten gelebter sozialer Vaterschaft dargestellt, wird auf Konfliktstränge und problematische Anforderungsbereiche verwiesen, aber auch auf Stärken, Herausforderungen und Ressourcen von sozialen Vätern in Stieffamilien.

Väterlichkeit und soziale Vaterschaft

Soziale Vaterschaft ereignet sich in einem gesellschaftlichen Raum, der familienklimatisch bereits von Vorgängern direkt oder indirekt geprägt wurde. Zum einen hat der leibliche Vater der in der späteren Stieffamilie lebenden Kinder erzieherisches und soziales Terrain mit eigenen Werten, Vorstellungen und Verhaltensweisen unmittelbar besetzt und tut das u.U. in veränderter oder abgeschwächter Form auch weiterhin. Zum anderen werden Vorstellungen von Vaterschaft über Großväter und/oder andere Personen vermittelt.

Obgleich die Rollenunsicherheit von Stiefvätern von Fachleuten häufig hervorgehoben wird, steht die eigene Einschätzung von Väterlichkeit und das davon beeinflusste Verhalten bei Stiefvätern in unmittelbarer Beziehung zu der bereits manifesten Väterlichkeit von möglichen früheren Vorgängern als sozialen Vätern, aber auch unter dem Einfluss der Vorstellungen von Väterlichkeit seitens der Partnerin und anderer Familienangehörigen.

Als Folge dieser – zwar nur latent vorhandenen, doch Einfluss ausübenden – Interdependenz zwischen bereits wirkenden Vorstellungen von Väterlichkeit und aktuell verkörperter Väterlichkeit seitens eines sozialen Vaters in Stieffamilien, sind Veränderungen in der Rollenausübung und in dem Selbstverständnis von Vätern für das Selbstverständnis und die Rollengestaltung von Stiefvätern von Bedeutung. Der Rollenfindungsprozess von Stiefvätern und die sich entwickelnde Identität als sozialer Vater sind gleichsam an die gesellschaftlich praktizierte Form von Vaterschaft gekoppelt.

Zur Begrifflichkeit

Der Begriff der “sozialen Vaterschaft” hat sich angeboten, da er sowohl in der Literatur als auch in der Umgangssprache noch weitgehend unbelastet ist. Er kennzeichnet die faktische Elternschaft im Vergleich zur leiblichen Elternschaft präziser, als es der (belastetere) Begriff der Stief-Vaterschaft vermag. Im Folgenden werden die beiden Begriffe allerdings synonym verwendet.

Vielfalt sozialer Vaterschaft in Stieffamilien

Wie bereits erwähnt, können Männer mit sehr unterschiedlichen Voraussetzungen Stiefväter werden. Grundsätzlich unterscheiden sich soziale Väter in Stieffamilien dadurch, dass es entweder Männer sind, die noch keine eigenen leiblichen Kinder haben, oder aber Männer, die Väter sind und bereits Kinder aus einer früheren Partnerschaft haben. Diesen erheblich voneinander abweichenden Grundmustern potentieller Stiefväter wird im Folgenden andeutungsweise nachgegangen, um die tendenziell verwirrende Vielfalt und deren Komplexität zu reduzieren.

Stiefväter ohne leibliche Kinder

Für Männer, die als Stiefväter dieser Gruppe zugeordnet werden können, sind – bezogen auf mögliche Beziehungsvarianten in ihrer Vorgeschichte – die folgenden Beziehungs-Vorerfahrungen (auch als Kombinationen) der Stieffamilie vorausgegangen:

  1. unverheiratet
  2. ein- oder mehrmals verheiratet
  3. verwitwet
  4. stieffamilienerfahren

Stiefväter mit leiblichem Kind/ mit Kindern aus früherer Partnerschaft

Für Männer, die dieser Gruppe angehören, ist das Beziehungsspektrum aus ihrer Vorgeschichte noch etwas variantenreicher. Bei ihnen finden sich folgende Vorerfahrungen:

  1. unverheiratet
  2. ein- oder mehrmals verheiratet
  3. verwitwet
  4. stieffamilienerfahren
  5. ohne Sorgerecht
  6. mit Sorgerecht für nur ein Kind/ einen Teil der Kinder
  7. gemeinsames Sorgerecht mit früherer Partnerin
  8. mit Sorgerecht für alle Kinder

Diese unterschiedlichen Vorerfahrungen als Zugänge von Männern zu einer Stieffamilie finden in der Fachliteratur üblicherweise Erwähnung. Allerdings bleibt meist unberücksichtigt, dass als mögliche Vorerfahrungen für beide Gruppen zum einen prinzipiell auch eine bis mehrere dauerhaftere Beziehungen der Stieffamilie vorausgegangen sein können, die aus unterschiedlichen Gründen jedoch nicht zu einer Ehe oder einer dauerhaften Partnerschaft geführt haben. Zum anderen ist es darüber hinaus möglich, dass die Männer der ersten Gruppe vor der Stieffamilie noch gar keine dauerhaften Partnerschaften erlebt hatten.

