Die Geburt der Geschwisterliebe
Prof. Dr. med. Horst Petri
Geschwisterbeziehungen haben kein gutes Image. Auch die Wissenschaft hat sie lange vernachlässigt; in der Diskussion stehen vor allem ihre negativen Gefühlsanteile. Horst Petri konzentriert sich in seiner Darstellung auf die tragenden Kräfte der Geschwisterbeziehung, wenn er ihre Entwicklung von den frühesten Phasen bis in die Pubertät nachzeichnet.
In der Märchensammlung der Brüder Grimm gibt es eine ganze Reihe von Märchen, die die Geschwisterliebe feiern. Wir kennen sie alle: „Hänsel und Gretel“, „Brüderchen und Schwesterchen“, „Die drei Brüder“, „Schneeweißchen und Rosenrot“ und viele andere. In ihnen beschützen sich Geschwister gegenseitig, sorgen sich umeinander, bestehen gemeinsame Abenteuer. Ihre Liebe ist das unverbrüchliche Band, das sie zusammenhält und das Leben meistern lässt.
Drücken alle diese Märchen nur eine kollektive Wunschvorstellung und Sehnsucht aus, die in der Regel an der Realität scheitern? Geschwisterliebe, gibt es das überhaupt? Zeigen uns die Bruderdramen von der griechischen Mythologie, über das Alte Testament bis zu Shakespeares „Richard dem Dritten“ nicht das wahre Antlitz einer von Rivalität, Eifersucht, Neid und tödlichem Hass geprägten Geschwisterbeziehung? In unserem Jahrhundert haben die Psychologie und besonders die Psychoanalyse ihr übriges zu dem vorwiegend negativen Bild über Geschwister beigetragen, indem sie ihre therapeutischen Erfahrungen aus pathologischen Familienstrukturen auf die Allgemeinheit übertrugen. Um diese Verzerrungen aufzuheben, die heute im wissenschaftlichen und öffentlichen Bewusstsein vorherrschen, will ich das negative Bild vernachlässigen, das die Geschwisterbeziehung umgibt, um die positiven und tragenden Kräfte dieser längsten Beziehung unseres Lebens unvoreingenommener wiederentdecken zu können.
Die Vorläufer der Geschwisterliebe setzen lange vor der Geburt des Geschwisters ein. Vielleicht ist der Wunsch nach einem Geschwister der Anfang oder das wohlige Gefühl, auf dem dicken Bauch der Mutter herumzukrabbeln. Sie hält den Kopf des Kindes an ihren Bauch – “Hörst Du sein Herz schlagen?” – sie legt seine Hand an die Stelle, wo sich der Fötus gerade streckt – „Das ist sein Füßchen“. Ein Naturereignis geschieht, und das Kind nimmt daran teil.
Diese vorgeburtliche Beziehung als Vorläufer der Geschwisterliebe beruht zum einen auf der Identifizierung mit der Liebe der Mutter zu ihrem ungeborenen Kind, zum anderen aber auch auf einer selbständigen Objektbindung an das hörbare und tastbare Wesen in ihrem Bauch.
Durch Untersuchungen der pränatalen Psychologie ist seit längerem bekannt, dss die Mutter-Kind-Beziehung nicht erst mit der Geburt beginnt, sondern in die früheste Zeit der Schwangerschaft zurückreicht. Von der Befruchtung an bilden der Embryo und die Mutter eine psycho-biologische Einheit. Diese Erkenntnis lässt sich erweitern, wenn man die Familie als ein System betrachtet, in dem die Gefühlsbindungen durch die Anzahl seiner Teilnehmer bestimmt werden. Jede Schwangerschaft bedeutet eine Erweiterung des Systems, die eine Neudefinition seiner Regeln zur Folge hat. Es ist daher nicht erstaunlich, dass auch Väter durch die Schwangerschaft oft tiefgreifende Gefühlsveränderungen durchmachen, in die das erwartete Kind eingebunden wird.
Warum sollten bereits vorhandene Kinder von diesem Prozess ausgenommen sein? Sie spüren nicht nur, dass sich mit der Schwangerschaft die Gefühlsstrukturen in der Familie verändern, sondern reagieren als Teil des Systems ebenfalls mit einer emotionalen Neuorientierung. Auch wenn die Beziehung zwischen Kindern und ihren noch ungeborenen Geschwistern bisher unerforscht ist, dürfte bei der Neuorientierung eine positive Gefühlseinstellung vorherrschen, weil einschneidende Benachteiligungen durch die Eltern oder Konflikte mit dem Geschwister erst nach dessen Geburt zu erwarten sind. Eine konfliktfreie, unambivalente Haltung ist besonders unter der Bedingung eines gut funktionierenden Systems, das heißt bei einer überwiegend liebevollen Familienatmosphäre, anzunehmen. Wenn das Kind sich selbst geliebt fühlt, verfügt es über genügend libidinöse Energie, die es auf den Neuankömmling übertragen kann.
