Die Bedeutung von Geschwistern für die soziale und kognitive Entwicklung von Kindern und Jugendlichen – Theorien und Forschungsbefunde

Prof. Dr. Christine Schmid

Index

Im vorliegenden Beitrag werden strukturelle Besonderheiten von Geschwisterbeziehungen im Vergleich zu anderen sozialen Beziehungen herausgearbeitet sowie die Folgen beleuchtet, die sich durch diese für die soziale und kognitive Entwicklung von Kindern und Jugendlichen ergeben können. Die strukturellen Ähnlichkeiten und Unterschiede von sozialen Beziehungen lassen sich am besten entlang der drei Dimensionen Symmetrie/Asymmetrie, Nähe/Distanz und Freiwilligkeit/Unfreiwilligkeit beschreiben (de Hart, 1999).

Kinder und Jugendliche wachsen in einem Netzwerk von sozialen Beziehungen auf, die ganz unterschiedliche Funktionen für die soziale, emotionale und kognitive Entwicklung erfüllen können. In diesem sozialen Netzwerk bilden Geschwisterbeziehungen einen wichtigen Bestandteil. Geschwisterbeziehungen stellen die längsten Beziehungen im Leben eines Menschen dar, und im Falle jüngerer Geschwister bestehen sie von Geburt an. Nur etwa jedes fünfte Kind in der Bundesrepublik Deutschland wächst ganz ohne Geschwister auf (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 2002, S. 124).

Symmetrie/Asymmetrie in sozialen Beziehungen

Symmetrische Beziehungen sind durch ein Gleichgewicht an Macht und Fähigkeiten oder Kompetenzen der Beziehungspartner gekennzeichnet. Asymmetrie ist dann gegeben, wenn ein Macht- oder Kompetenzgefälle besteht. Die Eltern-Kind-Beziehung ist durch eine starke Asymmetrie gekennzeichnet, weniger asymmetrisch sind dagegen Gleichaltrigen-, Freundschafts- und idealerweise auch Partnerschaftsbeziehungen. Geschwisterbeziehungen können zwischen diesen beiden Polen angesiedelt werden. Sie sind weniger asymmetrisch als allgemein die Beziehungen zwischen Kindern und Erwachsenen, aber asymmetrischer als die Beziehungen unter Gleichaltrigen.

In Geschwisterbeziehungen kommen sowohl symmetrische als auch asymmetrische Aspekte zum Tragen. Die symmetrischen Aspekte bestehen im vertrauensvollen Umgang der Kinder untereinander, im kooperativen Spiel und im gemeinsamen Bewältigen von Problemen. Strukturell bilden Kinder gegenüber ihren Eltern eine Einheit, die durch Rollensymmetrie gekennzeichnet ist und beispielsweise in der Geschwistersolidarität ihren Ausdruck findet (von Salisch, 1993). Die asymmetrischen Aspekte sind vor allem mit der Geschwisterposition (älteres oder jüngeres Geschwister) sowie mit den Altersabständen und den damit einher gehenden Entwicklungsunterschieden zwischen den älteren und den jüngeren Geschwistern verbunden.

Die Asymmetrie von Geschwisterbeziehungen nimmt im Laufe der Entwicklung von der frühen Kindheit bis ins frühe Erwachsenenalter ab (Buhrmester, 1992). Ursache hierfür sind die bei gleich bleibendem Altersabstand im Laufe der Zeit immer weniger ins Gewicht fallenden Entwicklungsunterschiede zwischen älteren und jüngeren Geschwistern.

Studien, in denen die Interaktionen von Vorschul- und Schulkindern im Labor oder im natürlichem Umfeld zu Hause beobachtet wurden, zeigen, dass asymmetrisches Rollenverhalten unter Geschwistern sehr viel häufiger vorkommt als unter befreundeten Gleichaltrigen. Ältere Geschwister dienen nicht nur als Spielgefährten, sie zeigen auch häufig bestimmende, sowie lehrende und helfende Verhaltensweisen. Die jüngeren Geschwister ordnen sich solchen Verhaltensweisen keineswegs nur unter, sondern fordern diese auch ein. Den Geschlechtsrollenstereotypen entsprechend, sind es häufiger ältere Schwestern, die lehrende, betreuende und helfende Rollen übernehmen. Ältere Brüder verhalten sich im Vergleich dazu stärker kompetitiv gegenüber ihren jüngeren Geschwistern (Brody & Stoneman, 1995).

