Auf einmal bin ich Großmutter

Gertrud Ennulat
Gertrud Ennulat

Dank der größeren Lebenserwartung haben Frauen die Chance, Großmutterschaft als einen wichtigen Abschnitt ihres Lebens zu gestalten. Heutige Großmütter definieren ihre Rolle neu: Sie verabschieden sich von traditionellen Großmutterbildern, suchen eine eigene Identität. Da aber von der Großmutter nur dann die Rede sein kann, wenn auch die Enkel zur Sprache kommen, ergibt sich ihre Rolle aus dem Spannungsfeld der Beziehung zwischen Enkel und Großmutter.

In diesem Beitrag werden folgende Themen behandelt:

  1. Die Geburtssituation der Großmutter
  2. Die besondere Beziehung zwischen Großmutter und Enkel
  3. Die neuen Großmütter
  4. Der vitalisierende Vorgang der Verjüngung
  5. Die Großmutter im Spiegel der Märchen: Von der Kinderschreckgestalt zur helfenden Alten

1. Die Geburtssituation der Großmutter

Wann findet eigentlich der besondere Moment statt, an dem aus der Mutter eine Großmutter wird? Diese Situation ist sehr verschieden vom Prozess des Mutterwerdens, bei dem aktives Tun, Lusterleben und körperliche Nähe im Umgang mit einem männlichen Partner im Vordergrund stehen.

Ganz anders ist das nun beim Großmutterwerden. Von einem aktiv gestalteten Vorgang kann nicht die Rede sein. Erst wenn für die werdende Mutter feststeht, es rührt sich etwas in ihrem Bauch, wird der Mutter Mitteilung gemacht. Vielleicht mit dem nüchternen Satz: “Mutter, du wirst Großmutter!”

Es soll wohl angehende Großmütter geben, deren Unbewusstes im Bild eines Traumes das Thema Geburt bereits ankündigt. Doch wer denkt denn gleich an ein zukünftiges Enkelkind, wenn im Traum ein Kind zur Welt kommt? Vielleicht sagt die Träumerin ahnungsvoll und besorgt im Blick auf die noch nicht abgeschlossene Berufsausbildung der Tochter: “Verhüt´s Gott!” und geht zur Tagesordnung über.

Nun schaffen die Worte der Tochter oder des Sohnes eine neue Realität. “Ich werde Großmutter und keiner hat mich gefragt!” Dies gilt gleichermaßen für den Großvater. Der Gebrauch des Passivs drückt aus, was geschieht: Ich werde zur Großmutter gemacht. Zitat meines Mannes bei seinem Geburtsakt zum Großvater: “Das Leben hat zugeschlagen!”

Häufig taucht in diesem Zusammenhang eine Äußerung des werdenden Großvaters auf: “Dann muss ich ab heute mit der Großmutter ins Bett!” Bei meinen Alltags-Recherchen ist mir die Umkehrung dieses Satzes noch nicht begegnet: Eindeutig steht Großmutters Bett im Zentrum des Interesses, wird zum Objekt, auf das Ängste und Fantasien projiziert werden. Allerdings bescherte mein inzwischen 14-jähriger Enkel eine kleine Revanche mit der für ihn wichtigen Frage: “Du, Oma, hat der Opa eigentlich noch Samen?” Da brachte der Vertreter der nachfolgenden Generation die Sache auf den Punkt, verweist erneut auf Großmutters Bett, das in vielen Märchen ja von großer Wichtigkeit ist.

Beim Großeltern-Werden steht das Überrascht-Werden im Vordergrund. Viele zukünftige Großeltern wähnten sich meilenweit von diesem neuen Lebensabschnitt entfernt. Doch nun steht die Frage im Raum: “Ist es wirklich schon so weit?”

2. Die besondere Beziehung zwischen Großmutter und Enkel

Da aber weder im Märchen noch im Alltag die Enkelkinder vom Himmel fallen, bleibt Zeit, sich darauf vorzubereiten. Fragen und Zweifel tauchen auf, ob das eigene Kind, das nun erwachsen ist und Mutter oder Vater wird, das auch können wird – ob das alles nicht doch ein bisschen zu früh ist. Für einige Zeit regt sich auch ein Widerstand, die neue Rolle als Großmutter anzunehmen. “Schon wieder Pampers? Das war doch erst” . Manche Frau erlebt die Metamorphose zur Großmutter mit sehr ambivalenten Gefühlen und nimmt sich als innere Parole vor: “Halt dich zurück und mach dich rar!” Geschichten von vor Großmutterfreude fast platzenden Frauen wechseln in ihren Gedanken ab mit Bildern von Frauen, die gelassen aus sicherer Distanz auf die neuen Umstände schauen.

Doch sobald das Baby in Großmutters Armen liegt, wird spürbar, welch wunderbare Erlebnisse ihr vom Leben geschenkt werden. Auf einmal schwindet der sorgenvolle Blick, weil eine neue Beziehung sich anbahnt, die so ganz anders ist als die zu den eigenen ehemals kleinen Kindern. Die Beziehung zwischen der Großmutter und ihrem Enkelkind ist von besonderer Qualität.

