Mein Kind lebt nicht bei mir: Trotzdem Mutter und Vater sein
Herkunftseltern in der Erziehungspartnerschaft
Prof. Dr. Josef Faltermeier
Lebt ein Kind nicht bei seinen Herkunftseltern, sondern in einer Pflegefamilie, ist es im Interesse einer guten Entwicklung des Pflegekindes wichtig, dass Pflege- und Herkunftseltern im Sinne einer Erziehungspartnerschaft kooperieren. Mit diesem Beitrag soll für eine neue Beteiligung der Herkunftseltern geworben werden.
1. Die Inpflegegabe als Chance für gemeinsame Entwicklung
Herkunftseltern sind Eltern, die nicht mit ihrem Kind oder ihren Kindern in einem gemeinsamen Haushalt leben können. Dies zumeist deshalb nicht, weil sie (zumindest nach Meinung der sozialen Dienste oder auch Familiengerichte) nicht über ausreichende „elterliche Kompetenzen“ verfügen, so dass eine Sicherstellung des Kindeswohls in der Familie nicht gewährleistet ist. Gleichzeitig leben viele Herkunftsfamilien in schwierigen sozialen und materiellen Verhältnissen. Unter diesen Bedingungen zu leben, wäre auch für viele der Eltern, die mit ihren Kindern zusammenleben können, eine enorme Belastung und würde wohl auch dort zu problematischen Situationen führen. Herkunftseltern, deren Kinder in Heimen oder Pflegefamilien untergebracht sind, sind also Eltern ohne Kinder. Das ist eine besondere Herausforderung für sie, die diese nicht alleine bewältigen können. So wissen Herkunftseltern beispielsweise nicht, an welcher Rolle sie sich zu orientieren haben. Ihnen haftet häufig der Makel der „schlechten Eltern“ an – und, dass auch die sozialhelfenden Institutionen oftmals eine eher ambivalente Haltung ihnen gegenüber haben. Auch für Pflegeeltern ist die Übernahme ihrer Rolle keineswegs selbstverständlich – und jedes Pflegekind bedeutet auch für sie die Bereitschaft, Gewohntes in Frage zu stellen und sich auf neue Lebenskontexte einzulassen. Wir wissen, dass solche Statuspassagen Krise und Chance zugleich sind. Zur Chance werden sie in der Regel, wenn gerade zu Beginn alle Beteiligten intensiv unterstützt und begleitet werden, um das Neue und Fremde besser verstehen und auch zunächst annehmen zu können. Insoweit sind Pflegeverhältnisse immer auch der Beginn eines neuen Lern- und Bildungsprozesses.
Derzeit leben etwa 125.000 Kinder in Pflegefamilien, davon etwa 60.000 in Verwandtenpflege (STATISTISCHES BUNDESAMT, Erhebungsjahr 2005). Die Kinder müssen deshalb fremduntergebracht werden, weil ihre gesunde Entwicklung in der Herkunftsfamilie nach Einschätzung der sozialen Dienste gefährdet ist. Pflegekinder haben insoweit einen „erzieherischen Bedarf“ (§ 27 SGB VIII), dem eben in Form auch familienersetzender Hilfen im Einzelfall nachzukommen ist. Das SGB VIII geht dabei in § 37 Abs. 1 und 2 davon aus, dass in aller erster Linie versucht werden muss, die Kinder möglichst zügig wieder in ein restabilisiertes Herkunftsmilieu zurückzugliedern.
