Familien heute - sieben Typen familialen Zusammenlebens.

Prof. Dr. Matthias Petzold

Mpetzold

Die klassische Vater-Mutter-Kind-Familie kann in Deutschland nicht mehr als häufigste Lebensform bezeichnet werden. Zum Verständnis der großen Vielfalt familialen Zusammen-lebens werden sieben primäre Lebensformen systematisch eingeordnet.

Die Familie hat sich in den vergangenen Jahrhunderten grundlegend verändert. Im Rahmen der industriellen Revolution und der Entstehung der Städte sind mehr und mehr Familien vom Land in die Stadt gezogen. Dies hatte weit reichende Konsequenzen für die Struktur der Familie, die sich aus verschiedenen Formen der Großfamilie zur heute als Norm angesehenen Vater-Mutter-Kind-Familie gewandelt hat. Diese uns vertraute Norm ist aber inzwischen selbst schon ein Stück Geschichte geworden, denn die klassische vollständige Kernfamilie ist heute nicht mehr die dominierende Familienform (vgl. Petzold, 1999).

Aus psychologischer Sicht ist es unzureichend, diese Trends nur in Zahlen auszudrücken. Es ist interessanter, die Qualität des Familienlebens in den sich entwickelnden neuen Familienformen zu erkennen, z.B. Adoptivfamilie, Ein-Eltern-Familie, Fortsetzungsfamilie, Großfamilie, Kernfamilie, Kleinfamilie, Kommune, Lebensabschnittspartnerschaften, Living-apart-together, Mehrgenerationenfamilie, nichteheliche Lebensgemeinschaften, Patchwork-Familie, Pflegefamilie, SOS-Kinderdorf-Familie, Stieffamilie, Wohngemeinschaft, Zweitfamilie, Zwei-Kern-Familien u.a.

Definitionen: Familienrecht

Wir können uns jedoch auf die im heutigen öffentlichen Sprachgebrauch benutzten Definitionen der Familie beschränken, die aus unterschiedlichen Richtungen stammen. Weit verbreitet ist die Gleichsetzung von Familie mit der vollständigen Vater-Mutter-Kind-Gemeinschaft. Im bürgerlichen Recht werden Ehe und Familie verbunden bzw. sogar gleichgesetzt. Diese Reduktion der Familie auf die Ehegemeinschaft mit Kinder entspricht der konservativen Rechtsauffassung, wie sie z.B. von dem Kölner Familienrechtler Wolfgang Rüfner
(1989, S. 63) formuliert wurde: “Familie im Sinne des Grundgesetzes ist nicht jede beliebige Gruppe, die sich zu einer familienähnlichen Gemeinschaft zusammentut, sondern die Gemeinschaft von Eltern und Kindern, also die Kleinfamilie moderner Prägung… Das Grundgesetz sieht dabei die Ehe als alleinige Grundlage einer vollständigen Familiengemeinschaft an.” Der Familienpsychologe Klaus A. Schneewind (1999) weist in der
Kritik dieser Auffassung darauf hin, dass in der öffentlichen Diskussion mit Bezug auf das Grundgesetz zu dieser Definition häufig noch weitere Implikationen hinzukommen, nämlich die lebenslange Permanenz der Ehe, Heterosexualität (und zwar exklusiv!) sowie die Dominanz des Mannes als primärer Ernährer.

Blutsverwandtschaft

Häufig wird bei der Definition der Familie auf die Blutsverwandtschaft hingewiesen. Im Sinne eines solchen genealogischen Ansatzes umfasst Familie verschiedene Dimensionen verwandtschaftlicher Beziehungen. Im Volksmund wird “Familie” und “Verwandtschaft” häufig synonym gebraucht. Im heutigen Sozialrecht wird Familie dagegen nicht nur nach Verwandtschaft, sondern auch nach dem gemeinsamen Lebensvollzug bestimmt. Dies stellt insbesondere in der kommunalen Sozialpolitik die Grundlage für viele Entscheidungen dar
(vgl. Süssmuth, 1981). So wird Kindergeld im Prinzip nur für leibliche Kinder gezahlt, unabhängig davon, wo sie tatsächlich leben. Im gleichen Sinne bezieht das Bundessozialhilfegesetz weitere Verwandte in die Berechnung mit ein, und zwar Verwandte ersten Grades auch dann, wenn sie nicht im selben Haushalt leben. Das gemeinsame Zusammenleben in einem Haushalt ist in dieser Definition also sekundär.