Keine Katastrophe
So vorbereitet, ist die Geburt, wie oft angenommen wird, keine Katastrophe, sondern ein mit Spannung erwartetes und lang ersehntes Ereignis. Das Baby ist nicht nur ein Geschenk für Mutter und Vater, sondern auch für das größere Kind. Die vorgeburtlichen Bindungen nehmen jetzt Konturen an. Das Baby ist wilde Natur. Es schreit ungehemmt, wenn es Hunger hat, saugt gierig an der Brust der Mutter, schläft danach selig ein, pinkelt und kackt zu jeder Tages- und Nachtzeit, strampelt wie wild mit Armen und Beinen, besonders wenn es nackt ist, später jauchzt es laut vor Freude, wenn es Mutter, Vater und Geschwister sieht. Ganz unzivilisiert das Ganze, ganz unerzogen. Herrlich!
Es ist merkwürdig, dass die Nähe, Verbundenheit und innere Verwandtschaft des Kindes zu solcher Form ursprünglicher Natur, wie sie ihm von seinem jüngsten Geschwister vorgelebt wird, bisher nicht gesehen wurde. Freud hat eine einleuchtende Erklärung für die Liebe von Kindern zu Tiere gefunden:
Das Verhältnis des Kindes zum Tiere hat viel Ähnlichkeit mit dem des Primitiven zum Tiere. Das Kind zeigt noch keine Spur von jenem Hochmut, welcher dann den erwachsenen Kulturmenschen bewegt, seine eigene Natur durch eine scharfe Grenzlinie von allem anderen Animalischen abzusetzen. Es gesteht dem Tiere ohne Bedenken die volle Ebenbürtigkeit zu; im ungehemmten Bekennen zu seinen Bedürfnissen fühlt es sich wohl dem Tiere verwandter als dem ihm wahrscheinlich rätselhaften Erwachsenen (1).
Wilde Natur
Und das jüngste Geschwister, das Baby? Es zeigt die gleiche animalische Freiheit und ungehemmte Durchsetzung seiner Bedürfnisse wie die Tiere. Fr ein Kind, das die ersten Sporen der Kultur aufgedrückt bekommen hat, wird das Baby zum Spiegel seiner zum Teil bereits aufgegebenen primären Natur. Indem es sich mit dem Baby identifiziert, befriedigt es regressiv eigene Triebwünsche und narzisstische Bedürfnisse. Die geläufige Beobachtung, dass ältere Kinder nach der Geburt eines Geschwisters erneut säuglingshaftes Verhalten annehmen (Nuckelflasche, ins Bett macht und dergleichen), wird häufig als pathologischer Rückfall auf eine frühere Entwicklungsstufe gedeutet. Wie aber, wenn beide nur eine primäre Naturverbundenheit eint?
Während Freud die Naturnähe des Kindes zu Tiere betont, beschreibt Herman Grimm in seiner Einleitung zu den Märchen der Brüder Grimm sehr anschaulich die Beziehung von Kindern zur weiteren Natur:
Es liegt in den Kindern aller Zeiten und aller Völker ein gemeinsames Verhalten der Natur gegenüber: sie sehen alles als gleichmäßig belebt an. Wälder und Berge, Feuer und Sterne, Flüsse und Quellen, Regen und Wind reden und hegen guten und bösen Willen und mischen sich in die menschlichen Schicksale ein (2).
Auch ein Baby ist für ein Kind noch Teil einer solchen ganzheitlichen erfassten Natur. Es redet nicht, es läuft nicht, man kann nichts Eigentliches mit ihm anfangen, noch entbehrt es jeglicher Zivilisation. Aber es ist „belebt“. Wenn man Kleinkinder im Kontakt mit Säuglingen beobachtet, finden sich viele Ähnlichkeiten zu ihrem Umgang mit Tieren und anderer Natur. Mit verklärtem Blick streicheln sie sie, sie singen ihnen leise ein Lied vor, um sie nicht zu erschrecken, sie sprechen besonders sanft mit ihnen, als wenn Babys, Tieren und Pflanzen die Sprache der Sanftheit gemeinsam wäre, sie bieten ihnen Blümchen an – Geschenke der Liebe in einem eigenen kleinen Kosmos.
