Mutterschaft heute: Von der Erziehungsarbeit zum Kindheitsmanagement?
Dr. Judith Pasquale
In diesem Beitrag geht es um die Arbeit der Mütter. Auf der Grundlage einer Befragung werden verschiedene Aufgabenbereiche unterschieden.
Semiprofessionalisierung der Mutterarbeit?
Wie gestaltet sich kindliches Aufwachsen? Welchen Stellenwert hat in diesem Zusammenhang die Arbeit der Mütter? Die Vergesellschaftung von Kindheit macht Fortschritte. Mutterarbeit nimmt damit von ihrem Umfang her ab. Der Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz für unter Dreijährige und die Nachmittagsbetreuung in den Grundschulen haben mütterliche Spielräume auf ein eigenes Leben vergrößert. 51% der Kinder zwischen drei und elf Jahren wachsen in Familien mit zwei berufstätigen Elternteilen auf (World Vision Kinderstudie, 2013). Auch Väter gehen in Elternzeit, so dass zumindest tendenziell die Arbeitsteilung bezogen auf die Arbeit mit den Kindern in der Familie voranschreitet. Gegenläufigen Tendenzen ist die Mütterrente geschuldet. Sie bedient ein traditionelles Familienbild mit berufstätigem Vater und einer als Hausfrau zuhause arbeitenden Mutter. Die Wahlfreiheit für junge Paare, wie sie das Aufwachsen ihrer Kinder gestalten wollen, scheint zuzunehmen.
Jenseits der medial gerade in den Vordergrund gespülten Top-Themen bleibt sie dennoch durchweg weitgehend unberührt und ist täglich neu zu erbringen, die Arbeit der Mütter. Fakt ist: Mütterliche Arbeit am Kind ist notwendig, sie wird als selbstverständlich vorausgesetzt und soll auf ein Leben in der Gesellschaft von Morgen vorbereiten. Solange es nicht zu nennenswerten Problemen kommt, ist sie Privatsache. Es gibt nach wie vor kaum Bestrebungen, Mutterarbeit qualitativ abzusichern oder sie durch gezielte Bildungsangebote auf breiter Basis zu professionalisieren.
Geschlechterrollen, Lebensentwürfe und Erwerbsarbeitswelten unterliegen weitreichenden Wandlungsprozessen mit entsprechenden Auswirkungen auf das Aufwachsen von Kindern und auf die Arbeit der sie betreuenden Erwachsenen. Auch wenn Kindheit tendenziell stärker in pädagogische Institutionen ausgelagert wird, gehört die Erziehungsarbeit in der Familie nach wie vor schwerpunktmäßig in den Zuständigkeitsbereich der Mütter.
Wie also steht es um Mutterschaft heute und den damit verbundenen Aufgaben und Pflichten? Eine steigende Zahl von Müttern verfügt heute über eine wissenschaftliche Ausbildung in pädagogischen oder sozialpädagogischen Arbeitsfeldern. Diese Müttergruppe setzt Maßstäbe für professionelle Standards in der Mutterarbeit. Eine Art Mutterelite hat sich etabliert und bietet Orientierung für die breite Masse der Mütter, die sich mit zunehmender Tendenz an diesen Vorbildern ausrichtet und ihr Handeln fachlich begründet oder ihm pädagogisch nachvollziehbare Kriterien zugrunde legt. Das unübersehbare Qualifikations- und Bildungsinteresse auch nicht akademisch gebildeter Mütter zeigt sich u.a. in einem anhaltenden Boom der Ratgeberliteratur.
Beobachtbar ist auch auf breiter Basis die Tendenz, kindliches Aufwachsen weniger als früher dem Zufall zu überlassen. Mütter richten ihr Augenmerk in der frühesten Kindheit z.B. auf Fragen der Entwicklungspsychologie: Inwieweit sind die Entwicklungsschritte des Kindes altersadäquat? Wo sind Verzögerungen festzustellen, die Anlass geben, Förderprogramme zu konzipieren oder Expert/innen zu konsultieren? Wo tauchen Krisen und Probleme auf, die fachlich pädagogische Interventionen erfordern?