Viele begeisterte Großeltern bestätigen die Erfahrung, dass ihr Verhältnis zu den Enkeln weit weniger von Konflikten und Auseinandersetzungen geprägt ist als bei den eigenen Kindern. Ohne große Anstrengungen unternehmen zu müssen, werden die Großmütter zu den bevorzugten Lieblingspersonen heranwachsender Enkelkinder. Nicht wenige junge Väter und Mütter schauen eifersüchtig auf die Großeltern, denn sobald diese auftauchen, verändern sich ihre Kinder, haben nur noch Auge und Ohr für Oma und Opa. Anscheinend magisch angezogen, suchen sie deren Nähe. Da ist die Frage berechtigt: “Wo kommt diese selbstverständliche und natürliche Zuneigung zwischen der Generation der Enkel und Großeltern her?” Sie ist ja nicht abhängig von der Anzahl der Geschenke und Mitbringsel. Großmutter muss nicht bei jedem Besuch Spielsachen mitbringen, sie wird vielmehr unvoreingenommen geliebt. Zwischen ihr und dem Enkelkind fließt eine Kraft der Sympathie, welche Nähe und gegenseitige Entsprechung bewirkt, wie sie zu den eigenen Kindern weit weniger möglich ist.

Um eine Antwort auf die Frage nach der möglichen Ursache dieser Zuneigung zu finden, ist ein Blick auf unsere Sprache nützlich. Der Begriff Großmutter, Großvater bezeichnet die Mutter des Vaters oder der Mutter und wurde ab 1350 als grozmuoter, ab 1400 als grozvater gebraucht. Diese Wortbildungen traten an die Stelle des zuvor gebrauchten mittelhochdeutschen ane, althochdeutsch ano. Von ano, dem Ahnen, gibt es nun eine Diminutivbildung, und die heißt Enkel (1). Demnach ist der Enkel die Verkleinerungsform des Ahnen. Der Enkel als Sohn des Sohnes oder der Tochter ist der direkte Nachkomme in der dritten Generation. Offenbar wurde bei unseren germanischen Vorfahren die Bindung zur übernächsten Generation als besonders stark angesehen, was oft auch in der Namensgebung zum Ausdruck kommt, wenn der Enkel den Vornamen des Großvaters erhält.

Wenn der Enkel als der kleine Ahne angesehen wird, erlebt die Großmutter bzw. der Großvater in diesem Kind eine Verjüngung von sich selbst. Und dies entspricht den Erfahrungen frischgebackener Großeltern. Sobald der anfangs beschriebene Schock über die Tatsache, im Generationenverbund eine Stelle weiter gerückt worden zu sein, überwunden ist, macht sich ein Phänomen Platz, mit dem niemand gerechnet hat: Es ist dies der Vorgang der Verjüngung. Da menschliche Erfahrung stets von ambivalenten Erscheinungen und Gefühlen begleitet wird, gesellt sich zur Tatsache des Älterwerdens im Generationenverbund die Verjüngung.

Irgendwann fängt jede Großmutter an, ihre neue Rolle öffentlich zu machen. Sie erprobt sie, kokettiert damit, freut sich über Äußerungen wie die folgende: Im Gespräch mit Kindern im Einschulungsalter erwähnte ich, dass ich Großmutter sei und ein Enkelkind habe. Darauf ging ein Junge kopfschüttelnd nach Hause und stellte seiner Mutter die Frage: “Mama, gibt es das, eine Oma ohne Falten?” Dieser Ausspruch schmeichelte der damals frisch gebackenen Oma, gibt aber darüber hinaus auch Aufschluss über die Erwartungen, welche das Bild des Jungen von einer Großmutter beeinflussen. Wenn schon Oma, dann aber bitte mit Falten, einer Lesebrille vorne auf der Nasenspitze und grauen Haaren – aber bitte nicht zum Pferdeschwanz gebunden, sondern zum Dutt gesteckt! Wenn dieselbe Person sich dann noch in einen Schaukelstuhl setzt, das Strickzeug in die Hand nimmt und Märchen erzählt, dann kommt der rechte Glanz ins Kinderauge. Das ist eine richtige Oma!

3. Die neuen Großmütter

Was aber ist eine richtige Großmutter? Die heutige Großmuttergeneration hat Mühe, sich in dem oben beschriebenen Bild wiederzufinden. Viel eher beschreiben sie die Adjektive dynamisch, aktiv, vital. Die inline-skatende Oma hat keine Mühe, mit dem Enkel auf der Straße hin und her zu sausen, und eine andere Großmutter hat keine Scheu, einen Bauchtanz in aller Öffentlichkeit vorzuführen. Da auch die Opas solche Herausforderungen nicht scheuen, bleiben sie Knackis zur Freude der Enkelkinder.

Darüber hinaus stehen heutige Großeltern meist noch voll im Berufs- und Arbeitsprozess, bewegen sich in Tätigkeitsfeldern, die ihre Lebensqualität positiv prägen. Die häufig beschworene Oma fürs Gröbste ist immer schwerer zu finden: In einer Untersuchung zu familialen Generationenbeziehungen aus der Perspektive von Großmüttern (2) wird bei allen Gesprächen mit Großmüttern auf den Konflikt hingewiesen, der dann entsteht, wenn die Freiheit der Frau, welche aus den Beschränkungen der Mutterschaft hinausgetreten ist, durch die erneute Übernahme mütterlicher Aufgaben bei den Enkeln wieder eingeschränkt werden soll.