Nachahmung?
Wenn Erwachsene unbemerkt solche Szenen beobachten, finden sie sie „rührend“. Sie werden von der Versunkenheit angerührt, mit der sich Kinder ihrer Liebe hingeben. Die verbreitete Lehrmeinung ist, dass solche Liebe auf Identifikation mit der Mutter oder auf Nachahmung beruht, die letztlich dazu dienen, die destruktiven Impulse gegen das Geschwister abzuwehren und sich durch das erwünschte Verhalten die Liebe der Eltern zu sichern. Ich halte es für wahrscheinlicher, dass diese Mechanismen erst zu einem späteren Zeitpunkt zum Tragen kommen, dann nämlich, wenn eine reale oder nur eingebildete Benachteiligung durch die Eltern wegen der wachsenden Ansprüche des Säuglings befürchtet wird oder die expansive Entwicklung des Geschwisters zu unvermeidbaren Konflikten führt. Im frühen Stadium nach der Geburt dürfte dagegen die Beziehung überwiegend auf einem autonomen Vorgang der Objektbindung basieren, bei dem es zu einer einzigartigen Wiederbegegnung des Kindes mit seiner primären Natur kommt. Nachdem sich in der Vorgeburtsphase die erste Bindung als Vorläufer der Geschwisterliebe entwickelt hatte, erzeugt der Säugling bei seinem älteren Geschwister eine Liebe im Sinne narzisstischer Verschmelzungswünsche. Aus diesen beiden Kernen – der Vorläufer der Objektliebe und der narzisstischen Besetzung des Objektes im frühesten Stadium der Geschwisterbeziehung – entwickelt sich unter günstigen Bedingungen die spätere und reife Geschwisterliebe.
Der dargestellte Zusammenhang lässt sich durch Ergebnisse einer Studie des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung, Berlin, belegen (3). In einer Langzeituntersuchung über einen Zeitraum von zwei Jahren wurden 16 Familien beobachtet, die zu Beginn der Studie ihr zweites Kind bekamen. Die Entwicklung der Geschwisterbeziehung wurde in drei Phasen eingeteilt: 1. bis 9. Monat, 9. bis 18. Monat, 18. bis 24. Monat. Für alle drei Phasen wurde durch Direktbeobachtungen untersucht, wie sich das Verhältnis von positivem und negativem Verhalten des älteren Kindes gegenüber dem zweiten im Laufe der zwei Jahre verändert. Dabei zeigte sich, dass sich in den ersten neun Monaten die älteren Kinder durchschnittlich dreißigmal häufiger positiv als negativ den Säuglingen zuwandten, und dass auch in den weiteren Zeitabschnitten bis zum zweiten Lebensjahr die positiven Reaktionen die negativen deutlich übertrafen.
Diese Befunde sind so auffallend, dass sie sich nach aller Wahrscheinlichkeit nicht allein auf das von den Eltern erwünschte Verhalten zurückführen lassen, sondern auf den eigenständigen Beziehungsanteil zwischen den Geschwistern im Sinne einer primären Liebe.
Ich halte die Annahme von einer frühen Geschwisterliebe als einem selbständigen Prozess der Objektfindung für außerordentlich bedeutsam, weil dadurch die Verbindung der Geschwister auch als vom mütterlichen Einfluss unabhängig gedacht werden kann. Eine Liebe, die nur auf Identifizierung oder Nachahmung beruht, ist durch ihre Fremdbestimmung flüchtiger und anfälliger für Irritationen jeder Art. Dagegen bildet eine selbstbestimmte Liebe ein stabileres Fundament, um spätere Belastungen besser zu ertragen.
Wie wichtig die theoretische Ableitung für die Praxis ist, dürfte sich besonders in Grenzsituationen erweisen, in denen Identifikation und Nachahmung erschwert oder verunmöglicht werden, zum Beispiel bei Müttern, die ihre Kinder nicht lieben können oder sogar offen ablehnen, oder die durch Tod, schwere Krankheit und andere Formen der Trennung die Kinder in der Frühphase ihrer Geschwisterbindung allein lassen. In diesen Fällen müsste man, dem gängigen theoretischen Konzept zu Folge, davon ausgehen, dass es zu einer frühen und tiefgreifenden Entfremdung zwischen den Geschwistern kommt. Dies scheint jedoch in der Praxis nicht zwangsläufig der Fall zu sein.