Statistik

Dagegen basiert die Statistik des Statistischen Bundesamtes auf einer dreifachen Unterscheidung aller Haushalte der Gesellschaft in

  1. öffentliche Haushalte,
  2. Privathaushalte im Allgemeinen und
  3. solche mit Kindern.

Privathaushalte umfassen “Personengemeinschaften, die gemeinsam wohnen und wirtschaften, auch Einzelpersonen, die alleine wohnen und wirtschaften (nicht aber Anstalten)” (Statistisches Bundesamt, 1995). Familien unterscheiden sich dann nur noch dahingehend, dass ledige Kinder in diesem Haushalt leben müssen: “Elternpaare bzw. alleinstehende Elternteile zusammen mit ihren im gleichen Haushalt lebenden ledigen Kindern gelten im Folgenden als ´Familie´” (ebda.). Ob diese Menschen juristisch gesehen verheiratet sind oder
nicht, oder ob sie intime Beziehungen haben, interessiert die amtliche Statistik nicht, wenn Aussagen über die Familie getroffen werden sollen.

Psychologie

Aus psychologischer Sicht ist es unerheblich, ob es sich juristisch um eine Ehe oder um eine nichteheliche Zweierbeziehung handelt. Der Familienpsychologe Voss (1989) betrachtet daher die Familie als Sonderform einer sozialen Beziehung zweier Menschen, die sich durch eine spezifische Bindungsqualität von anderen Beziehungen unterscheidet. Die “Beziehungskiste” der intimen Bindung wäre dann das, was psychologisch die Familie ausmacht. Für diese besondere Bindung in der Paarbeziehung kann man auch den psychologischen
Begriff der Intimität benutzen und nach Schneewind (1987, 1999) die Familie als eine “intime
Lebensgemeinschaft” definieren. Eine solche Definition auf psychologischer Grundlage ist ein guter Ausgangspunkt, kann aber aus meiner Sicht für ein tieferes Verständnis von Familie nicht als hinreichend angesehen werden. Dabei beziehe ich mich auf bereits verbreitete Konzeptualisierungen anderer Familienpsychologen und Familiensoziologen (vgl. Petzold u. Nickel, 1989). In dieser wissenschaftlichen Diskussion zum Begriff der Familie wurde betont, dass Familie auf keinen Fall nur auf diese Basis der Intimität zweier Menschen beschränkt werden kann, sondern die Sorge um die nächste Generation mit einschließt.

Auf dem Hintergrund der gesellschaftlichen Verantwortung im Rahmen des Generationenvertrags wurde in diesem Sinne z.B. von der früheren Familienministerin Süssmuth (1981) postuliert, dass ohne Kinder eine Zweierbeziehung keine Familie ausmachen könne. Die Familiensoziologin Rosemarie Nave-Herz (1989) nennt als eine solche Bedingung die “intergenerationellen Beziehungen” . Mit dieser Aussage wird im Sinne des Modells der “biologisch-sozialen Elternschaft” als Basis der Familie betont, dass eine Familie im Wandel der
Gesellschaft selbst durch das Aufeinandertreffen verschiedener Generationen geprägt wird. Vor einigen Jahren haben Petzold und Nickel (1989) daher hervorgehoben, dass nicht allein die Existenz von Kindern im familiären Leben, sondern generell das psychische Spannungsfeld zwischen den Generationen zur Familie dazugehört. Diese Beziehungen zwischen den Generationen sind nicht nur solche zwischen den Eltern und ihren Kindern, sondern auch die der Eltern zu ihren eigenen Eltern. Leben Menschen aus verschiedenen Generationen in einer
Gemeinschaft zusammen, dann macht dies den Kern einer Familie aus. Damit wird die genealogische Definition erweitert, ohne auf die juristische Form der Ehe Bezug zu nehmen.

Familie kann also aus psychologischer Sicht als eine soziale Beziehungseinheit gekennzeichnet werden, die sich besonders durch Intimität und intergenerationelle Beziehungen auszeichnet (vgl. Petzold, 1999).

