Adoption – oder: Die Angst vor dem Pflegekind
Prof. Dr. Ute A. Belz
Dass die Zahl der Adoptionen in Deutschland immer weiter zurückgeht, ist keine Neuigkeit. Die Medien berichten meist: ‚immer weniger Kinder werden adoptiert’ – ‚Zahl der adoptierten Kinder geht immer weiter zurück’ oder ähnliches. Ist es so, dass der Wunsch von Paaren, ein Kind zu adoptieren durch die (manchmal auch erfolgreichen) Kinderwunschbehandlungen zurückgeht; oder sind demographische Entwicklungen – wie der dramatische Geburtenrückgang in Deutschland – Schuld daran, dass keine Kinder mehr adoptiert werden? – Oder aber: werden zu wenige Kinder zur Adoption freigegeben?
Die rechtliche Voraussetzung zur Adoption ist die Einwilligung der leiblichen Eltern – eine Freigabe des Kindes, adoptiert werden zu können. Warum gehen diese Freigaben zurück? Liegt es daran, dass eine allein erziehende Mutter heute kein Makel mehr ist? Dass es immer mehr und bessere staatliche Hilfen gibt, die es einer allein erziehenden Mutter ermöglichen, zeitlich und finanziell alleine mit einem Kind leben zu können?
Lt. Pressemitteilung des Statistischen Bundesamtes Nr. 306 vom 25. August 2008 wurden im Jahr 2007 in Deutschland insgesamt 4.509 Kinder und Jugendliche adoptiert; das waren nach Mitteilung des Statistischen Bundesamtes (Destatis) 5% weniger als im Vorjahr (4 748).
1.432 oder 32% der adoptierten Kinder und Jugendlichen besaßen nicht die deutsche Staatsangehörigkeit. Die Zahl der Adoptionen in Deutschland ist weiter deutlich rückläufig und hat im Jahr 2009 mit insgesamt 3.888 einen erneuten Tiefststand erreicht. Seit 1993 hat sich die Zahl der Adoptionen fast halbiert (- 48%). Und von dieser Zahl sind 55% der Kinder und Jugendlichen von einem Stiefelternteil als Kind angenommen worden.
Lt. Statistischem Bundesamt waren 2007 rund 870 Kinder zur Adoption vorgemerkt; 8.914 Adoptionsbewerbungen standen dem gegenüber. Das Verhältnis von Adoptionsbewerbungen zur Zahl der zur Adoption vorgemerkten Minderjährigen hat sich rein rechnerisch von 2007 bis 2009 von 10 zu 1 auf 9 zu 1 verändert. Die Zahlen der Alternative – die Unterbringung in einer Vollzeitpflegestelle – eine Maßnahme der Erzieherischen Jugendhilfe außerhalb des Elternhauses – jedoch steigen.
Kinder in Fremdunterbringung (pro 10.000)
Quelle: June Thoburn 2007
Hiermit sind die Unterbringungen eines Kindes oder Jugendlichen in einer fremden Pflegefamilie, bei den Großeltern oder sonstigen Verwandten gemeint.
Allerdings haben immer mehr Kommunen Probleme, genügend Familien zu finden, die bereit sind, ein Kind in Vollzeitpflege aufzunehmen. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass die meisten Bewerberpaare, die die Jugendämter aufsuchen, Adoptionsinteressierte sind.
Das Jugendamt ist gesetzlich verpflichtet, die Eignung der Bewerber/-innen zu prüfen. Sind Adoptionsbewerber schlechte Pflegeeltern? Wie unterscheiden sich die Beweggründe, ein Kind aufzunehmen?