Symbolisch verdichtet liefern die Märchen „Hänsel und Gretel“ und „Brüderchen und Schwesterchen“ zwei anschauliche Beispiele für diesen Zusammenhang. Beide Geschwisterpaare fliehen vor Müttern, die sich bei genauerer Analyse der Märchen als von frühester Zeit an als liebes- und beziehungsunfähig erweisen. Die Geschwister besitzen nichts als ihre gegenseitige und autonome Liebe – ein Urvertrauen, das ihnen die Kraft gibt, einander helfend die gefährlichen Entwicklungsschritte ihrer Kindheit gemeinsam zu bewältigen.
In beiden Märchen wird nicht angegeben, wer das ältere oder jüngere der Geschwister ist. Alle Kinder sind in vergleichbarer Weise lebenstüchtig und ihre Geschwisterliebe ist gleich stark ausgeprägt. So können sie wechselseitig die Rollen einnehmen, die sie zur Rettung des anderen aus einer Gefahrensituation benötigen.
Dieser Hinweis ist wichtig, weil bisher offen blieb, wie denn der von seinem Geschwister geliebte Säugling seinerseits eine Objektliebe entwickelt. Durch zahlreiche Anlässe kann das Baby schon im frühen Stadium seiner Objektdifferenzierung das Geschwister als eigenständiges und liebevolles Objekt wahrnehmen. Je nach Alter gibt das ältere Kind dem jüngeren die Flasche, wiegt es in seinen Armen, trägt es herum, schaukelt es und versucht durch allerlei Späße, das Baby zum Lachen zu bringen. Es verbringt gewöhnlich mehr Zeit in seiner Nähe als die Eltern, beide schlafen meistens in einem gemeinsamen Zimmer. Für das Baby bekommt auf diese Weise das Geschwister eine Allgegenwart und spezifische Merkmale, die spätestens ab dem dritten Monat eine Unterscheidung zwischen Mutter, Vater und Geschwister möglich machen. In der psychologischen Literatur spielte bisher die Mutter die zentrale Figur als erstes und nahezu ausschließliches Liebesobjekt im frühen Säuglingsalter. Erst die neuere Geschwisterforschung zeigt, dass hier eine Ergänzung notwendig ist, um den Ursprung der Geschwisterliebe besser zu verstehen.
Kompetenz des älteren Geschwisters
Das Kleinkind besitzt für den Säugling eine enorme Kompetenz bezüglich aller seiner bereits entwickelten Fertigkeiten. Außerdem unterscheidet es sich durch eine Fülle von Merkmalen, Tätigkeiten und Beziehungsformen von den Eltern. Nach der komplexen Wahrnehmungs- und Differenzierungsfähigkeit junger Säuglinge, wie sie erst die neuere Säuglingsforschung entdeckt hat, ist daher die Annahme naheliegend, dass es auch von Seiten des Säuglings bereits in den ersten Monaten zu einer spezifisch geprägten Objektliebe zu dem älteren Geschwister kommt. Er spiegelt sich nicht nur „im Glanz des Auges der Mutter“, sondern auch im Lächeln des Geschwisters, in seiner Umarmung, in seiner Zärtlichkeit und Fürsorge. Diese narzisstische Widerspiegelung ist die notwendige Voraussetzung, um das Geschwister als Liebesobjekt in sich aufnehmen zu können. Wie die Mutter, so wird auch das Geschwister nicht nur zu einem guten äußeren, sondern auch zu einem guten inneren Objekt, das zum Aufbau und zur Stabilität eines eigenen Selbst für die heranwachsenden Säugling von zentraler Bedeutung ist.
Die bereits zitierte Geschwisterstudie des Max-Planck-Instituts liefert diesbezüglich einige wichtige Hinweise. In der Untersuchung wurden nicht nur die Verhaltensweisen des älteren zu dem jüngeren Geschwister untersucht, sondern auch umgekehrt. Dabei zeigte sich, dass auch die jüngeren sich den älteren Geschwistern sehr viel häufiger positiv als negativ zuwandten. Dies betrifft vor allem die Zeit um das erste Lebensjahr. Wenn man das positive Verhalten als Ausdruck der Geschwisterliebe auffasst, zeigt sich insgesamt eine enge Wechselseitigkeit zwischen den Geschwistern, die in die früheste Zeit ihrer Beziehung zurückreicht.
Fiktives Paar
Nachdem sich in der Vorgeburtsphase und in den ersten Monaten nach der Geburt die ersten Kerne der Geschwisterliebe gebildet haben, findet in der folgenden Zeit eine Ausdifferenzierung statt, bei der die Geschwisterliebe immer reifere Formen annimmt. Mehr als alle Theorie kann uns die konkrete Anschauung die subtilen Vorgänge verdeutlichen, die diesen Reifungsprozess gestalten. Dazu soll ein fiktives Geschwisterpaar dienen, dessen Entwicklung wir eine Zeitlang begleiten wollen.