Innerhalb einer solchen psychologischen Definition der Familie ist eine große Vielfalt von Familienformen möglich. Dabei zählt nicht die statistische Häufigkeit, vielmehr geht es darum, den verschiedensten Alternativen familiären und familienähnlichen Lebens Raum zu gewähren. Ich stütze mich dabei auf das ökopsychologische Modell von Urie Bronfenbrenner (1981; 1986) Diese systemisch-ökopsychologische Sichtweise wurde seit Ende der siebziger Jahre begründet und ist auch in der deutschen Psychologie mit großem Interesse aufgenommen
worden. Bronfenbrenners Modell übernimmt zunächst die in der Soziologie schon lange übliche Unterscheidung einer Mikro- und Makro-Ebene, fächert aber diese beiden Ebenen noch weiter auf, da das einzelne Individuum in einer mehrschichtigen Umwelt lebt. Bronfenbrenner beschreibt fünf Ebenen, die er als Subsysteme (Makro-, Exo-, Meso-, Mikro- und Chronosystem) bezeichnet.

Das Mikrosystem umfasst die primäre Lebensform der Familie im engeren Sinne (bzw. in all ihren möglichen Variationen). Zwischen dieser und dem Makrosystem Gesellschaft findet das Individuum verschiedene vermittelnde Subsysteme (vgl. Bronfenbrenner, 1986). Unter Berücksichtigung der für die Familie relevanten Aspekte kann das ökopsychologische Modell wie folgt skizziert werden:

 

  1. Das Mikrosystem ist das eingeschränkte konkrete Umfeld, das unmittelbare System, in dem eine Person lebt. Die heutige Kleinfamilie mit ihren dyadischen bzw. triadischen Strukturen gilt als ein solches typisches Mikrosystem. Die Ökopsychologie berücksichtigt jedoch nicht nur die personellen Beziehungen, sondern auch physische und materielle Bedingungen, z.B. die Wohnverhältnisse.

  2. Das Mesosystem stellt die nächsthöhere Ebene dar und beinhaltet die Bezüge zwischen zwei oder mehr Mikrosystemen. Dabei stehen die Wechselbeziehungen im Vordergrund. Im Hinblick auf die Familie umfasst das Mesosystem z.B. Beziehungen zwischen der eigenen Kernfamilie und der Familie der Eltern, zwischen der Kernfamilie und dem System der Tagesbetreuung des Kindes oder zwischen der Kernfamilie und der Schule des Kindes.

  3. Das Exosystem besteht aus einem oder mehreren Mikro- bzw. Mesosystemen, denen das Individuum nicht als handelnde Person angehört, die aber indirekt mit dem Individuum in Wechselwirkung stehen. Dies ist z.B. für das Vorschulkind die von den älteren Geschwistern besuchte Schule oder für die Hausfrau die berufliche Welt ihres Mannes.

  4. Das Makrosystem bezieht sich als höchstes System auf gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge, wie z.B. die Rahmenbedingungen für die Erziehung von Kindern, Möglichkeiten zu familienergänzenden Betreuungsformen oder die allgemeinen Festlegungen für berufliche Arbeit (Ganztagsarbeit als Norm, Achtstundentag usw.). Darüber hinaus gehören auch allgemein gesellschaftlich geteilte Rollen-erwartungsmuster (Väter als “Brötchenverdiener” , Mütter als “Hausfrauen” ) zum Makrosystem.

  5. Mit dem Chronosystem, wie es von Bronfenbrenner (1986) ergänzend eingeführt wurde, wird zusätzlich die Zeitdimension einbezogen, da sie für das Verständnis von Entwicklungsprozessen unabdingbar ist. Mit Hilfe dieser Dimension wird nun auch die Entwicklung familiärer Zusammenhänge in Abhängigkeit vom Alter beschreibbar.

Auf einer solchen Grundlage beinhaltet die folgende ökopsychologische Systematik der Familie zwölf Merkmale primärer Lebensformen, die sich auf vier verschiedene Bereiche beziehen. Im Unterschied zu den offiziellen Definitionen können mit diesen Merkmalen und den verschiedenen Kombinationen alle Lebensformen von heute möglichen und realisierten Familientypen tatsächlich beschrieben werden (vgl. Tabelle 1).