Mit diesem Beitrag soll für eine neue Beteiligung von Herkunftseltern in Fremdunterbringungsverhältnissen geworben werden. Das Konzept und Leitbild einer „Erziehungspartnerschaft“1 sieht vor, dass die beteiligten Erwachsenen sich als Verantwortungsgemeinschaft verstehen, in der alle Akteure auf gleicher Augenhöhe miteinander im Interesse einer guten Entwicklung des Pflegekindes kooperieren. Die zentrale professionelle Herausforderung für die Fachkräfte der sozialen Dienste ist dabei, durch eine gute Vorbereitung und Begleitung der Akteure positive Rahmenbedingungen für eine erfolgreiche Zusammenarbeit zu schaffen. Damit soll gleichzeitig auch ein Paradigmenwechsel in Gang gesetzt werden, der die seit Jahren festgefahrenen Debatten zu diesem Thema auf eine neue Denkfigur und Handlungsebene bringen will (vgl. Faltermeier, 2009: 233ff).
Unabhängig davon, ob Pflegekinder wieder in die Herkunftsfamilie integriert werden sollen oder nicht, muss mit den leiblichen Eltern eine kontinuierliche Begleitung und Elternarbeit sichergestellt werden. Nur so können diese ihre Teilhabechancen angemessen und zufriedenstellend wahrnehmen.
Auf Seiten der Fachkräfte und der Pflegeeltern ist dabei eine die Rolle der leiblichen Eltern anerkennende Haltung wichtig. Diese sollte sich an folgenden Leitbildmerkmalen orientieren (vgl. FALTERMEIER, 2001, S. 309 f):
- Anerkennung der Herkunftseltern als leibliche Eltern,
- Recht auf Umgang und Kontakt zum Kind nicht streitig machen wollen,
- Erzieherische Lücken von Herkunftseltern nicht ihnen als Schuld anlasten,
- Anerkennung der elterlichen und erzieherischen Kompetenzen von Herkunftseltern.
Diese Haltung kann nicht als selbstverständlich vorausgesetzt werden. Sie muss in Qualifizierungskontexten reflektiert und vermittelt werden.
An einem kleinen Praxisbeispiel sollen im Folgenden die Dynamiken von Pflegeverhältnissen aus der Sicht von Herkunftseltern veranschaulicht und eine Vorstellung von Erziehungspartnerschaft vermittelt werden.
2. Herkunftseltern verstehen
Sandra und Klaus haben mit ihren 24 Jahren schon viel erlebt. In schwierigen sozialen Verhältnissen aufgewachsen, kennen sie beide nicht das Gefühl von Geborgenheit, Zuverlässigkeit, die zugewandte Nähe von Vater oder Mutter. Und so war ihre Kindheit und Jugend von Erfahrungen häufiger Ausgrenzung, von nicht dazu gehören und, natürlich auch, von Schulversagen geprägt. Da traf es sich gut, dass sich die beiden vor 6 Jahren begegneten – und ineinander verliebten. Sie kannten beide die Sehnsucht nach großer Liebe und harmonischer Familie – aber sie wussten nicht, wie das geht, was man dafür tun kann. Und ein Kind, das wollten sie natürlich auch, weil es zu einer Familie gehört, und weil man ihm soviel Liebe schenken kann, die noch übrig ist, als Mangelerlebnis aus eigener Kindheit und Jugend. Bei ihren Kindern wollten sie alles besser machen als ihre Eltern. Und es kam so, wie es nicht kommen sollte: Die beiden Kinder, das Leben in engen Wohnverhältnissen mit wenig Geld und ohne Job, der Alkohol und die Drogen. Nun sind beide Kinder weg, bei Pflegeeltern zusammen in einer Pflegefamilie untergebracht. Zwar waren Sandra und Klaus der Meinung, mit etwas mehr Unterstützung – auch finanziell – von den Jugendbehörden hätten sie das schon mit den Kindern geschafft; aber auch sie haben gesehen, dass die Kinder mehr Hilfe und Unterstützung brauchten, als sie ihnen geben konnten.
Mit den Pflegeeltern verstehen sie sich recht gut. Diese machen ihnen ihre Elternrolle nicht streitig, unterstützen den Kontakt zu ihnen, sorgen dafür, dass es ihren beiden Kindern sichtbar besser geht und dass sie sich gut entwickeln.
