Von Müttern und der Langeweile

Jacqueline Fehr
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"Ich habe wenigstens meine Aufgabe,  so klar war sie noch nie
für das Kind da sein, vierundzwanzig Stunden am Tag
bereit auch die kleinste Träne zu trocknen
das macht das Leben einfacher
aber nicht frei von einer Langeweile
die man als Mutter nicht einmal sich selbst zuzugeben wagt."

Dieses Gedicht entdeckte ich im aktuellen Jahresbericht von Valentina. Es sind traurige Zeilen. Zeilen, aus denen eine große Müdigkeit spricht. Wenigstens habe ich eine Aufgabe. Eine sogar, die rund um die Uhr dauert. Ich habe ein Kind. Das ist meine Aufgabe. Sie macht das Leben einfacher. Die Aufgabe, das Kind, sind aber auch der Grund, die Quelle einer Langeweile, die nicht sein darf, die man als Mutter nicht zugeben darf.

Gedanken. Hingeworfen so lose, wie sie in Köpfen von Müttern zu finden wären, wenn man in die Mütter hineinsehen würde. In die Mütter? In alle Mütter? Selbstverständlich nicht. Die Gefühle der Mütter sind so vielfältig wie die Kinder, die sie zur Welt bringen. Viele Mütter werden leicht, wenn sie ihr Kind in den Armen tragen. Sie finden Halt in der neuen Aufgabe. Sie werden stark und blicken vorwärts. Für andere ist die Aufgabe, für ihr Kind zu schauen, ein Trost. „Wenigstens habe ich eine Aufgabe.“ Und für wieder andere ist es eine Last, an der sie beinahe zerbrechen.

Das Gedicht spricht von der Langeweile der Mütter. Kennen Sie das Gefühl der Langeweile? Mit dem Kind, wegen des Kindes, trotz des Kindes? Darf es Müttern langweilig sein? Sie haben doch das Kind. Ein unschuldiges, hilfloses Wesen, das vierundzwanzig Stunden versorgt werden will. Ist nicht eher das Gegenteil das Problem? Dass Mütter zu viel müssen? Dass sie nie Zeit haben? Dass das Gefühl, die Weile sei lange, gar nie mehr einstellt?

Der Partner der Langeweile ist die Einsamkeit. Nicht das Alleinsein, sondern die Einsamkeit. Einsam ist nicht dasselbe wie allein sein. Wir können alleine, aber trotzdem nicht einsam sein. Wir können aber auch nicht alleine und trotzdem einsam sein. Damit wir nicht einsam sind, brauchen wir die Auseinandersetzung mit unserer Umwelt. Wir möchten wahrgenommen werden, eine Rolle spielen, einen Beitrag leisten. Und zwar auf derselben Augenhöhe. Wir sind nicht nur Teil einer familiären Umgebung, sondern auch Teil einer gesellschaftlichen Umwelt. Die Kontakte zu anderen erwachsenen Personen sind für unser Wohlbefinden entscheidend. Sie sind das Gegenstück zur Hinwendung, die wir unserer Familie und Mütter insbesondere ihren Kindern schenken.

Längst ist bekannt, dass Langeweile und Einsamkeit häufige und oft hartnäckige Begleiter der Mütter in unserer Gesellschaft sind. Die Geburt wird geplant und muss in die Agenda passen. Das Wochenbett wird verkürzt, um die Spitalbetten leer zu bekommen. Die Freitage der Väter sind beschämend wenig und können oft nicht einmal bezogen werden. Fazit? Die Mütter sind oft stundenlang mit ihrem Neugeborenen alleine zu Hause. Sie haben keine Gesprächspartnerinnen oder –partner, sie haben keine Unterstützung, keine Ablösung, kaum mehr Kontakt zu ihrem bisherigen sozialen Umfeld. Und hier nisten sie sich ein, die Langeweile und die Einsamkeit.

„Um Kinder groß zu ziehen, braucht es ein ganzes Dorf.“ Dieses afrikanische Sprichwort gilt bereits ab Geburt. Mütter sollten nicht allein sein. Mütter sollten sich nicht ausschließlich um das Kind und den Haushalt kümmern müssen. Mütter sind nicht alleine für ihre Kinder verantwortlich. Mutter zu werden, heisst nicht, alles andere zurück stellen zu müssen. Mütter sollten auch anderes tun können und dürfen. Ihren eigenen Interessen nachgehen, in Ruhe eine Zeitung lesen, interessante Gespräche führen, eine Ausstellung oder ein Konzert besuchen und selbstverständlich beruflich weiterhin aktiv sein.