Aber auch, wenn die Großmutter in die Organisation der Enkelfamilie eingeplant wird und selbst wennn die neue Aufgabe nach einiger Zeit zur Last wird, betonen doch die meisten der befragten Frauen die große Bereicherung ihres Lebens durch die Enkel. Aus ihrer Sicht ist es dann ganz selbstverständlich, was sie tun.

Dieser Dienst an der nächsten und übernächsten Generation wird im Hinblick auf die Sorge vor der Überalterung unserer Gesellschaft viel zu wenig gesehen. Das Leben vieler junger Familien mit Kindern würde in große wirtschaftliche Turbulenzen geraten, wenn plötzlich die selbstverständlichen alltäglichen Unterstützungen durch die Großmütter und Großväter wegfallen würden. Häufig finanzieren sie Ausbildungen, geben Mietzuschüsse, bezahlen die Klavierstunde, ermöglichen die kleinen Extras, die das Leben angenehm machen – und tun dies, ohne es an die große Glocke zu hängen. Wer anfängt, die Beziehungen der Generationen unter die Lupe zu nehmen, fängt an zu staunen, wie vielfältig und intensiv die Kontakte untereinander sind, dass Telefon und Internet in der Kommunikation von Alt und Jung eine sehr große Rolle spielen.

Wenn Großmutter Glück hat, dann bleibt es nicht beim ersten Enkelkind, wird das nächste geboren. Taucht beim small talk die Frage nach der Anzahl der Enkel auf, wird die Anzahl der Nachkommen auf einmal zu einem schmückenden Attribut, ist etwas von einem gesunden Stolz auf die Zahl der Enkel zu spüren. Mit jedem Enkelkind kommt ja etwas Neues in das Leben der Großmutter hinein. Es scheint, jedes Enkelkind bringt eine neue Komponente der Kraft in das System der Großfamilie, und es kommt nur darauf an, mit welcher Offenheit die Großmutter ihm begegnen kann. Immer geht es dabei um eine Intensivierung des bisherigen Lebens. Großmütter werden nicht nur verjüngt, sondern auch bereichert – und sind wohl deshalb oft die Großzügigkeit in Person, wenn es darum geht, den Wünschen der Enkelkinder entgegenzukommen.

Spannend wurde mein Leben als Großmutter, vielfältig und breit der Lebenszuschnitt. Als die Enkel noch ganz klein waren, einer nach dem anderen auf die Welt kam, machte ich mir manchmal Sorgen um ihre Zukunft. Auch das gehört zum Großmutterdasein: sich sorgen um das Wohl der nächsten und übernächsten Generation. Das ist kein alter Zopf, sondern ein wichtiger Beitrag im System der Familie. Wo sind Sorgen besser aufgehoben als bei der Großmutter? Sie hat gelernt, damit umzugehen…

Aber nun ist es an der Zeit, mehr über das von allen Großmüttern hoch gelobte Phänomen der Verjüngung zu erfahren, das nach der Devise “Was alt ist, wird jung, was jung ist wird alt!” funktioniert.

4. Der vitalisierende Vorgang der Verjüngung

Von der Dynamik des Lebens werde ich weiter bewegt, seit ich Großmutter bin. Im Werdeprozess zur Großmutter werden in meinem Inneren u.a. drei Erlebnisschichten berührt:

Die Geburt des ersten Enkelkindes löst unweigerlich einen Prozess aus, der die Schicht des eigenen Kindseins in Erinnerung ruft. Da Enkelkinder ein natürliches Fragebedürfnis haben, tauchen Fragen auf wie die folgende: “Du, Oma, wer hat dich eigentlich gewickelt?” Ja, wer hat mich eigentlich gewickelt? Und schon ist die Großmutter in Kontakt zu ihrem Kindheitserleben. Das tut gut und verbindet sie mit der vitalen Energie des Kindes, das sie einmal war. Die Frage des neugierigen Enkels führt sie in ihre Herkunftsfamilie zurück. “Du, Oma, hast du im Krieg auch Hunger gehabt?” Es tut gut, den Fragen der Enkel standzuhalten, gemeinsam in den Raum, den die Frage eröffnet, hinein zu gehen, um Antwort zu geben. Dann wird nämlich deutlich, wie mein Leben durch die vielen Erzählungen im Herzen der Enkel seinen Platz findet und mich dort überdauert. Natürlich hat eine solche Neubelebung auch zur Folge, dass ehemals schmerzhafte Erfahrungen wieder auftauchen können.