Auf diesem Hintergrund lässt sich von einer Tendenz zur Semiprofessionalisierung der Mutterarbeit sprechen, obwohl gleichzeitig kein Zweifel daran besteht, dass die Arbeit mit Kindern (im Privatbereich) jemals ganz den Kriterien einer Vollprofession entsprechen wird, da sich hier bestimmte Beziehungsqualitäten mit geplantem und reflektiertem Handeln vermischen. Die Arbeit der Mütter kommt über den Status der Semiprofession auch deswegen nicht hinaus, weil es bis heute kaum gelungen ist, eigene (verbindliche) Standards zu definieren (vgl. Pasquale 1998).
So bewegt sich mütterliches Handeln insgesamt in einem Spektrum von spontanem Agieren nach Gutdünken über problembezogene Spezialisierungstendenzen bis hin zu reflektierter und nach wissenschaftlichen Kriterien ausgerichteter Kindheitsinszenierung, die sowohl die gesellschaftlichen Erfordernisse als auch die jeweils spezifische Entwicklungssituation des Kindes berücksichtigen. Auch wenn sich im Einzelfall jeweils dominante und weniger dominante Handlungsmodi nachweisen lassen, ist grundsätzlich von einer Durchmischung aller drei Typen im Erziehungsalltag auszugehen, wenn auch mit unterschiedlichen Gewichtungen. Zudem zeigt sich Mutterarbeit durchweg in Abhängigkeit von wissenschaftlichen und professionellen Expert/innen wie Mediziner/innen, Lehrer/innen, Erziehungswissenschaftler/innen und Theolog/innen.
Neben den individuell verschiedenen Problembereichen kindlicher Entwicklung, die für viele Mütter Anlass für eine spezifische Qualifizierung darstellen, lassen sich bestimmte Arbeitsfelder als eine Art Standardanforderung für die Mutterarbeit bestimmen. Im Folgenden werden einzelne Arbeitsfelder von Müttern zunächst thesenartig verdichtet dargestellt, um sie dann jeweils mit Beispielen aus einer Fallstudie, an der sieben Frauen teilgenommen haben, zu illustrieren (vgl. Pasquale 1998). Die Auswahl der Familien erfolgte nach theoretischen Gesichtspunkten (theoretical sampling). Für eine Fallstudie zur Kindheitsforschung wurden sieben Familien mit zehnjährigen Schulkindern über eine Anfrage an verschiedenen Grundschulen im Siegerland ausgewählt (vgl. Behnken/ Zinnecker 1992).
Die Idee, sich über die Fragen von Kindheit auch mit den Müttern der Zehnjährigen zu unterhalten, ist die Grundlage meiner Mütterforschung. Die von mir interviewten Mütter wurden also nicht speziell für meine Untersuchung ausgewählt, sondern sie oder ihre Familien hatten sich zuvor bereit erklärt, in der Kindheitsforschung mitzuarbeiten. So ergab sich, was Ausbildung und Berufstätigkeit der befragten Mütter angeht, ein Spektrum von der Bank- oder Bürokauffrau über die Handballtrainerin bis hin zu den sozialen Berufen Erzieherin, Krankenschwester, Sozialpädagogin und Oberstudienrätin. Alle interviewten Frauen sind im weitesten Sinne im sozialen Mittelfeld zu verorten, so dass die sozialen Bedingungen (in erster Ehe verheiratet, ökonomisch gesichert, in vollständigen Familien lebend) insgesamt als vergleichbar gelten können.
Physische Versorgung
Zu den zentralen Professionalisierungsfeldern der frühen Mutterarbeit gehört die physische Versorgung, die sich zunächst auf elementare Körperpflege, Ernährung und medizinische Versorgung bezieht. In der frühen Phase entwickelt sich über diesen Arbeitssektor ein komplexes Interaktionssystem zwischen Mutter und Kind. In dieser Zeit entwickelt die Mutter Subjektive Theorien bezogen auf Mutterschaft, Kindheit, gesellschaftliche Entwicklungsprozesse usw., auf deren Hintergrund sie sich als Mutter etabliert.