Die Bedeutung von symmetrischen/asymmetrischen Interaktionen für Lernen und Entwicklung

Entwicklungstheoretiker wie Piaget, Sullivan und Youniss (z.B. Youniss, 1994) argumentieren, dass von symmetrischen Beziehungen besondere Impulse für die soziale und kognitive Entwicklung von Kindern und Jugendlichen ausgehen. In symmetrischen Beziehungen, insbesondere der Gleichaltrigenbeziehung, soll eine höhere Wahrscheinlichkeit bestehen, dass zwei Interaktionspartner die Lösung für ein Problem gemeinsam (ko-konstruktiv) erarbeiten. Der Prozess der Ko-Konstruktion fordere soziale Fähigkeiten und kognitive Eigenleistungen heraus, die in asymmetrischen Beziehungen nicht in gleicher Weise zum Tragen kämen. In asymmetrischen Beziehungen, etwa der Eltern-Kind-Beziehung, werde die gemeinsame Interaktion stärker durch den kompetenteren Interaktionspartner reguliert. Der weniger kompetente Interaktionspartner neige dazu, sich entsprechenden Verhaltensvorgaben unterzuordnen sowie Wissen und Ansichten unhinterfragt zu übernehmen.

Theoretiker, die in der Tradition Vygotskys stehen, nehmen dagegen an, dass Entwicklungsimpulse eher von Interaktionen mit überlegenen Interaktionspartnern ausgehen (z.B. Rogoff, 1990). Überlegene Interaktionspartner seien besser in der Lage als gleich kompetente, die gemeinsamen Interaktionen zu strukturieren und dabei Wissen und Fertigkeiten an den weniger kompetenten Interaktionspartner zu transferieren. Eine wichtige Rolle in Vygotskys Ansatz spielt das Konzept der Zone der nächsten Entwicklung. Dieses definiert die Differenz zwischen dem Entwicklungsstand, den ein Kind aktiv und selbständig zum Ausdruck bringen kann, und den Fertigkeiten und Kompetenzen, die sich in gemeinsamen Interaktionen mit einem kompetenteren Interaktionspartner zeigen. Gemäß der Theorie Vygotskys werden neu zu erlernende Fertigkeiten und neues Wissen zunächst auf der sozialen Ebene der gemeinsamen Interaktion aktiviert, bevor sie vom lernenden Individuum internalisiert werden.

Konsequenzen für Lernprozesse in Geschwisterbeziehungen

In einem Überblick über Studien zum kooperativen Lernen (Azmitia & Perlmutter, 1989) hat sich gezeigt, dass es für einen weniger kompetenten Interaktionspartner in der Regel vorteilhafter ist, mit einem kompetenteren Interaktionspartner zu kooperieren als mit einem gleich kompetenten. Allerdings führt die Interaktion mit einem kompetenteren Interaktionspartner nur dann zu einem besseren Erfolg, wenn dieser die Steuerung des kooperativen Prozesses auch tatsächlich übernimmt. Unter bestimmten Umständen können jedoch auch von einem gleich kompetenten Interaktionspartner positive Entwicklungsimpulse ausgehen, und zwar dann, wenn es durch die Interaktion zu einem kognitiven Konflikt bei den Beteiligten kommt, und diese ihn selbständig lösen können.