Es wird in zahlreichen Arbeiten naheliegenderweise darauf hingewiesen, dass die Vorgeschichte für das Leben in der Stieffamilie und die Partnerschaft eine erhebliche Bedeutung hat. Wie stark jedoch und wie speziell diese unterschiedlichen Beziehungserfahrungen aus der Vorgeschichte der Männer in die spätere Stieffamilie einfließen, welche Auswirkungen sie dort haben können und wie die jeweiligen Partnerinnen damit umgehen, blieb bisher jedoch noch weitgehend offen.

Variationen sozialer Vaterschaft

Eine fundamentale Charakterisierung sozialer Vaterschaft in Stieffamilien geht von der Annahme aus, dass sich gewisse Formen väterlicher Verbindlichkeit zwischen einem neuen männlichen Partner und den leiblichen Kindern der Partnerin entwickeln, die durch Heirat institutionell noch unterstrichen werden können. Zum einen entsteht soziale Vaterschaft in der neuen Verbindung mit einem kinderlosen Junggesellen und dem Kind/ den Kindern der Frau. Zum zweiten ergibt sich soziale Vaterschaft in einer neuen Ehe oder Partnerschaft zwischen einem geschiedenen, kinderlosen Mann und den Kindern der Partnerin. Die dritte Variante sozialer Vaterschaft entsteht aus der Verbindung mit einem geschiedenen Mann, der bereits Vater eines Kindes oder von Kindern ist, jedoch selbst für diese Kinder kein Sorgerecht hat. Und schließlich gibt es noch die vierte Möglichkeit sozialer Vaterschaft, die aus der Verbindung der Frau mit einem geschiedenen, sorgeberechtigten Vater und seinem Verhältnis zu ihrem Kind/ ihren Kindern resultiert.

Dieses kurz skizzierte Grundspektrum der vier Variationen sozialer Vaterschaft umfasst zwar die – in neuerer Zeit durch nach wie vor steigende Scheidungszahlen – häufigsten Formen sozialer Vaterschaft, doch muss das Spektrum nachfolgend noch ergänzt werden. So erhöht sich im Gefolge von Verwitwung seitens der Frau – aber auch seitens des Mannes – die Zahl der Kombinationen möglicher Stiefvatertypisierungen. Außerdem ergeben sich weitere Vaterschaftsvarianten, sobald Kinder der Partnerin, die vormals als Stiefkinder bzw. soziale Kinder in die Ehe oder Partnerschaft kamen, später von ihren sozialen Vätern/ Stiefvätern adoptiert werden.

Anhand der Fülle möglicher Formen sozialer und/oder leiblicher Vaterschaft in Stieffamilien wird zumindest eine Tatsache deutlich: “Den” Stiefvater bzw. “den” sozialen Vater – in Stieffamilien – gibt es gar nicht. Vielmehr findet sich stattdessen ein ganzes Spektrum von Vaterschaftsformen, die auf jeweils voneinander abweichenden Beziehungsgrundlagen aufbauen und unterschiedliche Formen von Beziehungsintensität und -intimität beinhalten.

Verantwortlichkeit

Ein Stiefvater/ sozialer Vater ist in der Regel kein Ersatz-Vater, sondern allenfalls ein Zusatz- “Vater”, der zusätzliche menschliche und männliche Qualitäten anzubieten hat. Allerdings vollzieht sich das konkrete “Herum-Vatern” oder “Fremd-Vatern” mit anderer Väter Kindern in einem eher brüchigen sozialen Rahmen. Das liegt vor allem an dem Umstand, dass das stiefväterliche Tun seitens des sozialen Umfeldes mit nur geringer Aufmerksamkeit und noch geringerer Anerkennung bedacht wird – von den Schwierigkeiten bei Ämterkontakten oder bei Lehrerkontakten in der Schule der Stiefkinder, bei der die Frage nach der legitimen (nicht legalen), “elterlichen” Zuständigkeit in Frage gestellt werden kann, ganz zu schweigen.