In ihrer Arbeit als Mutter wird Frau Falk (Bankkauffrau) bereits in einer sehr frühen Phase mit krankheitsbedingten Aufgaben konfrontiert. Aufgrund der bis heute gesammelten Erfahrungen sieht sie Krankheiten ihrer Kinder in erster Linie durch Umwelteinflüsse bedingt und bezeichnet ihre Tochter als “geschädigt” , da sie unter allergiebedingter Luftnot leidet. “…wenn sie wieder anfängt zu husten, mitten im Sommer, ohne Erkältung, dann ist der Ozongehalt der Luft nicht in Ordnung.”
Auf dem Hintergrund der ärztlichen Diagnose entwickelt sich Frau Falk zur umwelt-medizinischen Expertin, die einerseits die ärztlichen Anweisungen (tägliches Inhalieren) minutiös befolgt, andererseits aber darüber hinaus eigene Handlungskonzepte entwickelt, wie allergikerfreundliche Wohnraumgestaltung, Überwachung der Kleidungsgewohnheiten als Schutz vor Erkältung bis hin zu Klimakuren und Segelflügen, die die angegriffenen Bronchien der Tochter heilen bzw. entlasten sollen. Zudem hat die medizinische Versorgung Auswirkungen auf soziale Räume, die häufig Schutzvorkehrungen durch die Mutter erfordern – z.B. vor der Klassenreise in die Jugendherberge ist die allergikerfreundliche Schlafstätte für die Tochter sicherzustellen. Zudem ist auf der Beziehungsebene die Tochter als geduldige Patientin auszubilden, die bereit ist, sich den Maßnahmen zu ihrer eigenen Gesunderhaltung kontinuierlich zu unterziehen bzw. sie in Eigenregie durchzuführen.
Gesundheitsmanagement bildet in diesem Fall den Arbeitsschwerpunkt der Mutterarbeit. Hier etabliert sich auf Seiten der Mutter ein komplexes Handlungsmuster auf verschiedenen Ebenen, von der Zusammenarbeit mit Expert/innen, über das Selbststudium (Beobachtung, Sammeln von Erfahrungswerten) und die gezielte Gestaltung der kindlichen Lebenswelten bis hin zum adäquaten Umgang mit der Patientin, die immer wieder zur Zusammenarbeit zu motivieren ist.
Sozial-kommunikative Versorgung
An die Stelle pädagogischer Disziplinierung ist ein facettenreiches Spektrum pädagogischer Verhaltens- und (Ver-) Handlungsmuster getreten, die das Kind als autonome Persönlichkeit und kommunikationskompetentes Gegenüber ernst nehmen. Kinder sollen möglichst früh selbständig handeln und sich aktiv mit ihrer Lebenswelt auseinander setzen. Mütter schaffen den Rahmen dafür, indem sie die Ausstattung der kindlichen Lebensräume mit Menschen (Erwachsenen und Kindern) sicherstellen, um ihren Kindern ein Spektrum sozialer Erfahrungen zu ermöglichen.
Frau Theis (Sozialpädagogin) ist Mutter eines adoptierten Kindes und arbeitet schwerpunktmäßig an der sozialen Integration ihres Sohnes. Dieser, so entnehmen wir ihren Erzählungen, müsse sich einerseits immer wieder Gleichaltrigen gegenüber “beweisen” , andererseits sei er aber auch “unglaublich schnell sehr beliebt.” Von Anfang an steht für Frau Theis kindliches Aufwachsen unter dem Vorzeichen des kindgerechten sozialen Umfeldes. So stand bereits die Auswahl des Wohnortes unter dem Vorzeichen optimaler Kontaktmöglichkeiten für den Sohn. Während der Kleinkindzeit übernahm die Mutter Fahrdienste, um Kinderfreundschaften zu ermöglichen.
Auch wenn sich der Zehnjährige heute weitgehend eigenständig in seinen sozialen Kontexten bewegt, verfolgt Frau Theis jeweils sensibel und einfühlsam die entwicklungsbezogenen neuen sozialen Anforderungen. So beobachtet sie erste erotisch anmutende Kontakte des Jungen zu Mädchen. Sie greift nicht ein, sondern hält sich als Gesprächspartnerin bereit. Die ersten “Liebesbriefchen” , die sie in diesem Zusammenhang findet, hebt sie auf – als Kindheitsdokumente für spätere Zeiten.