Adoptionsbewerber haben in der Regel einen starken Wunsch nach einem eigenen Kind. Die meisten Bewerber haben eine ganze Reihe von so genannten Kinderwunschbehandlungen durchführen lassen – mit Hormongabe, wochenlangen Vorbereitungen und bangem Warten auf den erhofften Erfolg. Nach vielen gescheiterten Versuchen kommen die Paare an einen Scheideweg: ein Leben ohne Kind oder die Aufnahme eines fremden Kindes? Meist sind die Frauen eher und früher bereit, sich mit diesem Gedanken anzufreunden. Die Männer können sich höchstens ein Adoptivkind vorstellen. Ist das Egoismus oder nicht einfach Unwissen gepaart mit der sich verselbständigten Angst vor der Herausnahme eines Pflegekindes, wenn die leiblichen Eltern ihre Situation erst wieder stabilisiert haben – ‚das hört man doch immer und wenn man erst einmal sein Herz an das Kind verloren hat, möchte man es doch auch nicht mehr abgeben’ – so oder ähnliche Aussagen werden geäußert.
Außerdem haben die Paare Angst vor der Herkunftsfamilie, den Besuchskontakten, dem Einfluss, den die leiblichen Eltern vielleicht immer noch auf das Kind haben könnten, denn das Kind bleibt ja immer ein Teil seiner Herkunftsfamilie. Adoptivpaaren scheint es schwerer zu fallen, die ursprüngliche Bindung des Kindes an seine Herkunftsfamilie zu akzeptieren – bei Adoptivkindern – und gerade auch bei Adoptivkindern aus dem Ausland – können diese Bezüge weggeleugnet werden.
Aber auch ein Adoptivkind hat bereits Eltern, lebt ebenso wie ein Pflegekind in der besonderen Situation, zwei Elternpaare zu haben – ist immer in einer Sonderstellung, wird sich irgendwann mit seiner Herkunft auseinandersetzten wollen, stellt Fragen, wird vielleicht sogar schwierig. Die Motivation für die Aufnahme eines Kindes hat entscheidenden Einfluss auf die Einstellung zum Kind und stellt die Weichen für das zukünftige Zusammenleben.
Für Adoptivbewerber kann die Aufnahme eines Pflegekindes vom Selbstverständnis her eine ‚Fast-Adoption’ bedeuten – aber was bedeutet das für das gesamte Pflegeverhältnis?
Selbst nach ausführlichen Beratungsgesprächen – alle Für und Wider der Aufnahme eines Kindes in Pflege werden erörtert, können die potentiellen Pflegeeltern sich eine solche Aufnahme erst einmal nicht vorstellen. Dies gilt für Paare, die noch kein Kind haben. Bei Paaren, die bereits eigene Kinder haben, stellt die Situation sich meist anders dar. Durch die Erfahrung mit dem eigenen Kind sind beide Elternteile wesentlich entspannter, die Intentionen, ein ‚fremdes’ Kind aufzunehmen, sind unterschiedlich, aber weniger von dem eben vermuteten Egoismus und der Angst geprägt. Meist nehmen diese Familien noch ein Kind bei sich auf, weil sie sich in der Lage glauben, emotionale und soziale Verantwortung für ein benachteiligtes Kind übernehmen zu können.
Laut Statistischem Bundesamt sind im Jahr 2006 10.200 Kinder in Fremdfamilien platziert worden. Davon sind 85% in fremden Familien, also in Pflegefamilien und nicht bei Verwandten untergebracht worden. In 22% der Fälle erfolgte die Unterbringung mit Entscheidung des Familiengerichtes (2.250 Fälle).
Aber auch Jugendamt und Pflegepersonen/Adoptivpersonen haben unterschiedliche Beweggründe. - Keine andere Institution kann den kontinuierlichen und emotionalen Bezugsrahmen einer Familie auf Dauer ersetzen und daher suchen die Ämter verstärkt Familien, die dies leisten können. Pflegepersonen müssen ausführlich über das Auswahlverfahren, über Inhalte und Bedingungen informiert werden – aus Sicht der Ämter entsteht ein ‚Arbeitsbündnis’ – aus Sicht der Pflegepersonen (die vielleicht einmal Adoptionsbewerber waren) entsteht oft etwas anderes. – Oft sind den zukünftigen Pflegepersonen die Gründe für die Herausnahme des Kindes aus der Herkunftsfamilie wohl bekannt, haben aber so wenig mit deren Alltag und Vorstellungen zu tun, dass es schwer zu fallen scheint, hier realistisch zu sein. Laut SGB VIII haben Pflegeeltern vorrangig die Aufgabe, das Kind stellvertretend für die leiblichen Eltern zu erziehen und zu beaufsichtigen. Das hört sich aus Sicht der Paare, die gerne ein eigenes Kind möchten, nicht gerade optimal an. Wichtig ist, dass den Bewerbern die eigenen Motive bewusst sind und Ängste und vielleicht Vorurteile offen ausgesprochen werden. Diese müssen grundlegend offen gemacht und kritisch hinterfragt werden – sowohl auf Seiten der Paare als auch der des Amtes.