Folgerichtig wird die Versorgung der Stiefkinder vom Stiefvater nicht erwartet oder ihm gar abverlangt. Außerdem werden Versäumnisse bei der Erziehung der Stiefkinder einem Stiefvater seitens des sozialen Umfeldes eher zugestanden und milder beurteilt, als dies dem leiblichen Vater gegenüber der Fall ist. Doch insgesamt wird Stiefvätern in der Fachliteratur wiederholt bescheinigt, dass sie sich in besonderem Maße bemühen, der Verantwortung in der neuen Familie und den unterschiedlichen Bedürfnissen mit hoher Eigeninitiative gebührend Rechnung zu tragen.

Facetten gelebter sozialer Vaterschaft

Die folgenden fünf Orientierungsqualitäten stiefväterlichen Verhaltens werden von sozialen Vätern häufig benannt:

  1. Stiefvater als Freund
  2. Stiefvater als Vertrauter
  3. Stiefvater als eine weitere Elter- “Figur”
  4. Stiefvater als Mentor
  5. Stiefvater als Rollen-Modell

Der Stiefvater-Typus (1) ist der besonders häufig beanspruchte Typus. Die restlichen vier Varianten beinhalten letztendlich verschiedene Facetten einer positiv gelebten Stiefvater-Rolle – jedoch weniger als Verhaltens-Stil, sondern eher als mögliches Ergebnis dessen, was Stiefväter als Inspiration für Stiefkinder verkörpern können.

Konfliktstränge für soziale Väter in Stieffamilien

In der Literatur findet sich eine hohe Übereinstimmung bezüglich der Uneindeutigkeit, die soziale Elternschaft und speziell soziale Vaterschaft in Stieffamilien beinhalten kann. Die nachfolgenden Problemanzeigen sind Einzelsegmente, die in ihrer Summe die stiefväterliche Ambiguität konkret mit Inhalt füllen.

Ungewissheit bezüglich des Grades an auszuübender Autorität

Der Übergang von einer häufig eher freundschaftlichen Beziehung zu den Kindern der Partnerin in der Anfangsphase der Stieffamilie hin zu einer elternähnlichen Bezugsperson im weiteren Verlauf der Familie und/oder nach einer Heirat ist oft Anlass für Statusschwierigkeiten.

Disziplinierung von Stiefkindern und Durchsetzung von Regeln

Aufgrund unterschiedlicher Erziehungsstile und diskrepantem Normenverständnisses zwischen den erwachsenen Partnern ist häufig umstritten, was im Verhalten der Kinder toleriert werden kann und was durchgesetzt werden soll. Vorhandene Spannungen verschärfen sich noch zusätzlich in Situationen, in denen ein sozialer Vater – in Übereinstimmung mit seiner Partnerin – erst etwas disziplinarisch durchsetzt, doch dann seine Autorität dadurch unterminiert sieht, dass plötzlich die Mutter ihrem Kind beisteht und durch ihr ambivalentes Verhalten und das Koalieren mit dem Kind gegen den Partner dessen Autorität in Frage stellt. Dadurch fühlt er sich im wiederholten Male innersystemisch an den Rand gedrängt.

Das Ausmaß an zu zeigender Zuneigung

Die Art und Weise, wie Zuneigung gegenüber Familienmitgliedern, insbesondere Kindern und Jugendlichen, gezeigt wird, kann sehr verschieden sein. Es liegt nahe, dass Zuneigungsbezeugungen, die nicht für beide Beteiligten gleichermaßen stimmig und authentisch sind, gerade zwischen Stiefvätern und Stiefkindern zu emotionalen” Verspannungen “führen können. Da Stiefväter in der Regel zu der Mutter der Kinder ein engeres Verhältnis entwickeln als zu ihren Kindern, die z.T. lediglich” in Kauf genommen werden “, können Zärtlichkeiten durchaus Beziehungen in Schieflage geraten lassen und Ausgangspunkt für Folgeschwierigkeiten sein.