Bezieht man die Ergebnisse der Untersuchungen zum kooperativen Lernen auf Geschwisterbeziehungen, so wäre zu erwarten, dass positive Impulse in erster Linie von den kompetenteren älteren Geschwistern ausgehen. Die Geschwisterbeziehung würde demnach vor allem für die jüngeren Geschwister einen Lernkontext darstellen, und zwar einen Lernkontext, der umso förderlicher sein sollte, je größer der Altersabstand und damit der Entwicklungsvorsprung der älteren Geschwister gegenüber den jüngeren ist. Außerdem dürfte die Bereitschaft der älteren Geschwister, in den gemeinsamen Interaktionen lehrende, helfende und betreuende Funktionen zu übernehmen, eine Rolle spielen. Nicht ausgeschlossen ist darüber hinaus, dass auch von den jüngeren Geschwistern zwar geringere, aber ebenfalls positive Effekte auf die soziale und kognitive Entwicklung der älteren Geschwister ausgehen könnten.

Forschungsbefunde zu Geschwisterinteraktionen

In experimentellen Studien mit Geschwistern (McGillicuddy-de Lisi, 1993) konnte gezeigt werden, dass das Niveau der Kooperation mit einem älteren Geschwister höher liegt als das Niveau, das ein jüngeres Geschwister allein erzielt, und auch höher als das Niveau, das ein älteres Geschwister zusammen mit einem jüngeren Geschwister erreicht. Das Ergebnis wurde als Beleg dafür interpretiert, dass ältere Geschwister in der Lage sind, die Zone der nächsten Entwicklung von jüngeren Geschwistern zu aktivieren. Ältere Geschwister könnten demnach effektive Tutoren für jüngere Geschwister darstellen.

In Untersuchungen zum Einfluss der Geschwisterkonstellation sowie geschwisterlicher Kooperationen auf den Erfolg beim Lösen kognitiver Aufgaben (Cicirelli, 1975; 1976) hatten allein arbeitende Kinder mit älteren Brüdern bessere Lösungsstrategien zur Verfügung als allein arbeitende Kinder mit älteren Schwestern. Bei Kindern, die gemeinsam mit ihrem Geschwister arbeiteten, erwies sich nur die Hilfe durch ältere Schwestern als förderlich. Ältere Schwestern schienen demnach effektive Tutorinnen für jüngere Geschwister zu sein. Ältere Brüder dagegen wirkten offenbar allein durch ihr kompetitives Verhalten stimulierend auf die kognitive Entwicklung der jüngeren Geschwister. Unterstützung fand diese Interpretation noch dadurch, dass ältere Schwestern in der Kooperationssituation häufiger Erklärungen und Rückmeldungen an die jüngeren Geschwister gaben als ältere Brüder, und die jüngeren Geschwister die Hilfe der älteren Schwestern auch eher akzeptierten als die der älteren Brüder.

Als besonders effektiv erwiesen sich die Instruktionen älterer Geschwister mit größerem Altersabstand (4 Jahre im Vergleich zu 2 Jahren), und auch hier wieder besonders die der älteren Schwestern (Cicirelli, 1975; 1976). Im Vergleich mit Müttern zeigte sich, dass Mütter in der Kooperationssituation mehr Erklärungen und häufiger Rückmeldungen an die jüngeren Geschwister gaben als ältere Geschwister. Umgekehrt zeigten die jüngeren Geschwister stärker Hilfe suchendes und akzeptierendes Verhalten gegenüber den Müttern als gegenüber den älteren Geschwistern. Allerdings erwies sich das Verhalten der Mütter als abhängig vom Geschlecht des älteren Geschwisters. Mütter gaben dem jüngeren Geschwister eher Rückmeldungen, wenn das ältere Geschwister männlich war, als wenn es weiblich war (Cicirelli, 1975; 1976).

Interpretiert wurde dieser Befund dahingehend, dass Mütter beim Vorhandensein einer älteren Tochter offenbar einen Teil ihrer betreuenden und helfenden Funktion auf diese übertragen. Die Tochter lernt, diese Funktion kompetent zu erfüllen. Insgesamt schienen die mit den jeweiligen Rollen verbundenen Verhaltensweisen so verinnerlicht worden zu sein, dass sie sich in den Kooperationssituationen auch unabhängig von der Anwesenheit der Mutter bzw. des älteren Geschwisters zeigten.