Tabelle 1

Ökopsychologische Merkmale der Familie

A: Gesellschaftliche Rahmenbedingungen (Makrosystem)

  1. ehelich oder nichteheliche Beziehung
  2. gemeinsame oder getrennte wirtschaftliche Verhältnisse
  3. Zusammenleben oder getrennte Wohnungen

B: Soziale Verpflichtungen (Exosystem)

  1. Verpflichtungen durch Verwandtschaft oder Ehe
  2. Selbstständigkeit oder Abhängigkeit des anderen
  3. kulturell/religiös gleich oder unterschiedlich ausgerichtet

C: Kinder (Mesosystem)

  1. mit oder ohne Kind(er)
  2. leibliche(s) oder adoptierte(s) Kind(er)
  3. leibliche oder stiefelterliche Kindbeziehung

D: Partnerschaftsbeziehung (Mikrosystem)

  1. Lebensstil als Single oder in Partnerschaft
  2. hetero- oder homosexuelle Beziehung
  3. Dominanz des einen oder Gleichberechtigung

Dieses Definitionsraster für heutige Familienformen ermöglicht ein Verständnis für eine große Vielfalt alternativer Familienformen, indem zahlreiche Merkmale miteinander kombiniert werden können. Allerdings gibt es auch einige wenige sich einander ausschließende Charakteristika, z.B. die Kinderzahl, nicht aber der Status des Kindes. In einer Familie können sowohl eigene Kinder als auch Adoptivkinder oder auch Kinder aus früheren Partnerschaften zusammenleben. Es mag auch Familien geben, die formal auf der Basis der Heterosexualität aufgebaut sind, bei denen aber im realen Leben zumindest der eine der beiden Partner auch oder ausschließlich gleichgeschlechtlich orientiert ist. Selbst die von der Bundesstatistik benutzte Gleichsetzung
von Familien mit Haushalten ist nicht stimmig. Ganz abgesehen von der expliziten Form des
Living-apart-together gibt es Familien, in denen z.B. der Mann auswärts arbeitet und dann die Woche über in einem zweiten Haushalt real getrennt lebt.

Zur Vielfalt der Familientypen

Alle möglichen Variationen dieser Merkmale ergeben eine große Vielfalt von weit über hundert verschiedenen Familientypen. Auch ein Blick auf die konkreten Daten der Bevölkerungsstatistik belegt, dass im Zuge des Wandels der Familie die Vielfalt der familiären Lebensformen zunimmt. Es ist zwar immer noch so, dass die traditionelle Kleinfamilie nach wie vor die dominierende Lebensform ist, sie ist aber nicht mehr die häufigste primäre Lebensform in den westlichen Industrieländern. In Deutschland besteht nur ein Drittel der Haushalte aus einer traditionellen Kernfamilie – in über der Hälfte der Haushalte haben sich die Menschen zu anderen Lebensformen entschlossen. Immer mehr Menschen ziehen es vor, als alleinstehende Erwachsene einen eigenen Haushalt zu führen.

Gestützt auf die Daten zur Struktur der Haushalte in Deutschland (vgl. Mikrozensus des Statistischen Bundesamts, 1995, 2000) werden die folgenden aktuellen Trends deutlich:

  • In weniger als einem Drittel der Haushalte leben Paare mit Kindern, mehr als ein Drittel (36,0%) aller Haushalte sind Single-Haushalte ohne Kinder.
  • Im April 1999 gab es in Deutschland 7,1% weniger Ehepaare mit mindestens einem Kind unter 18 Jahren als 1991 (1991: 7,9 Mio., 1999: 7,4 Mio.).
  • Mehr und mehr Kinder wachsen bei Alleinerziehenden auf (1991: 1,5 Mio., 1999: 1,9 Mio.).
  • Die Zahl der nichtehelichen Lebensgemeinschaften hat mit 41% in den letzten Jahren stark zugenommen (1991: 1,4 Mio., 1999: 2,4 Mio.), d.h. jedes zehnte Paar lebt heute ohne Trauschein zusammen.

Diese Zahlen verdeutlichen, dass auch in Deutschland die klassische Form der Vater-Mutter-Kind-Familie nicht als häufigste Lebensform bezeichnet werden kann. Dies ist heute vielmehr der Single-Haushalt (in manchen Fällen auch mit Kindern), der insbesondere in den Metropolen (in Deutschland genauso wie in anderen westlichen Ländern) zur häufigsten Haushaltsform geworden ist. Damit einher geht auch die Tendenz, dass in den städtischen Kerngebieten das Leben mit Kindern zur Ausnahme wird. So leben z.B. in den Innenstadtbezirken Münchens nur in jedem siebten Haushalt Kinder. Bei dieser Entwicklung ist zwar noch kein Trend zu einer anderen Alternative zur Familie zu erkennen, vielmehr gibt es eine große Vielfalt von
verschiedenen primären Lebensformen. Aus psychologischer Sicht ist es auch sehr wichtig zu beachten, dass diese Lebensformen nicht immer objektiv unterscheidbar sind. So mag manch einer als Single wohnen, sich aber als Mitglied einer Familie fühlen, die an zwei Orten zu Hause ist usw. Die Charakteristika der verschiedenen Familienformen sollten deshalb nicht nur an objektiven Merkmalen, sondern auch an der subjektiven Sicht der Betroffenen festgemacht werden.