Großmütter hatten meist einen ganz anderen Lebenshintergrund als ihre Enkel. Viele sind im Krieg und in der Notzeit danach aufgewachsen. Oft schmerzt es, von dieser Zeit zu sprechen, weil die Wunden der Kindheit nie gänzlich vernarben. Es tut gut zu sehen, wie feinfühlig Enkelkinder beim Hören solcher Geschichten sein können, der Großmutter den Trost schenken, den sie als Kind vermisst hatte. Gleichzeitig haben sie ein Bedürfnis, diese Mangelgeschichten aus Großmutters Kindheit immer wieder zu hören. Und auf einmal verändern sich diese Geschichten, rückt der Mangel in den Hintergrund, taucht auf, was zum Lachen war, fängt Großmutter an zu erzählen, wie sie ganz alleine bei Dunkelheit zum Milchholen ging, sich fürchtete und trotzdem kein Angsthase war. Der Blick zurück folgt dem Durchleiden ehemals verborgener Kindheitswunden und löst auf diese Weise Blockaden. Seelische Energie wird freigesetzt, die Vitalität der Großmutter gestärkt.
Jede Großmutter blickt aber auch zurück auf ihre eigene Zeit als Mutter. Als ich meinen ersten Enkel auf dem Arm hatte, 21 Jahre nachdem seine Mutter von mir geboren worden war, da erschien mir diese Lebensphase so kurz, hatte ich Mühe zu begreifen, dass sie unweigerlich vorbei war. So gilt der Blick zurück auch immer wieder der Mutter, die ich war, die sich vergleicht mit der jungen Mutter und neidvoll feststellt, dass manches heute viel natürlicher und einfacher ist als damals. Auch muss gelernt werden, mit den eigenen Ratschlägen sparsam umzugehen. Die Versuchung ist groß, die beste Oma aller Zeiten sein zu wollen, um sich von den vergangenen Erziehungsfehlern rein zu waschen. Doch ein fruchtbarer Lernprozess läuft ab, wenn die Großmutter lernt, sich nüchtern, kritisch und liebevoll zu sehen, ihre Fehler, Versäumnisse und Grenzen ungeschönt stehen lassen kann und sich versöhnt mit diesem nun abgeschlossenen wichtigen Abschnitt ihrer Lebensgeschichte. Dann kann sie die Tochter Mutter, den Sohn Vater sein lassen. Dann muss sie sich auch nicht die “glühenden Schuhe” der bösen Stiefmutter anziehen.
Der Lösungsprozess aus dem biologisch bedingten Muttersein bedeutet eine Zunahme an Freiheit und schöpferischen Gestaltungsmöglichkeiten und rührt an die dritte Schicht, welche durch die Enkelkinder aktiviert wird: aus der Mutter wird die “Große Mutter” , d.h. sie macht erste Schritte in eine größer werdende Welt. So wie nach außen die Größe der Familie zunimmt, verändern sich innere Sichtweisen, weil die Grenzen bisheriger Erfahrungsräume überschritten werden. Die Großmutter kann in die Weite ihrer geistigen Landschaft schauen. Davon wird im Folgenden die Rede sein.

5. Die Großmutter im Spiegel der Märchen: Vom Kinderschreck zur helfenden Alten

Blickt die Großmutter in den Spiegel der Märchen, hat sie entweder ein liebes oder ein falsches Gegenüber. Das Märchenlexikon von Walter Scherf (3), aus dem die folgenden Texte stammen, gleicht an manchen Stellen einem wahren Gruselkabinett. Das italienische Märchen “Die falsche Großmutter” soll das erste Beispiel sein. Falls da eine deutsche Großmutter vorschnell triumphierend sagt: “Diese Italiener!” , hat sie sich zu früh gefreut, denn auch der Deutschen liebstes Großmuttermärchen geht ihr bekanntlich an die Wäsche.

Eine Mutter schickt ihr Kind zur Großmutter, ein Mehlsieb zu leihen. Es nimmt einen Korb Vesperbrot mit und zahlt dem Grenzfluss und dem Grenztor Wegzoll. Großmutters Tür ist versperrt, die Menschenfresserin hat die Oma bereits verschlungen. Die dämonische Kraft des Verschlingens wird hier eindeutig dem Weiblichen zugeordnet, ohne den Umweg über den Wolf. Das Mädchen klettert über ein Seil zur Alten, die sie gleich im Bett haben will. Aber es versucht, durch den Hinweis auf seinen Hunger Distanz zu gewinnen, steht dann doch vor dem Bett der falschen Großmutter und berührt ihre Gestalt. Ein lebendiger Dialog zwischen den beiden beginnt, an dessen Ende das Mädchen beim Schwanz der Menschenfresserin angelangt ist und endlich weiß, mit wem sie es zu tun hat. Sie erstarrt nun nicht in panischem Schrecken, sondern verhält sich weiterhin recht keck, muss mal dringend Pippi machen. Und da in Großmutters Haus kein WC eingebaut ist, klettert sie am Seil wieder ins Freie, bindet eine Ziege daran und verhöhnt die Böse.

Mit diesen jenseitigen Großmüttern hat die reale Großmutter Mühe, verkörpern sie doch eine Kraft überpersönlicher Art und werden zum Symbol des verschlingenden Elementes menschlichen Lebens. Im lebendigen Kreislauf des Stirb und Werde besetzen sie den destruktiven Pol. Die Großmutter mit dem haarigen Schwanz ist natürlich einen Lacher wert, doch machen diese weiblichen Wesen in erster Linie Angst. Damit erfüllen sie die wichtige Funktion bei der Angstverarbeitung. Die Bilder der verschlingenden und fressenden Großmütter sind ja entstanden durch die Abspaltung bedrohlicher Inhalte für das Bewusstsein. Was das Ich an zerstörerischen Kräften nicht aushalten kann, wird auf die Alten verschoben.

Aber die heutige Großmutter muss sich dieser Einsicht wegen nicht schämen, denn sie kann aufatmend auf das männliche Gegenstück verweisen. Frei von allem Geschlechterproporz erzählt das Märchen “Der fremde Großvater” von einem auf dem Ofen sitzenden männlichen Fressdämon. Auch zwischen ihm und dem Enkel entwickelt sich ein Wechselgespräch, das in vielen Varianten in Kinderspielen auch heute noch zu finden ist. Im Spiel machen sich Kinder lebenstüchtig, indem sie sich mit dem dunklen Bereich des Lebens auseinandersetzen.