Ähnliche geschlechtsspezifische Muster ergaben sich in einer isländischen Untersuchung (Schmid & Keller, 1998). Kinder mit einer älteren Schwester mit großem Altersabstand (mindestens 3 Jahre) wiesen sowohl höhere kognitive als auch höhere sozialkognitive Entwicklungsniveaus auf im Vergleich zu Kindern mit einem älteren Geschwister mit geringerem Altersabstand (unter 3 Jahren). Kinder mit einem älteren Bruder mit großem Altersabstand, Einzelkinder und älteste Kinder lagen zwischen den beiden genannten Gruppen.

In einer Untersuchungen zur Entwicklung des Verständnisses von Gefühlen und Handlungen anderer (Ruffman u. a., 1998), die mit Kindern im Kindergartenalter durchgeführt wurde, erwiesen sich sowohl Kinder mit einem älteren Geschwister, noch mehr aber Kinder mit mehreren älteren Geschwistern als weiter entwickelt im Vergleich zu Kindern ohne ältere Geschwister. Von jüngeren Geschwistern ging dagegen kein entwicklungsfördernder Effekt aus.

Die Bedeutung von lehrendem Verhalten für die kognitive Entwicklung

Vor dem Hintergrund der oben berichteten Befunde liegt die Vermutung nahe, dass jüngere Geschwister dadurch profitieren könnten, dass sie ein älteres Geschwister haben, das ihnen etwas beibringt und von dem sie etwas lernen können. Entgegen dieser Annahme verdichten sich jedoch die Hinweise, dass es eher umgekehrt die älteren Geschwister sind, die einen Entwicklungsvorteil haben. Ältere Geschwister scheinen dadurch zu profitieren, dass sie ein jüngeres Geschwister haben, dem sie etwas beibringen können (Schmid, eingereicht; Schmid & Wintersteller, eingereicht).

In Studien, die auf großen Datensätzen basieren (z.B. Schulleistungsstudien), zeigt sich regelmäßig, dass Erstgeborene aus Zweikindfamilien über höhere Kompetenzen verfügen als Erstgeborene aus Dreikindfamilien, und dass diese wiederum höhere Werte aufweisen als Erstgeborenen aus Vierkindfamilien. Zudem zeigt sich in allen Familiengrößen ein Abfall der Kompetenzwerte zwischen den Erst- und den Zweitgeborenen. Dieser Abfall fällt umso deutlicher aus, je höher das Testalter der Kinder ist. Mit zunehmender Familiengröße können die Kompetenzwerte der in der Geschwisterreihe später Geborenen dann wieder ansteigen; ein solcher Anstieg ist vor allem bei niedrigerem Testalter zu beobachten. Schließlich liegen die Kompetenzwerte von Einzelkindern, die ja sämtliche Ressourcen der Eltern für sich alleine haben, nicht, wie vor diesem Hintergrund erwartet werden könnte, über den Erstgeborenen aus Zweikindfamilien, sondern unter den Erstgeborenen aus Drei- oder Vierkindfamilien; die genaue Position ist auch hier abhängig vom Testalter.

Bereits in den 70er Jahren wurde ein Modell entwickelt, das diese Geschwisterpositionseffekte erklären kann – das so genannte “Konfluenzmodell” (Zajonc & Markus, 1975; Zajonc, 1976; Zajonc et al., 1991; Zajonc & Mullally, 1997; Sulloway, 2007). Dem Modell liegt die Annahme zugrunde, dass sich die intellektuellen Fähigkeiten eines Kindes in Abhängigkeit vom intellektuellen Niveau der gesamten Familie entwickeln. Das intellektuelle Gesamtniveau einer Familie setzt sich dabei aus den individuellen Niveaus aller Familienmitglieder zusammen und variiert demnach mit der Zahl der Kinder (je mehr Kinder, umso niedriger das Niveau) und mit deren Altersabständen (große Altersabstände wirken sich positiv aus). Bei durchschnittlichen Altersabständen ergibt sich für Kinder ein mit der Geschwisterzahl sinkendes, sowie ein mit dem Geburtsrangplatz wieder ansteigendes intellektuelles Gesamtniveau (letzteres lässt sich anhand mathematischer Simulationen zeigen) als Kontext der Entwicklung.