Als Perspektive zur Gruppierung dieser ökopsychologischen Merkmale bietet es sich an, auf die subjektive Sicht der Familienmitglieder selbst Bezug zu nehmen. In der Familiensoziologie und der Familienpsychologie wurde in den letzten Jahren über eine Neudefinition des Begriffs “Familie” nachgedacht. Nyer et al. (1991) haben dazu vorgeschlagen, von “wahrgenommenen Familien” auszugehen und die subjektive Wahrnehmung der Betroffenen von dem, was sie als Familie empfinden, in ein wissenschaftliches Verständnis von Familie mit aufzunehmen. Der Familiensoziologe Hans Bertram hebt dazu hervor: “Familienmitglieder sind meist Verwandte, müssen es aber nicht sein. Aus der Sicht der Befragten sind jedoch nicht alle, die zur Familie
gehören könnten, auch tatsächlich Mitglieder ihrer Familie. Andererseits werden Personen zur eigenen Familie gerechnet, die nach dem allgemeinen Verständnis nicht dazu gehören” (Bertram, 1991, S. 43). Es soll deshalb versucht werden, die individuelle subjektive Sichtweise der Betroffenen in diese ökopsychologische Sicht zu integrieren.

In Familie zu leben kann aus der subjektiven Wahrnehmung heraus unterschiedlichste Orientierungen im Rahmen der gesamtgesellschaftlichen Normen- und Wertvorstellungen zur Grundlage haben. Die Analyse der verschiedenen subjektiven Sicht familiären Lebens kann besser erfolgen, wenn man systemtheoretische Überlegungen zu Grunde legt (vgl. Petzold, 1999). Dabei gehe ich zunächst davon aus, dass der Sichtweise eines jeden Familienmitglieds normative Regeln und ein gewisses normatives Ideal zu Grunde liegen. Weiterhin herrscht in der öffentlichen Meinung das Gebot, Familie sei durch Eheschließung zu begründen. Schließlich wird der Familie gesellschaftlich die Aufgabe angetragen, durch Elternschaft für die Existenz der nächsten Generation zu sorgen. Die Familie könnte also durch drei systemische Dimensionen gekennzeichnet werden.

Im Rahmen dieser Orientierung wären dann drei Reinformen von Lebensentwürfen zu unterscheiden, die ich als Dimensionen für ein Verständnis aufgreife:

  1. Normorientierung an einer idealen Vater-Mutter-Kind-Familie,
  2. Familienleben mit Ehe und Partnerschaft als Basis,
  3. Familienleben als Realisierung von Elternschaft.

Diese drei systemischen Dimension beinhalten – je nachdem, wie sie zusammenwirken – verschiedene Auswirkungen auf die Art des je nach subjektiver Sichtweise unterschiedlichen familialen Lebensentwurfs. Wenn man mit Hilfe dieser drei subjektiven Dimensionen die oben skizzierten ökopsychologischen Merkmale gruppiert, kann man aus der großen Zahl individueller Lebensentwürfe die in Tabelle 2 folgenden sieben primären Lebensformen herauskristallisieren.

Tabelle 2

Sieben primäre Lebensformen

 

Familienform

  Beispiel

A

normale Kernfamilie

traditionelle Vater-Mutter-Kind-Beziehung

B

Familie als normatives Ideal

Alleinstehende mit Orientierung an einem normativen Familienideal

C

kinderlose Paarbeziehung

unfreiwillig oder auf Grund eigener Entscheidung kinderlose Paare

D

nichteheliche Beziehung mit Kindern (aber mit normativem Familienideal)

moderne Doppelverdiener-Familie mit Kind(ern)