Großmutters Märchenspuren führen nun weiter zu einem armen Waisenkind, das Tüschele Marüschele im gleichnamigen Märchen. Es geht betteln und trifft im Wald auf das Haus der lieben Großmutter. In diesem Südtiroler Märchen taucht endlich das Eigenschaftswort auf, nach dem Großmütter und Enkelkinder lechzen: die liebe Oma. Doch deren letzte Stunde hat bereits geschlagen, in Wirklichkeit ist sie ein wildes Weib, also auch eine von der Art, die jungem Blut nach dem Leben trachtet, um sich zu nähren. Am Ende ertrinkt sie, nachdem sie von dem Mädchen ausgetrixt wurde – nicht bevor beide im Bereich analer Späße kräftig gesudelt hatten.

In den erwähnten Märchen werden die Großmütter zu Kinderschreckgestalten, dämonischen Wesen, scheinen in verwandtschaftlichen Beziehungen zur großen Baba Yaga zu stehen. Ob die kranke Großmutter des Rotkäppchen eine Ausnahme ist?

Die Großmutter als Wolfsfrau

Auch in diesem Märchen findet das spannende Frage- und Antwortspiel statt. Eine der Fragen, die das Mädchen stellt, heißt: “Großmutter, was hast du für große Augen?” In Bilderbüchern wird diese Szene meist so gemalt, dass das Mädchen auf dem Bettvorleger vor dem großen Bett der Großmutter steht und sich recht in die Höhe recken muss. Seit ich selber Großmutter bin, habe ich Zweifel an der Richtigkeit dieses szenischen Arrangements. Eine veränderte Einsicht in diese Umstände verdanke ich dem jüngsten Enkelsohn, der eine Nacht im Bett der Großmutter verbringen durfte. Als er beim Aufwachen merkte, dass diese noch schlief, er sie nicht zu wecken wagte, ging er auf Entdeckungsreise und erkundete eingehend ihre Gestalt, schob dabei sein Gesicht ganz dicht vor ihr Gesicht und rief erstaunt und fasziniert aus, als sie ihre Augen öffnete: “Mensch Oma, hast du große Augen!” Da lag dann doch der Wolf mit im Bett.

Um die Begegnung mit dem Wolf kommt die heutige Großmutter also nicht herum. Die im Märchen kränkelt und erhält von ihrem Enkeltöchterchen Wein und Kuchen. Sie scheint keine Kostverächterin zu sein. Doch bevor sie sich an das Öffnen der Flasche machen kann, geht es erst ab in den Bauch des Wolfes, wo kurz darauf das Enkelchen eintrifft. Leider gibt das Märchen so ganz und gar keine erhellenden Informationen, wie es im Bauch des Vielfraßes zuging. Ob die beiden sich beschimpfen oder in Großmutter-Enkel-Harmonie sich Geschichten erzählen, eng aneinander geschmiegt, um sich das Warten auf den Jäger kurzweilig zu machen? Vielleicht fragte Rotkäppchen lapidar: “Echt cool, Oma, wie kommst du denn hierher?” Und die erwiderte: “Genau wie du, schnapp, hat er mich verschlungen.” Gemeinsames Erleben macht solidarisch. Mit der Großmutter geteiltes Leid ist weniger als halbes Leid. Endlich haben die beiden nur sich. Rotkäppchen hat die Oma ganz für sich allein. Und diese hatte ihre Enkelin immer schon zum Fressen gern und muss sie nun mit niemandem teilen. Ein paradiesischer Zustand im Dunkel des Bauches, der Einblick gibt in Großmutters Gelüstekammer, wo in der hintersten Schublade ein stummer Wunsch sein Dasein gefristet hat: “Ach, wenn´s doch meins wäre! So ein herziges Mädchen täte mir gut.” Und schon wird aus der weitsichtigen großen Mutter die besitzergreifende, fressende Dämonin, die das junge Leben für sich haben will.

Großmutters Bett

Bei vielen Gesprächen mit Kindern über ihre Großmutter wurde deutlich, welch große Bedeutung sie in ihrem Leben hat. Ein Wochenende bei der Großmutter, das Schlafen in ihrem Bett, rangiert noch vor dem Toperlebnis Europapark oder Disneyland. Dieser Aspekt der Großmutter-Identität verweist auf die zuvor beschriebenen retentiven Kräfte. Sie bilden gleichsam das Korrektiv für den Gewinn an Macht und Freiheit. Jede Großmutter muss mit der Einsicht in dieses Festhaltenwollen leben, um auf der Hut zu sein, damit das Leben der nächsten und übernächsten Generation nicht in Stagnation gerät. Zum Glück kommt der grüne Jägersmann, hört den schnarchenden Wolf und befreit das Kind und die Großmutter aus ihrer Verengung. Jetzt schmecken der Wein und der Kuchen. Wurde die Großmutter anfangs noch als krank bezeichnet, scheint sie nach der Wolfskur wie neu geboren. Wer weiß, vielleicht liegt nun der Bestseller “Die Wolfsfrau” (4) auf ihrem Nachttisch.