Schuldgefühle gegenüber leiblichen Kindern

Leben die eigenen leiblichen Kinder nicht in der primären Stieffamilie, sondern bei der früheren Partnerin, so kommt es – angesichts einer unterschiedlich intensiven Umgangszeit zwischen jetzigen Stiefkindern und deren leiblichen Vater einerseits und häufig geringerer Umgangszeit zwischen Stiefvater und dessen außerhalb lebenden leiblichen Kindern andererseits – leicht zu Schuldgefühlen seitens des Stiefvaters. Loyalitätsgefühle den eigenen leiblichen Kindern gegenüber können dann zur Quelle vielfältiger Folgeprobleme werden.

Konkurrenz mit dem leiblichen Vater der Stiefkinder

Da der leibliche Vater der Stiefkinder diese häufig in” Sonderzeiten “sieht, was vor allem Wochenenden und Ferien beinhaltet, liegt es einerseits häufig nahe, dass er auch” Sonderprogramme “anbietet, die weder von Hausaufgaben, unliebsamer Arbeit im Haushalt noch anderen Verpflichtungen getrübt werden. Der Vater neigt dazu, seinen Kindern – da er seltener mit ihnen zusammen sein kann, als er vielleicht möchte – möglichst Kompensationen zu bieten, was dem Stiefvater u.U. schon allein finanziell gar nicht möglich sein mag. Andererseits beneidet der leibliche Vater den Stiefvater um die Tatsache, dass dieser den Alltag – mit entsprechender Nähe und lebendiger Intensität – mit seinen Kindern teilen kann. Dies kann wechselseitig einem mehr oder minder verdeckt konkurrierendem Verhalten Vorschub leisten.

Diskrepanzen bei Nachnamen der Stiefkinder

Manchmal kommt es zu Auseinandersetzungen wegen unterschiedlicher Nachnamen von Stiefkindern und Stiefvätern. Häufiger Anlass für Konflikte im Zusammenhang mit Namensführung besteht darin, dass Bemühungen seitens der leiblichen Mutter und des Stiefvaters, eine bessere Integration der Stieffamilie über einheitliche Nachnamen und Adoption der Stiefkinder durch den Stiefvater zu erreichen, auf Widerstand von Seiten der Stiefkinder trifft, die sich aus Loyalitätsgefühlen ihrem leiblichen Vater gegenüber – der einer Adoption zustimmen müsste – verweigern.

Machtposition der leiblichen Mutter

Während bei einer leiblichen und gelebten Vaterschaft die Beziehungen zwischen Vater und Kindern reichhaltige Entwicklungsmöglichkeiten beinhalten, hat ein sozialer Vater in einer Stieffamilie eine vergleichsweise ungünstigere Ausgangsposition in Bezug auf das Beziehungsverhältnis zu seinen Stiefkindern: Es ist in der Regel keine gewachsene Beziehung, sondern eine eher abrupt entstandene Erwachsener-Kind-Beziehung, die sich häufig unter Erschwernissen entfaltet. Im Gegensatz dazu ist die Mutter-Kind-Beziehung – die oft in der Zeit der” Alleinelternschaft “der Mutter zu einer verschworenen Gemeinschaft geworden ist – von weitaus intensiverer und intimerer Natur. Während sich der soziale Vater vor allem zu Beginn als Eindringling, Mitläufer oder Außenseiter vorkommt, hat die leibliche Mutter ihm gegenüber eine Machtposition, die zu akzeptieren für manche Männer nicht einfach ist. Daraus können sich Machtkämpfe ergeben, die für zusätzlichen Sprengstoff für die ganze Familie sorgen.

Zum Scheitern von sozialen Vätern in Stieffamilien

Kurz möchte ich auf einen Stiefvater- und Stieffamilienaspekt verweisen, der sich auf die “Nachwirkungen” von sozialer Vaterschaft/ Stiefvaterschaft bezieht. Gemeint ist die Tatsache, dass nicht nur zweite Ehen – im Vergleich zu ersten – eine höhere Wiederscheidungsrate aufweisen, sondern dass auch Zweitfamilien nicht in allen Fällen von großer Dauer sind und oft die Partner in Stieffamilien wieder auseinander gehen. Das reale Scheitern von Stiefvätern in Stieffamilien ist bisher noch nicht annähernd hinreichend untersucht worden. Damit trifft das Merkmal der sozialen “Unsichtbarkeit” von Stieffamilien für ihre auf Dauer weniger erfolgreichen Verbindungen leider in ganz besonderem Maße zu.