Ein anderes Beispiel für sozial-kommunikative Versorgungsarbeit ist die Unterstützung des Sohnes in institutionsbezogenen Entscheidungen. Hier steht die Frage an, ob Tommy zugunsten seiner weiteren Sportkarriere im Schwimmen eine Freundesgruppe verlassen soll oder ob er seine Sportkarriere beendet. Frau Theis wägt eine Zeit lang Chancen und Risiken der jeweiligen Entscheidung ab und kommt unter Berücksichtigung vielfältiger Faktoren zu dem Ergebnis, dass dem Integrationsgedanken gegenüber zu hohen Leistungsambitionen der Vorrang gegeben werden sollte.
Insgesamt begleitet sie die Sozialkarriere ihres Sohnes reflexiv und emphatisch. Ihre Aufgabe als Mutter sieht sie darin, soziale Tiefschläge zu mildern, formelle oder informelle Kontaktangebote zu erschließen bzw. diesbezügliches Engagement des Jungen zu unterstützen. Während sie selbst sich als Ansprechpartnerin für ihren Sohn bereithält, bleibt sie aber heute sorgsam abwägend im Hintergrund, bis die konkrete Nachfrage durch ihren Sohn an sie gerichtet wird.
Psychisch-emotionale Versorgung
Mütter qualifizieren sich zunehmend als eine Art Sozialtherapeutinnen, die Grenzen, Schwächen oder psychische Notlagen ihrer Kinder erkennen, ernst nehmen und bearbeiten. Auf dem Hintergrund ihrer sensiblen Beobachtung des Kindes entwickeln sie situationsadäquate Lösungsvorschläge und Strategien, um langfristig kindgerechtes Krisenmanagement zu gewährleisten.
Frau Bald (Erzieherin) hat ebenfalls mit einem “allergiegeschädigten” Kind zu tun. Balduin, ihr zehnjähriger Sohn, neigt “allergiebedingt” gelegentlich zu Konzentrationsschwäche und allgemeiner Unruhe. “Manchmal schafft er drei, vier Termine locker an einem Nachmittag, ein anderes Mal heißt es, ´muss ich schon wieder´…” Frau Bald sieht ihre Aufgabe darin, auf dem Hintergrund der jeweiligen Tagesbefindlichkeit ihres Sohnes nachmittägliche Anforderungen durch Schule und Freizeit optimal zu koordinieren: Hausaufgaben, institutionelle Freizeitangebote, Familienaktivitäten, Übungsstunden (Geige) und Freundestreffen. “Man muss das halt nur geregelt kriegen bei ihm.”
Frau Bald hat sich zum Ziel gesetzt, die kindlichen Leistungsressourcen optimal zu nutzen, ohne die Überforderungsgrenze zu überschreiten. Auch hier zeigt sich ein breites Spektrum erforderlicher Kompetenzen, die notwendig sind, um die psychische Stabilität des Kindes zu gewährleisten. Zum einen geht es um die Entwicklung einer langfristigen Perspektive, in diesem Fall: das gesunde, maximal erfolgreiche Kind in Schul- und Freizeitkarrieren (Musik, Sport, soziale Kompetenz). Dann steht die tägliche Umsetzung dieses Fernzieles unter Berücksichtigung der kindlichen Individualität (allergiebedingte Konzentrationsschwäche) und seiner jeweiligen Tagesform an. Auch hier muss das Kind als Kooperationspartner gewonnen und immer wieder zur Zusammenarbeit motiviert werden. Außerdem ist der eigene Einsatz situationsadäquat zu dosieren, weil die Gefahr besteht, dass “Fehler” die Kooperationsbereitschaft des Kindes minimieren und das Fernziel infrage stellen.
Kulturelle Versorgung
Die Bedeutung des Arbeitsfeldes Schule/ Lernen hat in der mittleren Kindheit höchste Priorität, auch wenn Mütter hier wenig eigene Gestaltungsfreiräume haben und sie ihre administrative Rolle zuweilen als Zumutung empfinden.