Bei der Überprüfung des Modells traten zwei Unregelmäßigkeiten auf, die mit den beschriebenen Annahmen nicht in Einklang zu bringen waren: Einzelkinder und jüngste Kinder wiesen niedrigere Kompetenzniveaus auf als erwartet. Diese Unregelmäßigkeiten, zusammen mit den Veränderungen des Musters bei steigendem Testalter, können durch den sogenannten „teaching effect” erklärt werden. Gemäß dem „teaching effect“ bilden lehrende Verhaltensweisen ein effektives Mittel, um die Entwicklung der eigenen Kompetenzen voranzutreiben. Einzelkindern und jüngsten Kinder fehlt die Möglichkeit, im Alltag solches Verhalten gegenüber jüngeren Geschwistern auszuüben, wodurch ihnen ein Entwicklungsnachteil erwächst. Umgekehrt scheinen besonders Erstgeborene durch solche Verhaltensweisen zu profitieren.

Nähe/Distanz in sozialen Beziehungen

Soziale Beziehungen bilden nicht nur Kontexte der Entwicklung, sondern dienen auch als Ressource, auf die bei Informationsbedarf und persönlichen Problemen zurückgegriffen werden kann (Hartup, 1985). In einer Untersuchung, die Kinder und Jugendliche im Alter zwischen 12 und 16 Jahren einbezog, gaben etwa 10 Prozent der Befragten an, dass sie sich bei Problemen oder Schwierigkeiten mit sich selbst oder mit anderen am ehesten an ein Geschwister wenden würden (Fend, 1998). Geschwister verbringen in der frühen Kindheit häufig mehr Zeit miteinander als mit den Eltern oder mit Gleichaltrigen (Dunn, 1983). Dadurch entwickelt sich eine enge Bindung und große Vertrautheit. Ab dem Schulalter wird dann zunehmend mehr Zeit mit Gleichaltrigen verbracht. Zu Beginn des Grundschulalters schätzen Kinder die Nähe zu ihren Eltern noch als höher ein als die zu Freunden und zu Geschwistern. Etwa ab der 5. Klasse nimmt im Zuge der Ablösung aus dem Elternhaus sowohl die Nähe zu den Eltern als auch die zu den Geschwistern ab, die Nähe zu den Freunden nimmt im Gegenzug zu (Buhrmester, 1992).

Nähe und Vertrautheit als entwicklungsrelevante Größe

Studien zur kooperativen Bearbeitung von Aufgaben zeigen, dass befreundete Gleichaltrige besser zusammenarbeiten als Gleichaltrige, die sich nicht kennen (Azmitia & Perlmutter, 1989). Offenbar sorgt eine schon länger bestehende Beziehung dafür, dass der in einer Kooperationssituation notwendige Verständigungsprozess leichter herzustellen ist, was letztlich zu einer effektiveren Aufgabenbearbeitung führt. Geschwister haben eine Interaktionsgeschichte, die noch länger ist als die von befreundeten Gleichaltrigen. Sie kennen ihre jeweiligen Stärken und Schwächen sehr gut. Tatsächlich erzielten Kinder in einer experimentell angelegten Untersuchung (Azmitia & Hesser, 1993) unter der Anleitung eines älteren Geschwisters bessere Ergebnisse als unter der Anleitung eines fremden älteren Kindes.