Problemvirulente Anforderungsbereiche

Die nachfolgend aufgeführten familiären Problembereiche stellen für den Stiefvater erhebliche psychologische Anforderungen dar, die im Zusammenleben der Familie ihm – aber auch den anderen Beteiligten – eine erhebliche Anpassungsleistung abverlangen. Allerdings ist zu betonen, dass diese – häufig zu Konflikten Anlass gebenden – Bereiche in noch höherem Maße als die oben erwähnten stieffamiliären Konfliktstränge Prozesscharakter besitzen. Das bedeutet, dass in der Regel ihre Brisanz mit der wachsenden Lebensdauer der Stieffamilie graduell abgefedert wird.

Anschluss an eine ”eingespielte“ Gruppe

Nach vollzogener Trennung/ Scheidung von dem leiblichen Vater ihrer Kinder folgt in der Regel eine oft mehrjährige Ein-Eltern-Familienphase für das Mutter-Kind-Subsystem. In dieser Zeit, in die neben dem Bemühen, als ”Restfamilie“ wieder Fuß zu fassen, auch längere oder kürzere Trauer- und Verarbeitungsprozesse sowohl bei Mutter als auch bei Kind/ Kindern fallen, bildet sich häufig ein sehr intimes, auf emotionale Gegenseitigkeit bezogenes neues Mutter-Kind-System heraus, das u.a. durch ein sehr hohes Maß an Beziehungskohäsion gekennzeichnet ist. Es kommt einem ”geschlossenen“ System recht nahe, so dass es einem sozialen Vater in spe, der sich dieser Gemeinschaft hinzugesellen möchte, sehr schwer fallen kann, Anschluss zu finden.

Überengagement auf Seiten des sozialen Vaters einerseits, die Gefahr einer etwaigen Funktionalisierung eines gemeinsamen Kindes und vor allem Ausstoßungsversuche seitens des Stiefkindes/ der Stiefkinder andererseits sind Bewältigungsversuche der Betroffenen, mit einer z.T. konfliktreichen Lebenssituation umzugehen.

Der eigentliche Schlüssel zu dem, was soziale Väter in dieser Lage erwartet, sind in entscheidendem Maße die Erwartungen, die vor allem bei der Mutter und neuen Partnerin – zu einem gewissen Teil auch bei den Kindern – vorhanden sind, und wie bzw. ob der Stiefvater diesen Erwartungen zu entsprechen vermag.

Handhabung von ”Glaubensgrundsätzen”

Unrealistische Vorstellungen von den Möglichkeiten und Begrenzungen, die soziale Väter in neu gegründeten Familien erwarten, sind ursächlich für Problemkonstellationen, die den familiären Erfolg von Stieffamilien insgesamt, aber vor allem auch die erheblichen individuellen Bemühungen von Stiefvätern im Besonderen, immer wieder in Frage stellen.

Ganz unterschiedliche Vorstellungen von Funktionalität und familiärem Erfolg gehören zum Familienleben dazu. Glaubensgrundsätze durchdringen den familiären Alltag, ohne dass gewöhnlich darüber reflektiert wird. In Stieffamilien können Glaubensgrundsätze ganz fatale Formen unrealistischer Prägung annehmen, die für Stiefeltern zu unüberwindbaren Hürden werden können. Wiederholt wurde von Praktikern eindringlich auf die Gefahren dieser “Mythen” für Stiefeltern bzw. soziale Väter hingewiesen. Im Rahmen dieser Aufklärungsarbeit wurde erheblich zur Entmystifizierung gängiger Stieffamilienmythen beigetragen.

Zum einen findet sich auch bei sozialen Vätern die Vorstellung, dass Liebe zu den Stiefkindern und Fürsorge für sie sofort mit dem Einlassen auf eine Stieffamilie entstehen werden – selbst dann, wenn eingestandenermaßen reale Gefühlsvorbehalte dagegen sprechen. Diese fast magische Vorstellung von “sofortiger Liebe und Fürsorge” wird zum anderen in der Regel noch gestützt durch die Vorstellung, dass allein schon durch die Bildung der Stieffamilie “Familienglück” umgehend realisierbar ist ( “instant family” ) und dass sich im Gefolge davon vorhandene Konfliktstränge und belastende Problemkonstellationen fast mühelos zum Guten wenden lassen.

