Stiefgeschwister

Prof. Dr. Dr. Hartmut Kasten
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Die Begrifflichkeiten „Stiefgeschwister“ und „Halbgeschwister“ werden im nachfolgenden Artikel definiert sowie verschiedene Phasen der Eingewöhnung und Anpassung in Stieffamilien aufgezeigt. Dabei geht der Autor auch auf die Beziehungen zwischen Geschwistern und Halbgeschwistern ein und beleuchtet wie Kinder sich in Stief- bzw. Patchworkfamilien fühlen und verhalten.

Definition und Statistik

Als Stiefgeschwister bezeichnet man Kinder, die biologisch nicht miteinander verwandt sind, jedoch zusammen mit ihrer leiblichen Mutter oder ihrem leiblichen Vater in einer Stieffamilie (oder in einem gemeinsamen Haushalt in einer familienähnlichen Situation) leben, d.h. zusammen mit Kindern des Stiefvaters oder der Stiefmutter. Von Stiefgeschwistern abzugrenzen sind Halbgeschwister, die eine gemeinsame Mutter oder einen gemeinsamen Vater haben.

In Deutschland und vielen anderen Industrieländern wächst die Zahl der Stief- und Halbgeschwister beständig, was darauf zurückzuführen ist, dass sowohl die Scheidungsrate als auch die Zahl der Wiederverheiratungen (Zweit-, Dritt- und Mehrfach-Ehen) nach wie vor steigen. Nach einer Schätzung von Schwarz (1989) war in der Bundesrepublik Deutschland Ende der 80er Jahre jede fünfte Familie eine Stieffamilie; demnach kann davon ausgegangen werden, dass ungefähr 20 Prozent aller Kinder und Jugendlichen in einer Stieffamilie oder in stieffamilienähnlichen Verhältnissen aufwachsen. Doch sind statistische Angaben über Stiefkinder und Stiefgeschwister mit Vorsicht zu genießen, was vor allem damit zusammenhängt, dass “stieffamilienähnliche Verhältnisse” über eine breite Palette unterschiedlicher Familien- und Haushaltsformen variieren, die sich einer vollständigen (und damit exakten) statistischen Erfassung entziehen. Zum Beispiel können sich auch Kinder als Stiefgeschwister erleben (und die für sie zuständigen Elternteile es ebenso wahrnehmen), die längere Zeit miteinander in einer zusammengesetzten, nicht gesetzlich legitimierten “Patchwork” -Familie oder in einer Wohngemeinschaft, die wieder aufgelöst wurde, gelebt haben.

Bei einer näheren Betrachtung von Stiefgeschwistern empfiehlt es sich zu unterscheiden zwischen

  • Stiefgeschwister in jüngeren,
  • Stiefgeschwister in mittel alten und
  • Stiefgeschwister in älteren Stieffamilien.

In der Forschung hat es sich nämlich bewährt, Stieffamilien aufzugliedern nach der Dauer ihres Bestehens, und es ist einleuchtend, dass sich die Beziehungen zwischen Stiefgeschwistern im Laufe ihres Zusammenlebens in der Stieffamilie verändern.
 

Stiefgeschwister in jüngeren Stieffamilien

Die Mehrheit der Kinder und Jugendlichen, die in eine Stieffamilie kommen, hat nach der Trennung oder Scheidung ihrer leiblichen Eltern eine mehr oder weniger lange Zeit mit einem Elternteil (meist der Mutter) allein in einem Haushalt, in einer so genannten Ein-Eltern-Familie, verbracht (Der statistisch seltene Fall des vorangegangenen Todes eines Elternteils soll hier nicht näher berücksichtigt werden). Das kann bedeuten, dass ihre Bindung an diesen Elternteil besonders innig und qualitativ hochwertig, ihr Verhältnis zum anderen Elternteil dagegen eher zwiespältig oder sogar negativ getönt ist – besonders dann, wenn die Trennung oder Scheidung seiner Eltern nicht einvernehmlich erfolgte und die Streitigkeiten um Sorge- und Umgangsrecht noch anhalten.

Diese Kinder und Jugendlichen tun sich anfangs deutlich schwerer, Kontakte zu ihren Stiefgeschwistern herzustellen als Kinder und Jugendliche, die zu beiden leiblichen Eltern eine gute Beziehung unterhalten. Letzteres ist meist der Fall, wenn diese sich einvernehmlich trennten. Während einer Übergangs- und Anpassungsphase, die mehrere Jahre dauern kann, sind daher häufig Spannungen und Belastungen zwischen den Stiefgeschwistern an der Tagesordnung. Beobachtet wurde, dass Jungen häufiger Schwierigkeiten und Konflikte im Umgang mit den Stiefgeschwistern haben und ihre zunächst ablehnende Haltung auch offener zeigen als Mädchen. Diese neigen eher zum Rückzug und grenzen sich insbesondere den aggressiven Stiefbrüdern gegenüber deutlich ab.

Während dieser Phase wird das geschwisterbezogene Verhalten sowohl von den Betroffenen als auch von außenstehenden Beobachtern als relativ gefühlskalt und konkurrenz- und vermeidungsorientiert eingeschätzt. Natürlich müssen dabei auch die Altersabstände zwischen den Geschwistern und die Geschlechtskombination der Geschwisterreihe sowie das Verhalten des leiblichen und des Stiefelternteils in Betracht gezogen werden: Geringe Altersabstände, Gleichgeschlechtlichkeit und direktives, forderndes, autoritäres Elternverhalten wirken sich meist ungünstig aus auf die Stiefgeschwister-Beziehung, größere Altersabstände, ungleichgeschlechtliche Geschwister und verständnisvolles, einfühlsames Elternverhalten dagegen meist positiv.