Beim nächsten Besuch Rotkäppchens geht es dann weniger dunkel zu, denn Großmutter und das Kind sind lernfähige Wesen, was sich in der Grimmschen Variante des Märchens (5) niederschlägt. Dort sind die Ahne und das Enkelkind souverän Handelnde, nicht länger Opfer ihrer eigenen Wolfsnatur; sie kennen sich damit aus. Rotkäppchen schleppt eimerweise Wasser, das nach Großmutters gekochten Würsten riecht, schüttet es in den Trog, überlistet dadurch den schnuppernden Wolf auf dem Dach des Hauses. Der kriegt einen langen Hals, kann sich nicht mehr halten, gerät ins Rutschen und ertrinkt im Trog. Unbesorgt kann die Großmutter das Mädchen den Weg allein nach Hause gehen lassen. Heute war Omatag: “Tschüss Oma, bis nächste Woche, ich ruf dich dann an! “

Großmutter, die Uralte

Eine Besonderheit der Großmutter-Enkel-Beziehung ist die altersmäßige Distanz – schließlich trennen die beiden viele Lebensjahre. So muss der vierjährige Enkel, der unbedingt die Oma heiraten will, einsehen, dass dies nicht zu realisieren ist, weil das Alter eine gewichtige Rolle spielt. Dann tauchen verstärkt Fragen auf, wie z.B.: ”Oma, wie lange lebst du noch?“ Für das Enkelkind bedeutet die Beziehung zur Großmutter immer auch das allmähliche Gewahrwerden einer Lebensgrenze. Die älter werdende Ahne lässt ihn in einen Spiegel blicken, der ihn lehrt, dass Leben nicht endlos ist. Wenn jung und alt im engen Kontakt sich befinden, spürt das Kind etwas von dem Fremden, das der Vertrautheit mit der Großmutter beigemengt ist. Nach einem Besuch mit seiner Klasse im Altenheim zeigte mein Enkel großes Interesse an den sog. Altersflecken auf meiner Haut. Seine Wahrnehmung war auf dieses Altersphänomen gestoßen. Spürbar war, wie sich auf einmal unsere Gesprächsatmosphäre veränderte, denn eine Pause der Verlegenheit entstand, in der sich auch ein wenig Angst breit machte. Auf einmal schaute das Kind die Großmutter mit anderen Augen an.

Dieses Fremde und Unterscheidende hängt mit dem längeren bereits gelebten Leben zusammen, das aus der Großmutter im Hinblick auf das Kind eine alte Frau macht, die weiß, wo es lang geht. Das passt dann auch zu dem im Märchen oft benutzten Bild der Großmutter, die abseits von der menschlichen Siedlung im Wald wohnt. Damit wird natürlich aus ihrem Haus auch schnell das Hexenhaus. Aber das muss nicht zu ihrer Prestigeminderung beitragen. Im Gegenteil, ein Sprichwort wertet sie in dieser Hinsicht auf, denn es sagt:” Der hat gut leben, dessen Großmutter hexen kann! “

Wenn sich die heutige Großmutter den Blick in den Spiegel des Märchens gefallen lässt, dann hat sie auch keine Mühe, sich noch etwas weiter zu bewegen und ein paar Minuten neben Teufels Großmutter zu sitzen. Da auch meine Enkel ab und an die Metamorphose zu kleinen Teufeln durchmachen, fühle ich mich ganz heimisch, schaue bewundernd auf den weiten Rock der Alten, mit dem zwar schlecht Skateboard zu fahren ist, der aber doch mächtig beeindruckt. Johannes Mario Simmel erzählt in der Geschichte” Die verschwundene Großmutter “(6), dass diese einen großen Rock mit vielen Unterabteilungen trägt, in denen sie stets ein Fläschchen Danziger Goldwasser versteckt hat. Auf diese Weise hat sie immer Zugang zu der unter ihrem Rock verborgenen Quelle des Lebenswassers.

Wenn Kinder Bilder von Großmüttern malen, taucht dieses Kleidungsstück meist auf. Weit muss er sein, der Rock, denn dann bietet er gute Versteckmöglichkeiten für Enkelkinder, schenkt Wärme, Behaglichkeit und einen Rundumblick in Großmutters Unterwelt. Teufels Großmutter wird als hilfreich geschildert, sorgt sich um den ins Stocken geratenen Lebensfluss und ermöglicht die Beantwortung unlösbar erscheinender Fragen. Nicht unwichtig ist darüber hinaus: sie schützt die Menschenkinder davor, von ihrem Sohn gefressen zu werden. Diese Großmutter kennt sich aus im Umgang mit den destruktiven Kräften. Wenn Not am Enkel ist, greift sie ein, dem Leben und Wachstum verpflichtet. Teufels Großmutter kennt keine Fressgelüste. Sie ist die Uralte, die schon immer da saß und darauf wartete, dass die Tür aufgeht und ein Ratsuchender bittet: ”Großmutter, ich hab da ein Problem.“ Wer eine Weile neben ihr gesessen hat, trägt eine große Portion Wärme mit nach Hause. Sie reicht aus, um Lebensprobleme anzupacken – im Vertrauen auf eine gute Lösung. Teufels Großmutter kann jeder besuchen. Bei ihr muss keiner telefonisch um einen Termin bitten. Es klingelt, sie macht auf, offen für das Enkelkind: ”Jetzt erzähl mal, wo drückt der Schuh?“

An Großmutters Tisch sitzen, ausschnaufen können, wenn zuhause die Eltern im Scheidungskrieg sich befinden – das gehört zu den nicht leichten Kapiteln im Leben der Großmutter. Es ist so wichtig, dass sie da ist, immer noch da ist, so wie gestern und vorgestern. Das brauchen Kinder, deren Familienstrukturen in die Brüche gehen. Großmütter und Großväter werden dann zum Kontinuum in ihrem Leben. Sie können die Oma anrufen, wenn es zuhause brennt, und mit ihr über das sprechen, was so weh tut, wenn Mama und Papa auseinander gehen. So wird die Großmutter zur Klagemauer, aber auch zum stabiles Bollwerk. Darum geht es im abschließenden Märchen von Gosaku und seiner Großmutter.