Frau Daubt (Bürokauffrau) beschreibt ihr Ziel bezogen auf die kindliche Schulkarriere wie folgt: “Was ich schon gerne möchte, ist ein vernünftiger Schulabschluss, ob sie jetzt nachher studiert oder nicht, dass sie wenigstens einen vernünftigen Beruf dann hat.” Frau Bald (Erzieherin) beklagt die Anforderungen und Probleme, die durch die Schule in das Kinder- bzw. Familienleben hinein getragen werden: “Wenn er Probleme hat, ist das meistens Schule, das kann die ganze Familie fertig machen.” Mütter sehen sich eher unfreiwillig in der Rolle der Hilfslehrerin: “…mal braucht er mich überhaupt nicht, und dann kommt er dreimal in der Woche, oder dann kommt er mal jeden Tag und dann ´Hilf mir jetzt sofort´” .
Schulwahl und Schulerfolg sind in der Einschätzung von Müttern unabdingbar mit einer bestimmten Chance zur gesellschaftlichen Verortung verknüpft und daher von herausragender Bedeutung für die Mutterarbeit (Tendenz steigend, s. Nachhilfekosten). Auch wenn das damit verbundene Arbeitsspektrum weitgehend durch administrative Auftragsarbeit gekennzeichnet ist, qualifizieren sich Mütter – in Abhängigkeit von Professionellen (Lehrer/innen) -, um den Anforderungen gerecht zu werden. Hier findet sich wiederum ein Indiz für die Semiprofessionalität der Mutterarbeit. Abgesehen davon, dass Schule die Zusammenarbeit mit den Eltern – auch im Sinne des Hilfslehrer/innenstatus – voraussetzt, wäre schon ein hohes Maß an professioneller Distanz notwendig, damit es Müttern gelänge, die Schullaufbahn zwar den kindlichen Fähigkeiten entsprechend zu managen, die Alltagsinteraktion aber weitgehend auf der Ebene Kind-Schule zu belassen.
Hinzu kommen Aufgaben im Bereich Freizeitmanagement, wo es kindliche Interessen und Begabungen optimal zu entwickeln und die Alltagsaufgaben bei der Realisierung des Freizeitprogramms zu gewährleisten gilt. Mütter finden hier einerseits ein Feld, das ihnen mehr Freiräume eröffnet als die Begleitung der Schulkarriere, andererseits befinden sie sich hier in einem gewissen Zugzwang. Ihr Kind soll nicht hinter den anderen zurückstehen und möglichst Grundfertigkeiten in verschiedenen Kompetenzbereichen erwerben. Zu den Standards gehören Sport und Musik, Angebote, die Zusammengehörigkeit und soziale Kompetenz steigern (Pfadfinder, Kinderbibelclub, Messdiener…). Gleichzeitig bietet sich hier ein mütterliches Arbeitsfeld, in dem sowohl besondere Ambitionen der Mütter als auch spezielle Begabungen des Kindes zur Geltung gebracht werden können. Mit zunehmendem Alter melden die Kinder eigene Bedürfnisse und Interessen an, die zu berücksichtigen sind, soll eine Freizeitkarriere den gewünschten Erfolg haben.
Frau Kreft (Oberstudienrätin) macht Verzögerungen im Bereich der motorischen Entwicklung ihrer Tochter aus. Die kindlichen Freizeitkarrieren sind somit zunächst angelegt auf Defizitkompensation im motorischen Entwicklungsbereich (Gymnastik, Schwimmen, Ballett). Diese Angebote wurden von der Mutter aufgrund eigener Fachkompetenz im frühen Kindesalter für die Tochter ausgewählt. Als die Mutter – in der späteren Kindheit – die als zu gering eingestufte Durchsetzungsfähigkeit ihrer Tochter durch die Anmeldung zum Judo zu kompensieren sucht, lehnt Kristin dieses Angebot als zu “unfein” ab und entscheidet sich für das Reiten. Frau Kreft gibt nach, auch wenn sie bei ihrer Meinung bleibt, “…das wär´ für sie gut gewesen, besser als Reiten.”