Die Geburt eines Halbgeschwisters kommt in den ersten zwei Jahren in Stieffamilien relativ selten vor und stellt im Regelfall ein kritisches Ereignis dar, das sich besonders negativ auswirkt auf das Verhältnis der Stiefgeschwister, wenn sie noch jünger sind. Sie verlieren ihre Nesthäkchenposition, beneiden das Halbgeschwister und entwickeln aversive Gefühle den Stiefgeschwistern gegenüber. Ein größerer Altersabstand zum nachgeborenen Geschwisterchen erweist sich ebenfalls als ungünstig, weil es den älteren Kindern oft nicht gelingt, eine emotionale Brücke zum kleinen Halbgeschwister aufzubauen, und sie auch in Distanz verbleiben zu den Stiefgeschwistern. Lediglich bei einem mittleren Altersabstand von drei bis sechs Jahren besteht eine günstigere Ausgangssituation: Die Stiefgeschwister kommen gefühlsmäßig schneller miteinander in Kontakt über das kleine Geschwister, gewöhnen sich schneller aneinander und lernen sich gegenseitig zu akzeptieren.
 

Stiefgeschwister in Stieffamilien, die bereits etwas länger bestehen

Nach Ablauf der Eingewöhnungs- und Anpassungsphase, die durchaus einen Zeitraum von zwei Jahren in Anspruch nehmen kann, normalisiert sich das Verhältnis zwischen den Stiefgeschwistern zunehmend. Die Spannungen, Konflikte und Belastungen verringern sich; man schafft es, besser aufeinander einzugehen und versteht sich dadurch auch besser.

Eine Ausnahme bilden Stiefgeschwister, die nicht ständig zusammen im selben Haushalt leben, weil sie sich – bedingt durch Sorge- und Umgangsrechtsregelungen – zeitweilig bei ihrem leiblichen Vater/ ihrer leiblichen Mutter aufhalten. Diesen gelingt es oft nicht so gut, zueinander Kontakt und eine positive Beziehung aufzubauen. Negativ auf das Verhältnis der Stiefgeschwister wirkt sich auch eine Ungleichbehandlung von Seiten der (Stief-)Eltern aus: Besonders das sich zurückgesetzt und benachteiligt fühlende Geschwister grenzt sich den anderen Kindern gegenüber ab, schränkt den Kontakt ein und entwickelt Aggressionen. Aber auch die Kinder, die sich von den Eltern bevorzugt behandelt fühlen, verhalten sich ihren Stiefgeschwistern gegenüber reserviert oder sogar abweisend.
 

Stiefgeschwister in älteren Stieffamilien

Stiefgeschwister in Stieffamilien, die bereits länger (fünf Jahre und mehr) existieren, haben sich in der Regel aneinander gewöhnt und tragfähige, stabile Beziehungen unterschiedlicher Qualität untereinander aufgebaut. Die Regularien für diese Beziehungen entsprechen weitgehend dem Regelwerk, das für die Entwicklung und Ausgestaltung “normaler” Beziehungen zwischen leiblichen Geschwistern gilt (s. Artikel “Geschwisterrivalität”): Ein enger Altersabstand trägt gleichsam automatisch dazu bei, dass sich zwischen den betroffenen gleichgeschlechtlichen Stiefgeschwistern eine intensive und enge, durch das gleichzeitige Vorhandensein von Nähe und Rivalität charakterisierte Beziehung aufbaut. Dagegen bildet sich zwischen Stiefbrüdern und Stiefschwestern mit größerem Altersabstand (von fünf und mehr Jahren) häufiger eine Beziehung aus, die durch größere Distanz und geringere Rivalität gekennzeichnet ist.
 

Literatur

  • Hartmut Kasten: Geschwister – Vorbilder, Rivalen, Vertraute. (Absatz 10: Geschwister besonderer Art, S. 154-186). München: Reinhardt 2001
    Zur Vertiefung:
    Hartmut Kasten: Die Geschwisterbeziehung, Band 2: Besondere Geschwisterbeziehungen. (Kapitel 5: Geschwisterbeziehungen von Stiefgeschwistern und Halbgeschwistern, S. 147-199). Göttingen: Hogrefe 1993
     

Weitere Beiträge des Autors hier in unserem Familienhandbuch

Autor

Prof. Dr. Dr. habil. Hartmut Kasten, Diplom-Psychologe, Staatsinstitut für Frühpädagogik, München, und Ludwig-Maximilians-Universität München, Fakultät für Psychologie und Pädagogik.

Er hat folgende Bücher für Eltern veröffentlicht:

  • Geschwister – Vorbilder, Rivalen, Vertraute. München: Reinhardt 2001
  • Einzelkinder – Aufwachsen ohne Geschwister. Berlin: Springer 1995
  • Weiblich – Männlich. Entwicklung der Geschlechtsrollen. Berlin: Springer 1996
  • Pubertät und Adoleszenz. Wie Kinder heute erwachsen werden. München: Reinhardt 1999
  • Wie die Zeit vergeht. Zeitbewusstsein in Alltag und Lebenslauf. Darmstadt: Primus 2001

Kontakt

Prof. Dr. Hartmut Kasten
Fastlinger Ring 98
85716 Unterschleißheim

Tel.: 089/3171845

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Erstellt am 22. August 2001, zuletzt geändert am 29. Februar 2012