Gosaku und seine Großmutter

Mit dem japanischen Märchen” Gosaku und seine Großmutter “(7) verändert sich das Bild der Großmutter:” Es waren einmal eine alte Frau und ihr Enkelsohn. Er hieß Gosaku. Beide wohnten in einem kleinen Dorf. Obgleich sie arm waren, lebten sie doch zufrieden und glücklich.“

Die guten Lebensumstände im Dorf Gosakus werden durch den Fürsten des Landes bedroht, denn er befiehlt, alle Bewohner des Reiches müssen ihre Eltern, die über 70 Jahre sind, in die Berge bringen. Und damit sind wir wieder bei der Parole Werft die Alten hinaus! , die neue Aktualität gewinnt angesichts der Rentnerschwemme, welche den bisherigen Aufbau der sog. Alterspyramide in unserem Lande in Schieflage gebracht hat. Auf einmal wird auf die Gefahr des Ausbruchs eines Generationenkampfes hingewiesen. In Zeiten knapper werdender Arbeitsplätze blicken die Jungen mit anderen Augen auf die Alten als in Zeiten der Überbeschäftigung. Der Befehl des Herrschers im Märchen, sich der Alten zu entledigen, hat eine Ursache in der Angst ums Überleben. Eine Sicherung der Existenz scheint nur möglich durch die Vertreibung der Alten, was bei allen Bewohnern des Dorfes große Trauer hervorruft.

Eigentlich ergeht der Befehl, die Alten in die Berge zu schaffen, an die Eltern. Also müsste Gosaku dieser Aufforderung ja nicht folgen. Doch er handelt stellvertretend für die nicht vorhandenen Eltern. Diese Vorgehensweise wirft ein Licht auf ein Phänomen innerhalb des Generationenvertrages: Wenn ein Glied innerhalb der Kette der Generationen ausfällt, sei es durch Tod oder andere Umstände, muss der in der Reihenfolge als nächster Stehende diese Aufgabe auf sich nehmen. Und so geschieht es. Der Junge nimmt seine Großmutter auf den Rücken und trägt sie in einer schwarzen Nacht ins Gebirge. Für solche Schritte wird die Schwärze der Nacht zum Ausdruck der Gefühle der handelnden Personen. Es ist ja ein Weg in den Tod, doch Gosakus Großmutter bricht nicht in großes Wehklagen aus.

Sie ruht sich auch nicht auf dem Rücken ihres Enkels aus. Sie denkt voraus, bricht Zweige von den Bäumen und wirft sie als Markierung auf den Weg, damit der Junge den Rückweg wieder findet. Sie ist die Großmutter, die ihren Enkel nicht durch Jammern oder die Aussicht auf ein späteres Erbe an sich bindet. Sie handelt vorausschauend im Blick auf den Jungen. Auffallend ist, wie beide in ständiger Entsprechung und Bezogenheit wirken. In den Bergen angekommen, lässt der Enkel die Großmutter nicht hart auf den Boden plumpsen, sondern sucht weiche Gräser, die er unter einem Baum zu einem bequemen Sitz aufhäuft. Ruhig bleibt sie dort und sagt: ”Geh schnell zurück. Hab keine Angst!“

Eine solche Großmutter nehme ich mir gerne zum Vorbild. Sie beschönigt die Welt nicht, akzeptiert Widrigkeiten und Schmerzhaftes wie die totale Einsamkeit des Gebirges, mutet aber auch dem Jungen zu, mit ihr in dieses Abseits zu gehen, und vergisst nicht, ein tröstendes Großmutterwort mitzugeben. Hab keine Angst! Worte von Großmüttern sind häufig getränkt mit Zuversicht, denn diese wissen um die Wandlungskräfte des Lebens.

Gosaku kann in dieser Nacht nicht schlafen, seine Gedanken sind bei der Großmutter, und er entwickelt Überlebensfantasien. Am nächsten Morgen gräbt er unter dem Boden seines Hauses eine Höhle. Dort verbringt die heimlich zurückgeholte Großmutter ihr Exil, wobei sie mit Essen und Trinken und mit zärtlichen Worten versorgt wird. Der Enkel hat der Großmutter einen Platz im unteren Bereich seines Hauses zugewiesen. In der Erde ist sie sicher. Durch den Rückzug an diesen Ort verbindet sie sich und Gosakus Haus mit den Wurzeln. Das ist gut so, denn eine Zeit der Not bricht nun über das Land herein, weil der Fürst des Nachbarlandes dreiste Forderungen stellt in Form von unlösbaren Aufgaben. Niemand im ganzen Reich weiß Rat. Aber Gosaku fragt die Großmutter. Ihre Antwort auf die unmöglich erscheinende Aufforderung des Feindes:”Schick mir das Ascheseil! Sonst falle ich in dein Land ein!“ kommt aus der Tiefe der Erde.