Das ältere Kind nennen wir Klaus, das jüngere Lisa. Die Wahl eines Bruder-Schwester-Paares erleichtert die Beschreibung geschlechtstypischer Entwicklungsmerkmale. Lisa hat sitzen und stehen gelernt und macht die ersten unbeholfenen Gehversuche. Immer wieder fällt sie hin, Klaus, er ist jetzt drei Jahre alt, hebt sie auf, stützt sie, wenn sie schwankt, nimmt ihre Hand und geht mit ihr bis zum nächsten Stuhl. Dort kann sie sich ausruhen. Sie lässt sich hinplumpsen, hat noch zu wenig Kraft. Aber spielen, das will sie. Sie jauchzt, wenn Klaus ihr einen Ball zwischen die Beine rollt, sie nimmt den Teddybär in die Arme, den er ihr hinhält, schaut Klaus zu, wie er bunte Bauklötze aufeinander türmt, um sie dann wieder mit Gejohle umzustürzen. Dann springt er auf das Sofa, holt einen Apfel vom Tisch, Lisa greift danach und versucht angestrengt, daran herumzulutschen. Klaus beißt ein kleines Stück ab und schiebt es Lisa in den Mund. Sie haben viel Zeit zusammen. Die Mutter ist sehr beschäftigt, und der Vater kommt meistens erst, wenn beide Kinder bereits im Bett liegen.
Zwei Kinder bei der schrittweisen Eroberung der Welt. Klaus lässt Lisa nur wenig allein. Wenn die Mutter sie füttert, steht er dabei, schaut zu, manchmal darf er Lisa auch selbst füttern. Mittags, wenn Lisa schläft, geht er leise ins Zimmer, um zu sehen, ob sie schon wach ist; er will mit ihr spielen. Inzwischen hat er auch gelernt, wie man Lisa wickelt; es klappt noch nicht so ganz, aber helfen darf er. Nachts liegen sie in ihren Betten, ganz nah beieinander; Lisa brabbelt vor sich hin, und Klaus versucht ihr zu erklären, warum ein Hase zu lange Ohren hat. Er ist der erste, der hört, wenn Lisa nachts weint. Er rennt zu den Eltern: „Lisa weint!“
Für Kinder dieses Alters ist dies eine unendlich gedehnte Zeit der Gemeinsamkeit. Dabei spielt die ständige Wiederholung aller Tätigkeiten eine wichtige Rolle, sie festigt die Engramme liebevoller Zweisamkeit. Schrittweise beginnt jedes der Kinder, sich aus der ursprünglichen Verschmelzung zu lösen, sein eigenes Ich weiter zu differenzieren und durch Abgrenzung das Ich des anderen stärker wahrzunehmen.
Die vorsprachliche Verständigung geht jetzt fließend in eine gemeinsame Sprachfindung über, die den Erwachsenen unzugänglich ist. Sie lachen über jeden Unsinn, vieles wird ihnen zum Witz. Der Reichtum kindgemäßer Erfahrungen, der Austausch eines breiten Spektrums an Emotionen und Körperkontakt und die faszinierte Beobachtung aller Körpervorgänge, von der Nahrungsaufnahme bis zur Ausscheidung von Urin und Kot, bilden eine komplexe Struktur wechselseitiger Bezogenheit, die sich grundlegend von der Mutter-Kind-Beziehung unterscheidet. Die Kinder schaffen sich eine eigene Welt aus Realität und Phantasie, in der nur sie zu Hause sind. Für die Erfüllung bestimmter Bedürfnisse ist die Mutter unentbehrlich, aber ihre ständige Anwesenheit würde nur stören.
Frühe Kindheit
Inzwischen ist Lisa ein „richtiges“ Mädchen geworden und Klaus ein „richtiger“ Junge. Die Sprachwendung bezeichnet wohl am ehesten die jetzt definitive Geschlechtszugehörigkeit der Kinder. Ihr eigenes Gefühl für ihre unterschiedliche Identität ist sowohl das Ergebnis einer veränderten Körperwahrnehmung wie auch der entsprechenden Rollenzuschreibung und Rollenerwartung durch die Eltern.