Die Entwicklung von Regelungen des Zusammenlebens

Sowohl für “unerfahrene” als auch für bereits als Vater “bewährte” soziale Väter ist der Eintritt in eine Stieffamilie insofern Neuland, als für das Mutter-Kind-System die bis dahin eingespielte und funktionale Alltagspraxis aus Erziehungshandhabungen und Lebensgewohnheiten fortgesetzt wird. Die Anschlussbemühungen, die Stiefväter bei der Etablierung einer Stieffamilie unternehmen, fallen ganz unterschiedlich aus. Die Vorerfahrungen des sozialen Vaters, die Erwartungen der Mutter und der Stiefkinder sowie vorhandene oder nicht vorhandene Flexibilität und Selbstverständnis seitens des Stiefvaters sind einige der Variablen, die eine gelingende Annäherung der Vorstellungen und ihrer praktischen Umsetzungen beeinflussen.

Als besonders konfliktträchtige Brennpunkte bei solchen Auseinandersetzungsprozessen haben sich zum einen die Regelungen des täglichen Familienlebens – wie Verteilung und Handhabung von Aufgaben und Arbeiten im und außerhalb des Haushaltes – herauskristallisiert. Ähnlich konfliktbehaftete Bereiche sind allgemeine Umgangsformen und “Etikette” , die Handhabung von Hausaufgaben, Essgewohnheiten, der Umgang mit Alkohol, Nikotin und Drogen sowie die Aufteilung des vorhandenen Wohnraumes, aber auch die innerfamiliären Grenzziehungen zur Wahrung der persönlichen Identität und psychischen Integrität der einzelnen Familienmitglieder. Hoch brisant ist ebenfalls der Umgang mit offenen oder verdeckten Konflikten, mit Aggressionen, Feindseligkeiten und Meinungsdissens. Entschiedenes Auftreten oder allmähliches Anfreunden sind nur zwei der Vorgehensweisen, die soziale Väter im “Kampf” um das eigene psychische Überleben in der Stieffamilie beschreiten.

Finanzielle Familienbelange

Wird vom sozialen Vater in einer Stieffamilie Unterhalt für eigene leibliche Kinder an deren Mutter gezahlt oder ist das Einkommensvolumen von Stiefvätern ohne leibliche Kinder durch die relativ abrupte finanzielle Anforderungserhöhung z.B. durch die Veränderung von einem Einzelhaushalt hin zu dem Haushalt einer Stieffamilie innerhalb kurzer Zeit erheblich stärker belastet, sind Geldangelegenheiten häufig Quelle für Konflikte. Im ersten Fall mag sich der Stiefvater von den finanziellen Abgaben an beide Familien an die Grenzen seiner Möglichkeiten geführt fühlen. Wobei zusätzlich Bitterkeit noch dadurch aufkommen kann, dass er zwar zahlen darf, aber ihm der Lebensalltag seiner leiblichen Kinder zu einem großen Teil versperrt bleibt. Im ersten wie im zweiten Fall kann es noch zu weiteren Problemen kommen, wenn die Zahlungsbereitschaft als Maßstab für Liebe und Zuwendung herhalten soll.

Stärken und Herausforderungen

Als ganz wesentliche Stärke von sozialen Vätern in erfolgreichen, d.h. dauerhaft zufrieden zusammenlebenden Stieffamilien hat sich eine hohe Anpassungsfähigkeit an wechselnde Veränderungen herauskristallisiert. Wichtig waren darüber hinaus die Bereitschaft der Stiefväter und ihre Fähigkeit, in Verbindung mit auftauchenden Schwierigkeiten mit den anderen Familienmitgliedern so lange zu verhandeln, bis eine Lösung oder zumindest ein Kompromiss gefunden werden konnte.

Als feststellbare Stärken von sozialen Vätern in Stieffamilien wurden die folgenden Charakteristika festgestellt:

  1. die gelingende Umsetzung von positiven Kommunikations-Mustern,
  2. die Fähigkeit, wechselseitig Respekt und Unterstützung zu signalisieren,
  3. eine wirkungsvoll-flexible Rollenorientierung,
  4. konstruktive, an der Gemeinschaft orientierte Beziehungsgestaltung,
  5. die hohe Bereitschaft, erhebliche Zeit miteinander zu verbringen und sich an gemeinsamen Aktivitäten zu beteiligen,
  6. die Fähigkeit, mit vorhandenem Stress konstruktiv umgehen zu können,
  7. eine verbindende religiöse bzw. weltanschauliche Orientierung,
  8. das Gespür für erforderliche Hilfeleistungen und
  9. die Bereitschaft, Hilfe annehmen zu können.