Die Großmutter weiß Rat. Nach der Beantwortung der zweiten Aufgabe, einen Faden durch ein gewundenes Loch in eine Kugel führen, muss der Fürst bewundernd feststellen: ”Welch ein kluger Kopf lebt in unserem Land!“ Dieser Ausspruch bringt, ohne die Großmutter zu benennen, ihre Person wieder ins öffentliche Bewusstsein. Aber erst als die dritte Aufgabe gelöst ist, eine Trommel herbeizuschaffen, die von selber schlägt, steht auch für den feindlichen Fürsten fest, dass er keine Chance hat, in ein Land einzufallen, in dem so weise Menschen wohnen.

Mit diesem Lob könnte sich Gosaku eigentlich zufrieden geben, denn er hat die Taschen voll mit Belohnung und wird von allen bewundert. Doch in diesem Märchen wie auch bei den Varianten mit derselben Thematik (” Werft die Alten hinaus!“ oder ”Die Ermordung der Greise“) verlangt das Leben im Generationenverbund eine andere Lösung: Eine Großmutter darf nicht abgesperrt und abgeschirmt im Dunkel einer Höhle hocken. Sie muss ans Licht der Öffentlichkeit. Gosaku hat keine Scheu, dem Fürsten sein eigenmächtiges Handeln zu gestehen. Und diese Mitteilung bewirkt die Rücknahme des lebensfeindlichen Befehles ”In die Berge mit den Alten!“ Ab sofort dürfen Rentner und Pensionäre wieder in ihre Heimat. Wer diesem Grundsatz entgegenhandelt, soll in den einsamen Bergen ausgesetzt werden.

Großmutters Weg ging in die dunkle Einsamkeit der Nacht in den Bergen, dann erfolgte der Abstieg in die Tiefe der Erdhöhle. In diesem Prozess erneuerte sie sich. Der Kontakt zu ihren jungen Kräften macht diesen Wandlungsprozess möglich und schützt sie vor einer lebensfeindlichen Altersstarre. Wie viele Alte aber gibt es in unserer Zeit, die sich in diesem Zustand der Erstarrung eingebunkert haben!

Am Ende findet sich die Großmutter rehabilitiert in ihrem Status als alte Frau. Möglich wurde dies aber nur, weil der Enkelsohn kraft seiner natürlichen Bezogenheit zu ihr jeden Schritt auf seine Weise mitgemacht hat. Er verschaffte ihr den Platz in der Höhle, brachte die Nachrichten aus der Außenwelt und trug die Antworten auf die unlösbar scheinenden Fragen wieder hinaus. Gosaku wurde zum Sprachrohr der Großmutter, bis sie erneut im hellen Licht leben darf.

In dieser Beziehung einer Großmutter zu ihrem Enkel sucht man das Moment der Verdrängung oder Isolierung vergebens. Deshalb ist am Ende auch die Sorge vor dem Rentnerberg geschwunden. Die Angst der herrschenden Generation um ihre Zukunft und Lebensperspektive hat sich gewandelt. Das Glück ist in das Land wieder eingekehrt. Es folgt aus dem Erleben des Kontinuums im Zusammenleben von Jung und Alt. Sich gespiegelt sehen in der nachfolgenden Enkelgeneration bewirkt eine Erfahrung des Glücks bei den Großeltern. Umgekehrt bedeuten Großeltern in einer sich immer stärker wandelnden Welt das Kontinuum im Leben der Enkelgeneration.

Am Schluss noch einmal die Frage: ”Was macht die Großmutter im Märchen?“ Ob sie nun als helfende und gute Figur gemalt wird oder als Angst erregendes Ungeheuer, immer drücken sich in diesen Gestalten Lebenskräfte aus. Im Kontakt mit ihrem märchenhaften Spiegelbild steht die heutige Großmutter im Dienst des Lebens, und in der Beziehung zu den Enkelkindern erhält sie für diese Arbeit einen reichlichen Lohn.
 

Literatur

(1) Wolfgang Pfeifer (1993): ”Etymologisches Wörterbuch des Deutschen“, München.

(2) Herlyn, Kistner, Langer-Schulz, Lehmann, Wächter (1998): ”Großmutterschaft im weiblichen Lebenszusammenhang“, Eine Untersuchung zu familialen Generationenbeziehungen aus der Perspektive von Großmüttern. Beiträge zur gesellschaftlichen Forschung, Band 21, Pfaffenweiler.

(3) Walter Scherf (1995):”Das Märchenlexikon“, München.

(4) Clarissa P. Este´s (1993):”Die Wolfsfrau“, München.

(5) Brüder Grimm (1989):”Kinder- und Hausmärchen“, Stuttgart.

(6) Heyne, W. (1994): "Das kleine Buch…für die wunderbare Großmutter“, München.

(7) M. Ueberle-Pfaff (1994): ”Wie gut, dass es die Oma gibt “, Freiburg.

(8) Jutta Ecarius (2002):”Familienerziehung im historischen Wandel“, Opladen.

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Autorin

Gertrud Ennulat, Pädagogin, freie Autorin (gestorben 2008)

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Erstellt am 5. Februar 2003, zuletzt geändert am 5. August 2010