Die ersten drei gemeinsamen Lebensjahre der Kinder verliefen ohne besondere Komplikationen. Lisa spricht jetzt fließend und rennt wie ein Wiesel; die Sprache und die Motorik ihres Bruders haben sie wesentlich angespornt. Ihre gemeinsamen Spiele werden phantasievoller. Sie bauen sich Höhlen unter dem Tisch, malen mit Fingerfarben ihre Tapeten voll, springen von Stuhl zu Stuhl, klettern auf die Schränke, balancieren über die Bettkante und übertreffen sich gegenseitig in der Erfindung immer anderer Zirkusnummern. Der Stolz über ihre neuerlernten Fähigkeiten wächst mit der Bestätigung und Bewunderung des anderen. Noch brauchen Sie diese wechselseitige narzisstische Spiegelung und können sie sich unbekümmert zeigen. Trotz der bereits erfolgten Differenzierung in zwei selbständige Ich-Strukturen bildet der Narzissmus noch einen wichtigen Bestandteil ihrer Liebe.
Kaleidoskop der Welt
Seit einiger Zeit ist die Wohnung für Lisa und Klaus zu eng geworden. Die Eroberung der Außenwelt hat begonnen. Straßen, Plätze, Menschenmassen, der Lärm der Stadt, der erste Kontakt mit anderen Kindern, das Spielen und Zanken mit ihnen, das Leben der Tiere im Zoo – das bunte Kaleidoskop der Welt beginnt sich um sie zu drehen. Sie schützen einander vor Gefahren, vor vorbeifahrenden Autos, vor zu hohen Mauern, vor Stacheldrahtzäunen, vor keifenden Erwachsenen. In einer Sandkiste verteidigt Klaus Lisas Spielzeug, schreit einen Jungen an, der sie schubsen will. Aber auch Lisa ist nicht auf den Mund gefallen; wenn jemand sich mit Klaus anlegt, kann sie schimpfen wie ein Rohrspatz. Und sie lachen: über die nackte Schaufensterpuppe in einem Kaufhaus, über den Mann, der freihändig Fahrrad fährt, den komischen Hut einer Frau, den winzigen Hund, der an eine Laterne pinkelt. Das wirkliche Abenteuer des Lebens hat begonnen und die beiden stehen mittendrin. Viel Angst haben sie nicht dabei, sie sind ja zu zweit. Aber natürlich ist es schöner, wenn ihnen die Eltern dabei helfen, wenn ihre Liebe sie zusätzlich trägt. Dadurch bekommen sie ein Selbstvertrauen, mit dem sie nicht nur selbst Notsituationen bestehen, sondern das Böse auch von anderen abwenden können.
Bei beiden Geschwistern wächst langsam das Gefühl sozialer Verantwortung. Gemeinsam füttern und versorgen sie ihr Meerschweinchen, sie versuchen, einen Vogel gesund zu pflegen. Als er stirbt sind beide sehr traurig; sie begraben ihn an einer Stelle, die sonst niemand kennt. An den folgenden Tagen gehen sie zu seinem Grab und unterhalten sich darüber, wie es ist, wenn man stirbt. Klaus meint, der Vogel wird ein Adler, Lisa besteht darauf, dass er in einen Engel verwandelt wird. Sie denkt an ihre kranke Oma. „Wird Omi auch ein Engel?“ „Nein“ sagt Klaus, „Die verschwindet einfach nur und keiner weiß, wo sie ist.“ „Arme Omi“.
Späte Kindheit
Irgendwann endet das Kinderparadies zwischen Puppenstube, Kaufmannsladen und Kasperlebühne. Lisa und Klaus gehen in die Schule. Die Privatheit ihres Lebens hat ihre frühe Vertrautheit verloren. Es ist öffentlich geworden. Die Geschwisterliebe erfährt ihre erste entscheidende Wende.
Es begann mit dem Kindergartenbesuch von Klaus. Damit war für die Kinder eine Grunderfahrung verbunden, die in vielen Variationen ihr weiteres Leben begleiten wird – die Trennungserfahrung. Das war besonders für Lisa schmerzlich. Sie fühlte sich plötzlich sehr allein. Solche Trennungserfahrungen sind unvermeidbar. Und sie sind wichtig weil sie Kindern helfen, eine ausreichende Trennungstoleranz zu entwickeln, die sie auf spätere Trennungserfahrungen vorbereitet. Wie wir wissen, reichen diese bis zur Geburt zurück, bis zur Urtrennung von Mutter und Kind nach der Schwangerschaft (4). Die folgende Phase der Mutter-Kind-Beziehung ist durch einen subtilen Wechsel von Trennung und Wiederannäherung gekennzeichnet, der die Ablösung des Kindes von der Mutter schrittweise vorbereiten hilft. Diese Separation ist der notwendige Weg zur Individuation und Autonomie. Geschwister unterstützen sich bei dem wichtigen Ablösungsprozess von der Mutter, indem sie spätestens vom Kindergartenalter an die Separationsschritte bei sich selbst einüben. Indem sie sich täglich aufs Neue trennen müssen und sich anschließend wiedersehen, ritualisieren sie die dialektischen Vorgänge von Separation, Wiederannäherung und Individuation als identitätsstiftende Erfahrung.