E

postmoderne Ehebeziehung ohne Kinder (aber mit Normorientierung)

auf Berufskarriere und intime Partnerschaft bezogene Ehe ohne Kinder

F

nichteheliche Elternschaft ohne Orientierung an einer Idealnorm

Wohngemeinschaften mit Kindern, Ein-Elter-Familien

G

verheiratete Paare mit Kindern (aber ohne normatives Ideal)

alternativ orientierte Eltern, die dennoch verheiratet sind

Die sieben primären Lebensformen führen uns so zu einem besseren Verständnis der anfangs skizzierten Pluralität der primären Lebensformen. Diese reale Vielfalt familialen Lebens hat eine große Bedeutung für die unterschiedlichen Formen der Mediennutzung (vgl. Petzold, 2000). Je nach Familientyp ergeben sich auch verschiedene Auswirkungen auf die Sozialisation. Man muss daher mit Bedacht die unterschiedlichen Möglichkeiten, Chancen und Gefahren der Mediennutzung der Kinder und Jugendlichen einschätzen.

Literatur

  • Beck-Gernsheim, E.: Was kommt nach der Familie? München: Beck 1998.
  • Bertram, H.: Die Familie in Westdeutschland. Opladen: Westdeutscher Verlag 1991.
  • Bronfenbrenner, U.: Die Ökologie der menschlichen Entwicklung. Stuttgart: Klett-Cotta 1981.
  • Bronfenbrenner, U.: Ecology of the Family as a context for human development: research perspectives. In: Developmental Psychology, 22/1986/-, S. 723-742.
  • Nave-Herz, R.: Gegenstandsbereich und historische Entwicklung der Familienfoschung. In: Nave-Herz, R.;
  • Markefka, M. (Hrsg.): Handbuch der Familien- und Jugendforschung. (Band 1: Familienforschung) Neuwied: Luchterhand 1989, S. 325-344.
  • Nyer, G.; Bien, W.; Marbach, J.; Templeton, R.: Obtaining reliable data about family life. A methodological examination of egocentered networks in survey research. In: Connections, 14/1991/1, S. 14-26.
  • Petzold, M.; Nickel, H.: Grundlagen und Konzept einer entwicklungspsychologischen Familienforschung. In: Psychologie in Erziehung und Unterricht, 36/1989/- S. 241-257.
  • Petzold, M.: Entwicklung und Erziehung in der Familie. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren 1999.
  • Petzold, M.: Die Multimedia-Familie. Opladen: Leske & Budrich 2000.
  • Peukert, R.: Familienformen im sozialen Wandel. Opladen: Leske & Budrich 1998.
  • Rüfner, W.: Familie heute und alternative Lebensformen. In: Wingen, M. (Hrsg.): Familie im Wandel – Situation, Bewertung, Schlußfolgerungen. Bad Honnef: Verlag des Katholisch-Sozialen Instituts 1989, S. 58-91.
  • Schneewind, K.A.: Familienpsychologie: Argumente für eine neue psychologische Disziplin. In: Zeitschrift für Pädagogische Psychologie, 1/1987/1, S. 79-90.
  • Schneewind, K. A.: Familienpsychologie. Stuttgart: Kohlhammer 1999.
  • Statistisches Bundesamt (Hrsg.): Im Blickpunkt: Familien heute. Stuttgart. Metzler-Poeschel 1995.
  • Süssmuth, R.: Familie. In: Schiefele, H.; Krapp, A. (Hrsg.): Handlexikon zur Pädagogischen Psychologie. München: Ehrenwirth 1981, S. 124-129.
  • Voss, H. G.: Entwicklungspsychologische Familienforschung und Generationenfolge. In: Keller, H. (Hrsg.): Handbuch der Kleinkindforschung. Neuwied: Luchterhand 1989, S. 207-228.

Weitere Beiträge des Autors hier in unserem Familienhandbuch

Quelle

Internationales Zentralinstitut für das Jugend- und Bildungsfernsehen (IZI): Televizion 14/2001/1, S. 16 – 19

Autor

Prof. Dr. Matthias Petzold ist Familienpsychologe, arbeitet an den Universitäten Düsseldorf und Köln sowie in freier Praxis in Köln. Hauptarbeitsgebiete: Entwicklungspsychologische Familienforschung, Mediennutzung in der Familie, Gutachten für Familiengerichte.

Kontakt

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Erziehungswissenschaftliches Institut
Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
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Erstellt am 4. Dezember 2001, zuletzt geändert am 18. Mai 2011

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