Die emotionale Qualität von Geschwisterbeziehungen

Inwieweit Geschwisterbeziehungen einen Lernkontext für Kinder und Jugendliche darstellen, dürfte neben der beschriebenen kognitiv-sozialen Qualität der Beziehung auch von deren emotionaler Beschaffenheit abhängen. In einer emotional positiv getönten Geschwisterbeziehung sollte die Vertrautheit mit den Stärken und Schwächen des anderen ausgeprägter und die Wahrscheinlichkeit des Auftretens von positiven asymmetrischen (lehren, helfen, betreuen) wie symmetrischen Verhaltensweisen (kooperieren) höher sein. Die emotionale Qualität der Geschwisterbeziehung wiederum scheint sowohl von der Geschwisterkonstellation als auch vom Erziehungsverhalten der Eltern und den Temperamentsunterschieden der Kinder beeinflusst zu werden.

Untersuchungen von Buhrmester und Furman (1990) haben gezeigt, dass die Intimität von Geschwisterbeziehungen in weiblichen Konstellationen größer ist als in männlichen oder gemischtgeschlechtlichen. Zwei weibliche Geschwister verbringen außerdem mehr Zeit miteinander und fühlen sich ihrem Geschwister ähnlicher als Geschwister in anderen Konstellationen. Intimität und Zuneigung werden zudem eher gegenüber älteren Schwestern als gegenüber älteren Brüdern empfunden und entsprechend werden von älteren Schwestern mehr prosoziale Verhaltensweisen berichtet.

Die Intimität von Geschwisterbeziehungen ist darüber hinaus bei geringen Altersabständen (weniger als 4 Jahre) größer als bei größeren Altersabständen (4 Jahre und mehr), allerdings treten dann auch häufiger Konflikte und Rivalitäten auf (Buhrmester & Furman, 1990). Zuneigung gegenüber dem Geschwister wird deshalb häufiger bei größeren Altersabständen berichtet und entsprechend treten bei größeren Altersabständen auch häufiger prosoziale Verhaltensweisen auf.

Schließlich wird die Geschwisterbeziehung von jüngeren und älteren Geschwistern unterschiedlich wahrgenommen: Jüngere Geschwister empfinden mehr Intimität in der Geschwisterbeziehung als ältere Geschwister und ältere Geschwister berichten häufiger über Konflikte als jüngere Geschwister.

Temperamentsunterschiede zwischen den Geschwistern fördern das Auftreten von Konflikten (Brody, 1998). Dabei scheint es entscheidend zu sein, welches der beiden Geschwister das „schwierigere” Temperament hat. Ein schwieriges Temperament zeichnet sich durch niedrige Ausdauer und Beharrlichkeit, durch ein hohes Aktivitätsniveau und den ungehemmten Ausdruck von Frustrationen und Wut aus. Ein verständnisvolles, anpassungsfähigeres älteres Geschwister kann im Falle eines schwierigen jüngeren Geschwisters offenbar für Ausgleich sorgen. Dies scheint umgekehrt einem jüngeren Geschwister mit einem schwierigen älteren Geschwister nicht zu gelingen.

Positive Verhaltensweisen der Eltern gegenüber den Kindern fördern positives Verhalten in der Geschwisterbeziehung. Insbesondere Gespräche der Mutter mit ihrem älteren Kind über die Bedürfnisse und Gefühle des jüngeren Geschwisters hängen positiv mit der Zuwendung zusammen, die das ältere Geschwister auf das jüngere richtet (Brody, 1998). Bis zu einem gewissen Grad ist es aufgrund der verschiedenen Bedürfnislagen unterschiedlich weit entwickelter Kinder unerlässlich, dass die Eltern den jüngeren Kindern mehr Aufmerksamkeit schenken als den älteren. Eltern, die ihre Kinder über dieses notwendige Maß hinaus ungleich behandeln, fördern jedoch Rivalitäten unter den Geschwistern, wodurch es zu Verhaltensproblemen kommen kann (Dunn, 1992).