Diese Reifungsschritte in der menschlichen Entwicklung sind von der Forschergruppe um die Psychoanalytikerin Margaret S. Mahler in Direktbeobachtungen von Müttern, Kindern und ihren Geschwistern sehr gründlich untersucht worden (5). So verdanken wir der Forschergruppe die anschaulichsten Beschreibungen über den wechselseitig fördernden und beschleunigenden Einfluss der Geschwister bei der Überwindung der Mutter-Kind-Symbiose. Die Trennungserfahrungen, die die Geschwister später bei sich selbst machen, bedeuten nochmals einen wichtigen Entwicklungsschub in Richtung der eigenen Identitätsfindung.
Auf dem Hintergrund der Summe ihrer bisherigen gemeinsamen Kindheitserfahrungen wächst bei Lisa und Klaus langsam ein Gefühl der Dankbarkeit füreinander. Ihrem geteilten Leben verdanken sie einen wesentlichen Teil der Kraft zu einer größeren Unabhängigkeit. Dankbarkeit ist ein unentbehrliches Ferment jeder produktiven sozialen Bindung und ein tragendes Element der Liebe. In Geschwisterbeziehungen spielt das Prinzip der Dankbarkeit insofern eine bisher kaum gesehene, aber wichtige Rolle, als es hierbei um die zentrale Frage kreist, inwieweit frühkindliche Impulse von Neid, Gier, Rivalität und Hass überwunden werden konnten, oder ob diese destruktiven Gefühle überdauern.
Spätere Perspektiven
Die bisher nur in wenigen Facetten dargestellte Entwicklung der Geschwisterliebe bis etwa zur Pubertät lässt sich als Phase der „Intimität“ bezeichnen, in der das Fundament für Vertrauen und Zusammengehörigkeit gelegt wird. Mit der Pubertät beginnt eine zweite Reifungsstufe, die einer Phase der „Distanz“ entspricht. Sie reicht etwa bis ins mittlere Erwachsenenalter und mündet danach in eine dritte, die „Wiederannäherungsphase“ ein, in der die Geschwister, sofern ihre Liebe gehalten hat, wieder enger zusammenrücken. Bezogen auf das ganze Leben spricht man in der Familientheorie von einem Geschwisterroman, deren es so viele und unterschiedliche gibt, wie es Geschwister gibt. Der Einzigartigkeit jeder Geschwisterkonstellation muss sich jeder Versuch zu einer Verallgemeinerung bewusst bleiben.
Wie die Geschwisterforschung gezeigt hat, besitzen Geschwisterbindungen im Unterschied zu anderen Beziehungen den höchsten Grad sozial verlässlicher Kontinuität. So hat die zweite Phase größerer Distanz in der Regel auch nicht zur Folge, dass sich Geschwister vollständig voneinander entfernen. Vielmehr ist sie notwendig, damit sich Geschwister stärker voneinander abgrenzen und ihre eigene Individualität und Identität entwickeln lernen. Wie dies nicht der Fall ist, etwa bei Zwillingen oder bei Inzestbeziehungen, bleiben die Geschwister oftmals ein Leben lang konfliktreich miteinander verklammert. Die Abgrenzung in dieser Phase wird meist durch unterschiedliche biographische Lebensverläufe begünstigt.
Die Wiederannäherungsphase im späteren Erwachsenenalter wird meistens durch die verschiedenen Abschiede und Verluste eingeleitet, die in dieser Lebensphase zu bewältigen sind, wie Krankheit und Tod der Eltern, das Zerbrechen von Partnerschaften, das Verlassen des Elternhauses durch die Kinder, die Beendigung des Berufslebens und schließlich die Vorbereitung auf das eigene Sterben. Bei einer gelungenen Geschwisterbeziehung bedeuten sich Geschwister in dieser Phase unschätzbaren Trost, Hilfe und Schutz gegen die Einsamkeit. In Rückerinnerung an die frühen Wurzeln ihrer Liebe und ihres Vertrauens kommt es jetzt auch zu einer Versöhnung mit allem, was sie zwischenzeitlich getrennt hat, mit allen unvermeidbaren Streitigkeiten und Differenzen und mit dem, was sie gegenseitig an Loyalität, teilnehmendem Interesse und Sorge versäumt haben mögen. Ein solcher Prozess der Versöhnung in der Wiederannäherungsphase ergänzt die Geschwisterliebe durch eine reife Form der Freundschaft als Einheit aller positiven Kräfte, die Menschen aneinander binden.