Im Freizeitbereich haben Mütter ein sensibles Selbst-/ Fremd-Management zu leisten, in dem einerseits ihre eigenen Präferenzen abzuwägen sind, andererseits die besonderen Begabungen und Bedürfnisse des Kindes zur Richtschnur des Handelns werden müssen. Freizeitkarrieren erfordern letztlich die enge Zusammenarbeit zwischen Mutter und Kind, sollen sie von Erfolg gekrönt sein. Besondere Sensibilität ist an den Schnittstellen von Karriereabbrüchen und der Wahl neuer Interessenschwerpunkte gefragt. Für die Mütter bedeutet dies – mit zunehmendem Alter der Kinder – ein hohes Maß an Kooperationsbereitschaft, Flexibilität und die Fähigkeit, eigene Ambitionen zu revidieren.
Resümee
Angesichts der vielfältigen Aufgabenfelder, die hier nur angedeutet werden konnten, ist von einem impliziten Qualifizierungsdruck auf Mütter auszugehen, dem sie offensichtlich in immer größerem Ausmaß nachkommen. Ihre Tätigkeitsprofile unterscheiden sich im Einzelfall und tendieren mehr oder weniger in Richtung fachlich reflexiver Absicherung des eigenen Handelns: Je nachdem, wo sich in der Wahrnehmung der Mutter die Hauptprobleme kindlichen Aufwachsens abzeichnen, kristallisieren sich zusätzlich zu den inzwischen fast allgemeingültigen Standardanforderungen – die ich oben dargestellt habe – individuelle Tätigkeitsschwerpunkte heraus.
Ohne dafür materiellen oder ideellen Lohn erwarten zu können, avancieren Mütter zu Expertinnen für Kindheit. Sie qualifizieren sich für die – angesichts des beschleunigten gesellschaftlichen Wandels unabdingbar gewordene – Vermittlungsfunktion zwischen dem Kind und der modernen Lebenswelt. Mal agieren sie eher beschützend und bewahrend, ein anderes Mal reagieren sie offensiv und innovativ auf die Entwicklungstendenzen modernen Kinderlebens. Gleichzeitig übernimmt das Kind bereits sehr früh die Funktion des Schrittmachers, von dem – im günstigen Fall – die Mutter lernt, indem sie kindliche Vorgaben und Ambitionen aufgreift und diese professionell managt.
Offen bleibt abschließend die Frage, inwieweit sich die Kluft zwischen “Profi-Müttern” und “Nicht-Profi-Müttern” und somit die Kluft zwischen den jeweiligen Kindergruppen vergrößert. Um diese Frage schlüssig beantworten zu können, müsste zum einen eine größere Mütterpopulation befragt werden, zum anderen wären Kriterien zu benennen, die sowohl die (subjektiv erfolgreiche) Mutterarbeit als auch die “gelungene” Kinderpersönlichkeit oder die Kinderkarrieren erfassen. Das Unterfangen einer abschließenden Einschätzung gestaltet sich auch deswegen schwierig, weil professionelles Handeln sich meistens nur auf mehr oder weniger große Teilbereiche der Mutterarbeit bezieht, während in vielen anderen Fällen aufgrund der emotionalen Verstrickung von Müttern und Kindern spontanes Handeln dominiert.
So bleibt die Arbeit der Mütter eine Semiprofession mit der Tendenz zu Verwissenschaftlichung und Reflexivität, die auf der Ebene der Kinder in Richtung Individualisierung und Vergesellschaftung von Kindheit weist. Je professioneller eine Mutter zu agieren vermag, um so eher dürfte das komplexe Zusammenspiel von kindlicher und mütterlicher Persönlichkeit innerhalb eines bestimmten gesellschaftlichen Kontextes gelingen.
Mutterschaft heute ist damit ein Beispiel für tendenziell qualitativ hochwertige Arbeit ohne Gegenleistung. Auf dem Hintergrund der Entwicklung in Richtung Vergesellschaftung von Kindheit zeigt sich eine Verschiebung des Tätigkeitsschwerpunktes von der Erziehungsarbeit in Richtung Kindheitsmanagement mit den Schwerpunkten Begabungsförderung, Psychohygiene, Sozialmanagement, Terminkoordination, Auswahl unterstützender Expert/innen, Delegation bestimmter Versorgungs- und Betreuungsaufgaben… Hinzu kommen die alltäglichen Pflege- und Versorgungsarbeiten.