Daher muss vor Beginn eines Pflegeverhältnisses bei den aufnehmenden Personen eine deutliche Klarheit über den Auftrag seitens des Amtes an die Familie herrschen. Das Pflegekind darf nicht dazu benutzt werden, Bedürfnisse der Pflegeeltern zu befriedigen wie z.B. die eigene Kinderlosigkeit besser ertragen zu können. Das Pflegekind sollte nicht wie ein Adoptivkind betrachtet werden.
Thema vieler Pflegefamilien ist oft die mangelnde Anerkennung ihrer Tätigkeit – d. h. oft, ein fremdes Kind durch das Leben bis hin zur Verselbständigung zu bringen. Hierin besteht meiner Meinung aber eine Diskrepanz: zunächst wird ein Kind aufgenommen, um sich als Familie zu vervollständigen – Probleme, die zwangsläufig kommen, werden – da noch nicht erlebt – und was noch nicht erlebt wurde, ist leider oft schwer vorstellbar – nicht gesehen. Bei auftretenden Problemen wird Hilfe durch das Amt aber auch soziale, sprich nachbarschaftliche, gesellschaftliche Anerkennung wichtig – das Selbstbild und die Rolle der Eltern sowie der Blick auf das Kind beginnen, sich zu verändern.
Tragischerweise fühlen sich lt. Moira Szilagyi, PhD, University of Rochester, 2006, 18% der Kinder, die in Pflegefamilien untergebracht sind, nirgends zuhause – weder in ihren Herkunftsfamilien noch in ihren Pflegefamilien. Dem gegenüber stehen aber 82% Pflegekinder, die sich sehr wohl zuhause, zumindest aber gut aufgehoben in ihren Ersatzfamilien fühlen.
Trotz aller Widrigkeiten können Pflegeverhältnisse gut gelingen – und alle Beteiligten fühlen sich miteinander wohl. Pflegeeltern müssen erkennen, dass sie eine Aufgabe im öffentlichen Rahmen erfüllen und dabei Hilfe und Begleitung durch die Ämter erwarten dürfen. Kinder müssen die Pflegefamilie als Zuhause erleben und ein Zugehörigkeitsgefühl entwickeln können –Grundvertrauen muss aufgebaut, Erfahrungen miteinander müssen gesammelt, Alltagssorgen müssen begleitet werden. So können Prozesse in Gang gesetzt werden, die unter Zuhilfenahme gemeinsamer förderlicher Handlungsstrategien zu einem neuen Selbstverständnis im Miteinander der neuen Familie führen.
Literatur
- Thoburn, J. (2007) 'Globalisation and child welfare: Some lessons from a crossnational study of children in out-of-home care' University of East Anglia, Norwich
- Jee SH, Barth RP, Szilagyi MA, Szilagyi PG, Aida M, Davis MM. "Factors associated with chronic conditions among children in foster care." Journal of health care for the poor and underserved. 2006
- Mitteilung des Statistischen Bundesamtes (Destatis) von 2007
Quelle
Erstveröffentlichung in der Fachzeitschrift „Pflegekinder“ Heft 1/2011, S. 56 - 59, Hrsg. Familien für Kinder gGmbH, Berlin, www.familien-fuer-kinder.de
Autorin
Prof. Dr. Ute A. Belz
Professorin an der Fliedner Fachhochschule Düsseldorf, Systemische Familientherapeutin und Supervisorin, Diplom-Sozialarbeiterin mit Erfahrung in Bereichen der Kinder- u. Jugendhilfe, ASD, Pflegekinder- und Adoptionsvermittlung, Kindertagespflege
eingestellt am 17.08.2018