Wo bleibt die Rivalität?
Wenn in der Wissenschaft und im öffentlichen Bewusstsein die Auffassung von einer „primären Feindseligkeit“ zwischen Geschwistern vorherrscht, wie es in einer zusammenfassenden Arbeit über die Geschwisterforschung heißt (6), so gehe ich von der Hypothese einer „primären Geschwisterliebe“ aus. Natürlich darf diese einseitige Akzentuierung nicht die Tatsache der zweifellos oft vorhandenen Gefühle von Rivalität, Neid, Eifersucht und Hass zwischen Geschwistern leugnen. Diese erscheinen mir jedoch sekundär bedingt. Ihre Ursachen sind auf drei wichtigen Ebenen angesiedelt:
Angeborene körperliche, geistige und seelische Wesensunterschiede zwischen Geschwistern haben einen maßgeblichen Einfluss auf die Gestaltung ihrer Beziehung.
Aus lebenslanger Perspektive spielt die Sozialisation im außerfamiliären Umfeld eine nicht zu unterschätzende Rolle für die Qualität der Geschwisterbindung.
Die wichtigste Ebene dürfte jedoch die Eltern-Kind-Beziehung einnehmen. Hier hat die Familienforschung der letzten Jahrzehnte zahlreiche Mechanismen aufgedeckt, die Familiensysteme zum Entgleisen und Geschwisterbeziehungen in destruktive Bahnen lenken können.
Tatsächlich sind die Einflüsse, die die Entwicklung der Geschwisterliebe stören oder gar zerstören können, vielfältiger Natur. Und zweifellos ist es wichtig, sich eine größere Klarheit über sie zu verschaffen, wenn man stärkere Konflikte in der eigenen Geschwisterbeziehung genauer ergründen oder ihrer Entstehung zwischen den eigenen Kindern vorbeugen möchte. Solche Kenntnisse sind natürlich auch im außerfamiliären Bereich der Erziehung von großer Bedeutung und im beratenden und psychotherapeutischen Feld unerlässlich. Ebenso wichtig erscheint es aber, den Ressourcenreichtum der Geschwisterliebe zu erkennen und zu fördern. An diesen Reichtum und dessen Glück anzuknüpfen, dürfte in einer Zeit besonderes Gewicht bekommen, in der sich Menschen immer fremder werden und in der sich der einzelne immer mehr als Fremder erfährt.
Literatur
(1) Freud, S. (1973): Totem und Tabu. Ges. Werke Bd. IX (1913). Frankfurt/M.
(2) Grimm, H. (o.J.): Die Brüder Grimm. In: Grimm, Brüder: Kinder-und Hausmärchen. München.
(3) Schütze, Y. (1986): Der Verlauf der Geschwisterbeziehung während der ersten beiden Jahre. In: Praxis Kinderpsychologie Kinderpsychiatrie 35/1986, 5.130-137.
(4) Petri H. (1993): Verlassen und verlassen werden. Zürich, 4. Aufl.
(5) Mahler, M. S/Pine, F./Bergmann,A. (1978): Die psychische Geburt des Menschen. Frankfurt/M.
(6) Berger, M. (1985): Zur psychodynamischen Relevanz der Geschwisterbeziehung. In: Zeitschrift Kinder-Jugendpsychiatrie 13/1985, S. 123-137.
(7) Richter, H. E. (1963): Eltern, Kind und Neurose. Stuttgart.
Stierlin, H. (1975): Von der Psychoanalyse zur Familientherapie. Klett, Stuttgart.
H. Petri. (2012): Geschwisterliebe und Rivalität. Die längste Beziehung unseres Lebens. Freiburg, 9. Auflage.
Weitere Beiträge des Autors hier in unserem Familienhandbuch
Autor
Prof Dr. Horst Petri, geb. 1936, ist Nervenarzt und Arzt für Kinder-und Jugendpsychiatrie. Langjähriger Leiter der kinderpsychiatrischen Poliklinik der FU Berlin. Apl. Professor für Psychotherapie und Psychosomatik am Klinikum der FU. Psychoanalytiker in freier Praxis.
Kontakt
Prof. Dr. med. Horst Petri
Carl-Herz-Ufer 27
10961 Berlin
Erstellt am 8. November 2013, zuletzt geändert am 8. November 2013