Die Bereitschaft, auch schon sehr früh mit dem Kind selbst zu kooperieren und sich auf einen wechselseitigen Lernprozess einzulassen, bedeutet für die Kinder das Aufwachsen in einem “Verhandlungshaushalt” (du Bois Reymond 1994), für die Mütter kommunikative und empathische Kompetenzen, die situativ abgefragt werden und einen dauernden reflexiven Prozess im Kontakt mit dem Kind erfordern.
Was Umfang und Dauer der Mutterarbeit betrifft, könnte der Begriff “Tendenz steigend” die Richtung weisen. Jugendliche und junge Erwachsene zeigen – wenn der mütterliche/ elterliche Service stimmt – weniger die Tendenz, das Elternhaus möglichst schnell zu verlassen. Sie nutzen ihre Freiräume im geschützten Rahmen des vertrauten Nestes inklusive finanzieller, versorgungspraktischer und kommunikativer elterlicher Leistungen. Inwieweit sich hieraus eine Verlängerung des mütterlichen Arbeitsauftrages und damit tendenziell Mutterarbeit mit “open end” ergeben, ist ebenfalls noch nicht letztendlich geklärt.
Abschließend sei noch einmal darauf hingewiesen, dass sich die zugrunde liegende Fallstudie auf das Modell “Normalfamilie” bezieht. Alleinerziehende Mütter sind hier ebenso wie in zweiter oder dritter Beziehung lebende Frauen nicht erfasst. Managementarbeit der Mütter dürfte hier jedoch einen noch größeren Raum einnehmen, weil ein Mehr an Kooperation und Rechtfertigungsdruck mit pädagogischen Institutionen oder früheren Partnern (Väter der Kinder) hinzukommt.
Literatur
- Beck-Gernsheim, Elisabeth (1989): Mutterwerden, der Sprung in ein anderes Leben. Frankfurt
- Beck-Gernsheim, Elisabeth (1990): Das halbierte Leben. Männerwelt Beruf – Frauenwelt Familie. Frankfurt
- Behnken, Imbke/ Zinnecker, Jürgen (1992): Projekt Kindheit im Siegerland. Modernisierung von Kindheit im inter- und intragenerativen Vergleich. Familien- und regionbezogene Fallstudien von Kindern, Eltern und Großeltern. Zielsetzung, Forschungsdesign, Methoden. Hochschulinterne Veröffentlichungsreihe Nr. 1. Siegen
- du Bois-Reymond, Manuela (1994): Die moderne Familie als Verhandlungshaushalt. Eltern-Kind-Beziehungen in West- und Ostdeutschland und in den Niederlanden. In: du Bois-Reymond, Manuela (Hrsg.): Kinderleben. Modernisierung von Kindheit im interkulturellen Vergleich. Opladen, S. 137-271
- Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft. Zeitschrift der Bildungsgewerkschaft GEW. Heft 4/2001. Frankfurt
- Gaschke, Susanne (2001): Die Erziehungskatastrophe. Kinder brauchen starke Eltern. Stuttgart, München
- Gerster, Petra/ Nürnberger, Christian (2001): Der Erziehungsnotstand. Wie wir die Zukunft unserer Kinder retten. Berlin
- Pasquale, Judith (1998): Die Arbeit der Mütter. Verberuflichung und Professionalisierung moderner Mutterarbeit. Weinheim, München
- Rerrich, Maria S. (1983): Veränderte Elternschaft. Entwicklungen in der familialen Arbeit mit Kindern seit 1950. In: Soziale Welt Nr. 34. Göttingen. S. 420-449
- Rerrich, Maria S. (1990): Balanceakt Familie. Zwischen alten Leitbildern und neuen Lebensformen. Freiburg
- World Vision Kinderstudie 2013
Autorin
Dr. Judith Pasquale ist Erziehungswissenschaftlerin. Ihre Dissertation “Die Arbeit der Mütter” erschien 1998 im Juventa Verlag (Weinheim, München). Ihre freiberufliche Tätigkeit “Elternservice” umfasst: u. a. Elternberatung, Begabungsförderung und lerntherapeutische Begleitung
Kontakt
Dr. Judith Pasquale (Dipl. Päd.)
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Erstellt am 27. November 2003, zuletzt geändert am 16. Juli 2014