Eine Ungleichbehandlung der Kinder entsteht häufig im Kontext elterlicher Beziehungsprobleme, die sich sowohl auf indirekte Weise als auch auf direktem Wege negativ auf die Geschwisterbeziehung auswirken können (Brody, 1998). Bei Beziehungsproblemen der Eltern oder auch bei gesundheitlichen Problemen eines Elternteils können ältere Geschwister jedoch auch eine puffernde Funktion für das Wohlbefinden und die Entwicklung des jüngeren Geschwisters haben. In Fällen, in denen Eltern ihre Betreuungsfunktion nur unvollständig wahrnehmen, wird diese Rolle nicht selten von einem älteren Geschwister übernommen. Bei hohem zeitlichem Aufwand kann sich dies für das ältere Geschwister negativ auf dessen Schulnoten auswirken (Brody, 2004).

Freiwilligkeit/Unfreiwilligkeit der Beziehung

Die dritte Dimension, anhand der sich Geschwisterbeziehungen von anderen Beziehungen unterscheiden, betrifft die Unfreiwilligkeit der Beziehung. Gleichaltrigenbeziehungen variieren im Grad der Freiwilligkeit; es gibt Gleichaltrigenbeziehungen, die durch institutionelle Kontexte wie die Schule oder Sportvereine mitgetragen werden, andere, wie enge Freundschaften, sind in der Regel selbst gewählt. Im Unterschied zu Freundschaften kann man sich weder die eigenen Eltern noch die Geschwister aussuchen. In beide Beziehungen wird man hineingeboren. Dieser Umstand sorgt dafür, dass in Geschwisterbeziehungen Persönlichkeiten aufeinander treffen, die sehr verschieden sein können.

Zusätzlich führen die Phänomene der De-Identifikation und der nicht geteilten Umwelt dazu, dass sich Geschwister selten gleich entwickeln (Dunn & Plomin, 1996; vgl. auch Kasten, 1994). Geschwister sind sich sehr viel unähnlicher als vor dem Hintergrund von durchschnittlich 50 Prozent gleicher Gene zu erwarten wäre. Offenbar sorgt die Rivalität in Geschwisterbeziehungen dafür, dass jedes Geschwister seine Eigenheiten entwickelt und bestrebt ist, eine “ökologische Nische” innerhalb der Familie zu besetzen.

Nicht nur die Rivalität der Geschwister, auch deren unterschiedliche Persönlichkeiten tragen zu einem höheren Konfliktniveau in Geschwisterbeziehungen im Vergleich zu anderen sozialen Beziehungen bei. Da Geschwisterbeziehung außerdem unabhängig vom Wollen und Handeln der beteiligten Personen fortbestehen, sind sie durch die offene Austragung von Konflikten weniger gefährdet als beispielsweise Freundschaftsbeziehung. Untersuchungen zum sozialen Netzwerk von Kindern und Jugendlichen (Buhrmester, 1992) zeigen, dass Geschwisterbeziehungen während des Grundschulalters ein sehr viel höheres Konfliktniveau aufweisen als alle anderen sozialen Beziehungen. Mit abnehmender Intensität der Geschwisterbeziehung im Jugendalter nehmen jedoch auch die Konflikte ab. Im frühen Erwachsenenalter liegen die Konflikte in den Geschwisterbeziehungen etwa auf demselben Niveau wie in den Eltern-Kind- und den ersten Partnerschaftsbeziehungen, jedoch immer noch höher als in den engen gleichgeschlechtlichen Freundschaftsbeziehungen

Die Rolle von Konflikten für die soziale und kognitive Entwicklung

Konflikte in der Geschwisterbeziehung bilden nicht einfach nur den Gegenpol zu Nähe und enger Bindung, vielmehr geht häufig beides miteinander einher. Je intensiver die Geschwisterbeziehung ist, desto häufiger treten Konflikte auf. Konflikte in Geschwisterbeziehungen entfalten dabei eine ganz eigene Qualität für die soziale und kognitive Entwicklung von Kindern und Jugendlichen. Die Studien zur Entwicklung des Verständnisses von Gefühlen und Handlungsweisen anderer (Dunn, 1999) haben gezeigt, dass sowohl kooperatives Spielen als auch das Aushandeln von Konflikten die entsprechenden Fähigkeiten fördert.