Die Verhütung macht es heute möglich, dass Frauen bewusst auf Kinder verzichten können. Umgekehrt bedeutet die Möglichkeit der Verhütung, dass sich Frauen meist ebenso bewusst für Kinder entscheiden müssen. Fatalerweise wird aus dieser Freiheit des Entscheids ein Verantwortungs- und Fürsorgekorsett für die Mütter geschaffen, das vielen Mütter die Luft zum Leben abschneidet. Aus dem bewussten Entscheid für ein Kind wird dem Kind im mütterlichen Leben eine Stellung eingeräumt, die keinen Platz für anderes lässt. Das tönt dann so: „Wenn sie schon ein Kind wollte, soll sie jetzt auch für dieses da sein. Sie muss halt die anderen Interessen zurück stellen. Man kann nicht alles haben. Sie muss nicht ein Kind wollen und kaum ist es da, wieder nach Entlastung rufen. Niemand ist heute gezwungen, ein Kind zu haben. Sie hätte es sich vorher überlegen können.“ Und so weiter. Mutter sein und ein Kind haben wird dabei zu einer Aufgabe, die nicht nur alles andere in den Schatten stellt, sondern auch einer Logik des klaren Entweder-Oder folgt. Entweder das Kind oder die berufliche Verwirklichung. Entweder Mutter oder Berufsfrau. Entweder mütterliche Fürsorge oder individuelle Freiheit.

Diese Entwicklung ist erschreckend. Sie ist für die betroffenen Mütter, Väter, Kinder und Familien fatal, sie schafft Leid, sie grenzt aus und was vielleicht das Schlimmste ist: Sie ist völlig unnötig. Niemand wäre früher, als Kinder nicht gewählt werden konnten, auf die Idee gekommen, eine Mutter müsse immer und ausschließlich für die Kinder da sein. Niemand wäre auf die Idee gekommen, Kinder könnten nur dann glücklich sein, wenn Mütter ihre anderen Bedürfnisse verneinen, verdrängen oder gar verurteilen. Und niemand wäre auf die absurde Idee gekommen, Erziehung geschehe nur im Elternhaus.

Das Leben ist kein „Entweder-Oder“. Es ist ein Nebeneinander, ein Miteinander, ein Zueinander. Mütter sind auch dann gute Mütter, wenn sie manchmal genug von den Kindern haben. Mütter sind auch dann gute Mütter, wenn sie Distanz von den Kindern brauchen. Mütter sind auch und gerade dann gute Mütter, wenn sie ihren eigenen Bedürfnissen genügend Raum geben.

Familien und dabei vor allem Mütter sind heute unter Druck. Es werden immer weniger – immer mehr Paare verzichten auf Kinder – und folglich lasten auf den verbleibenden immer mehr Erwartungen. Allseits wird beklagt, dass die Eltern – und gemeint sind jeweils die Mütter – ihre erzieherische Verantwortung immer weniger wahrnähmen. Die Kinder seien heute zu wenig diszipliniert. Sie würden nicht mehr gehorchen und hätten bereits als Primarschülerinnen und –schüler das Gefühl, sie wüssten, was für sie gut sei.

Was auf den ersten Blick auf Zustimmung stößt, entpuppt sich bei näherer Betrachtung als absurd und vor allem zutiefst ungerecht. Eltern müssen heute ihre Kinder für die Welt von Morgen erziehen. Die Welt von Morgen wird von den Menschen vor allem verlangen, dass sie aus verschiedenen Möglichkeiten auswählen können, dass sie eigenverantwortlich handeln können und dass sie sich in einer vielfältigen und widersprüchlichen Welt zurecht finden können. Auf diese Welt bereiten wir unsere Kinder nicht vor, indem wir ihnen Zucht und Ordnung beibringen. Wir bereiten sie auch nicht darauf vor, wenn wir immer genau vorgeben, was richtig und was falsch ist. Oder mit einem anderen Bild: Vor zwei Generationen wurden die jungen Menschen auf ein Arbeitsleben vorbereitet, das durch die Stempeluhr und genaue Arbeitsvorgaben geprägt war. Heute bereiten wir unsere Kinder auf ein Arbeitsleben vor, das Teamarbeit und zielorientiertes, selbständiges Arbeiten verlangt, ein Arbeitsleben, das Fähigkeiten zur Problemlösung und zur Bewältigung komplexer Fragestellungen erfordert.

Erziehung ist wie das Leben anspruchsvoller, komplexer und vor allem widersprüchlicher geworden. Ganz zu schweigen vom schwierigen gesellschaftlichen Umfeld, in welchem sich Eltern heute wieder finden. Die Bemerkungen zu den schlechten Vorbildern in der Gesellschaft, welche die Erziehung der Kinder auch nicht gerade einfacher macht, erspare ich Ihnen hier. Wir kennen sie alle: Jene, die meinen, das Geben und Nehmen sei für die einen aufs Nehmen beschränkt. Oder jene, die glauben, der Blick in den Himmel sei genug der guten Taten. Im irdischen Leben könnten sie umso ungestörter raffen, lügen, verachten oder verhöhnen.

Wenn es uns ernst ist mit der Unterstützung von Familien, müssen wir die Mütter aus ihrer Isolation befreien und das Entweder-Oder aus der Welt schaffen. Mütter achten und ehren, heißt sie aus Rollenzwängen zu befreien. Damit sich auch das bleierne Gewicht der Langeweile und der Einsamkeit verflüchtigt.

Autorin

Jacqueline Fehr ist Regierungsrätin des Kanton Zürich

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Erstellt am 18. August 2005, zuletzt geändert am 25. Juni 2015