Dabei wurden noch drei Zusatzvariablen festgestellt, die als Zusatz-Potentiale für Stiefväter in neu zusammengesetzten Familien dann als unterstützende Faktoren hinzutraten, wenn die Bereitschaft und Einsicht vorhanden waren, sie in Anspruch zu nehmen. Es handelt sich um die Rahmenmerkmale:

  1. unterstützendes Umfeld,
  2. kritische Einkommenssituation und
  3. in Anspruch genommene professionelle Hilfe.

Der für alle – allerdings besonders für den sozialen Vater – herausfordernde und für die Stiefkinder wichtige Kontakt zu dem nicht vor Ort, d.h. im Haushalt, lebenden leiblichen Vater gelingt sozialen Vätern leichter, wenn gewisse familienspezifische Entwicklungspotentiale angestrebt und erfolgversprechend vorangetrieben werden. Die folgenden vier Herausforderungen spielen speziell für Stiefväter eine richtungweisende Rolle:

  1. Die Reifung und Festigung einer soliden neuen Paarbeziehung,
  2. die Stützung und Förderung der ursprünglich vorhandenen Eltern-Kind-Beziehungen.
  3. die fördernde Handhabung und Intensivierung der Stiefbeziehungen sowie
  4. die Entwicklung eines Gefühls neuer familiärer Zugehörigkeit.

Ressourcen für soziale Väter in Stieffamilien

Sechs Merkmale zur Grundlegung einer befriedigenden Konsolidierung erfolgreicher Stieffamilien haben sich als Ressourcen für Stiefväter herausgestellt. In diesen Familien haben Stiefväter entscheidend dazu beigetragen, dass

  1. zufrieden stellende Stiefbeziehungen sich haben bilden können,
  2. Verluste (durch Trennung, Scheidung, Tod) ausreichend betrauert werden konnten,
  3. ursprünglich überzogene Vorstellungen und Erwartungen allmählich realistischer wurden,
  4. ein gefestigtes und einiges Paar sich hat zusammenfinden können,
  5. konstruktive neue Familien-Rituale sich herausbilden konnten und
  6. die beiden getrennten Haushalte (beider leiblicher Eltern) miteinander kooperieren.

Gerade dann, wenn der außerhalb lebende leibliche Vater seiner Vaterverantwortung auch zukünftig ernsthaft Rechnung tragen will, tun sich für den sozialen Vater zwar auch konkurrierende Bereiche auf, die sich als Fallen erweisen können. Es sind aber vor allem die oben angedeuteten Bereiche, die es einem sozialen Vater ermöglichen, mit seiner Persönlichkeit, seinen Interessen und Fähigkeiten als bereichernde Ressource für das Stieffamilien-System einen “frischen Beziehungs-Wind” in der Familie wehen zu lassen. Der kann einerseits dazu beitragen, die dunklen Wolken der Vergangenheit “hinwegzufegen” , andererseits kann er – in besonderem Maße für Stiefsöhne – als ein alternatives Zusatzangebot unendlich befruchtend wirken.

Soziale Väter verkörpern und praktizieren dann ein flexibles Spektrum an “Väterlichkeit” , was im Kern dazu führt, einem vorhandenen familiären Bedürfnishorizont pragmatisch zu entsprechen. So wird das Angebot “alternativer Väterlichkeit” komplementär zu der jeweiligen familiären Bedürfnisstruktur kompensatorisch abrufbar.

Literatur

  • Döring, G.H. (2002): Soziale Vaterschaft in Stieffamilien – Imaginationen von reifendem Glück. Regensburg
  • Döring, G.H. (2004): Stieffamilien und Suizidgefährdung. In: Suizidprophylaxe – Theorie und Praxis, Jg. 31, Heft 3, Nr. 119

Autor

Dr. Gert H. Döring ist Fachberater an den Krisenberatungsstellen des ambulanten Krisendienstes des AKL Nürtingen-Kirchheim e.V. Er ist ferner als Familientherapeut, Heilpraktiker für Psychotherapie und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut in eigener Praxis tätig.
 

Kontakt

Dr. Gert H. Döring
AUFWÄRTS – Psychotherapeutische Praxis an der Steige
Neue Steige 45
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Tel.: 07121/603009

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Erstellt am 29. Oktober 2004, zuletzt geändert am 30. März 2010