Konflikte in Geschwisterbeziehungen führen, im Gegensatz zu Konflikten in Freundschaftsbeziehungen, dazu, dass häufiger, statt seltener, Argumente ausgetauscht werden (Dunn, 1999). Studien, in denen die Qualität von Geschwisterbeziehungen mit derjenigen von Freundschaftsbeziehungen verglichen wurde, haben gezeigt, dass Kinder, die häufiger Konflikte mit ihren Geschwistern austrugen, positivere Freundschaftsbeziehungen pflegten (Brody, 1998). Offenbar lernen Kinder in der Geschwisterbeziehung Konfliktlösungsstrategien, die es ihnen erleichtern, Freundschaftsbeziehungen aufrecht zu erhalten.

Auf der anderen Seite gibt es aber auch Studien (deHart, 1999), die zeigen, dass Konflikte in der Geschwisterbeziehung anders gelöst werden als in Freundschaftsbeziehungen, nämlich seltener durch Aushandlung und Kompromiss und häufiger über dominantes Durchsetzen, durch Rückzug und durch das Heranziehen der Hilfe Dritter (vor allem die der Mutter). Zudem ist noch weitgehend ungeklärt, ob das Erlernen von Konfliktlösungsstrategien direkt durch die Interaktion mit dem Geschwister erfolgt, oder ob nicht vielmehr das häufigere Eingreifen und Streitschlichten der Mutter der eigentliche Faktor für den Lernprozess ist. Geschwisterliche Streitsituationen bilden für Mütter häufig den Anlass, die Verhaltensweisen anderer sowie soziale Regeln zu erklären (Dunn u. a., 1991; Ruffman u. a., 1998).

Resümee

Die Geschwisterbeziehung bildet aufgrund ihrer besonderen Struktur für Kinder und Jugendliche einen Lernkontext, der ganz eigene Qualitäten aufweist. Die Erfahrungen, die Kinder und Jugendliche in der Geschwisterbeziehung machen, differieren dabei erheblich in Abhängigkeit von der Geschwisterposition, also der Frage, ob man ein älteres oder ein jüngeres Geschwister (oder beides) hat, sowie in Abhängigkeit von den Altersabständen. Größere Altersabstände wirken sich positiv auf die kognitive Qualität der Geschwisterbeziehung aus (Cicirelli, 1994).

Neben der kognitiven Qualität dürfte die emotionale Qualität der Geschwisterbeziehung für die soziale und kognitive Entwicklung von Kindern und Jugendlichen eine Rolle spielen, denn von dieser hängt es ab, wie häufig und auf welche Art (unterstützend oder antagonistisch) die Geschwister miteinander interagieren. Die emotionale Qualität der Geschwisterbeziehung wird ebenfalls durch die Geschwisterposition und die Altersabstände beeinflusst, vor allem aber auch durch die Geschlechterkonstellation, durch das Temperament der Kinder und durch das elterliche Verhalten.

Die in Geschwisterbeziehungen erworbenen Fähigkeiten und Verhaltensweisen haben Auswirkungen auf das spätere Leben. Das zeigt beispielsweise die Untersuchung von Toman (2002), in der dargelegt wird, wie Verhaltensweisen, die auf die eigene Geschwisterkonstellation zurückzuführen sind, später in der Partnerschaftsbeziehung aufs Neue zum Tragen kommen. Geschwisterbeziehungen bilden zudem ein lebenslanges Band, das auch im hohen Alter noch eine wichtige, unterstützende Funktion einnehmen kann (Cicirelli, 1994).

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Autorin

Die Autorin ist Professorin am Fachbereich Erziehungswissenschaft der Universität Salzburg. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen im Bereich der Sozialisation (Eltern, Gleichaltrige und Geschwister, politische Sozialisation, Moral- und Werteentwicklung) und der empirischen Bildungsforschung (soziale Ungleichheiten, überfachliche Kompetenzen, kooperatives Lernen).

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Erstellt am 7. Februar 2014