Natürlich sind Sandra und Klaus der Meinung, dass sie gute Eltern sind, dass alles eben nur gegen sie gelaufen ist, sie im Leben ja immer Pech hatten und reihen es etwas unsicher in die Rubrik „Schicksalsschläge“ ein. Aber sie möchten auch jetzt, wo ihre Kinder Mark und Lena in einer anderen Familie leben, gute Eltern sein. Was sie für ihre Kinder tun können, das besprechen sie mit den Pflegeeltern. Diese verstehen gut, dass Sandra und Klaus Wünsche und Erwartungen an ihre Kinder und an die Pflegeeltern haben. In dem sie den Herkunftseltern diese zugestehen, geht es ihnen auch besser damit, ihre eigenen Wünsche als Pflegeeltern gegenüber Sandra und Klaus zu äußern. So ermutigen sie die Herkunftseltern, wenn ihnen danach ist, ihre Kinder auch zwischen den offiziellen Besuchsterminen anzurufen und verpflichten sich ihrerseits, Sandra und Klaus in wöchentlichen, manchmal auch 14-tägigen Telefonaten über die „aktuelle Situation“ der Kinder kurz zu berichten. So können die Herkunftseltern besser Anteil am Leben ihrer Kinder nehmen, wenn diese schon nicht zusammenleben können. Umgekehrt bitten die Pflegeeltern um Verständnis, wenn ihnen der vereinbarte Besuch der Eltern nicht so richtig in die Alltagsplanung passt oder bitten Klaus schon einmal um Mithilfe bei der Renovierung des Kinderzimmers oder bei der Reparatur des Kinderfahrrads.
Das Wichtigste ist, dass beide Elternsysteme zueinander einen „Draht“ herstellen. Das ist nicht selbstverständlich und kann nicht per se bei den teilweise großen sozialen und kulturellen Unterschieden beider Familien erwartet werden. Hier sind die sozialen Dienste gefragt. Sie haben Herkunftseltern wie Pflegeeltern darin zu beraten und zu unterstützen, damit diese für sich ein „Arrangement des Miteinanders“ finden können.
Gute Eltern in Pflegeverhältnissen also sind Eltern dann, wenn sie dem Kind geben, was es für seine Entwicklung braucht, aber nicht gegen den anderen ausspielen. Eltern können nur gute Eltern sein, wenn es ihnen zunehmend gelingt, die Perspektive ihrer Kinder in den Blick zu nehmen und sich danach zu fragen, was gut für das Kind ist. Dass die Pflegeeltern die aktuell Hauptzuständigen für eine gute Entwicklung des Kindes sind und die leiblichen Eltern eher „flankierend“ zur Verfügung stehen, muss nach und nach erlernt werden. Missverständnisse können sich dabei immer einschleichen, umso wichtiger ist es, dass die Beziehung zwischen leiblichen Eltern und Pflegeeltern einigermaßen „stimmig“ gemacht wird, möglichst ohne Konkurrenz und schon gar nicht Rivalität im Spiel ist. Deshalb ist es wichtig, dass beide Elterngruppen in den sozialen Diensten eine vertraute Adresse haben, die sie gemeinsam im Krisenfall „unbürokratisch“ und schnell ansprechen können und die sich Zeit nimmt, die anstehenden Probleme gemeinsam zu besprechen.
Mutter oder Vater sein eines Kindes in der Pflegefamilie bedeutet also, gerade in der Anfangssituation, wo der Schmerz über den Verlust des Kindes, die Enttäuschung und die Scham darüber, versagt zu haben, am größten sind, auf verständnisvolle Fachkräfte und Pflegeeltern treffen, die bereit sind, die leiblichen Eltern gerade in dieser schwierigen Phase zu begleiten.
Mutter oder Vater sein bedeutet dann auch, sich mit den Pflegeeltern und dem Kind über die neue Rolle abzustimmen und eine für beide Seiten hierüber akzeptable Verständigung zu finden.
Gute Herkunftseltern sind Eltern, die ihre Kinder in gewisser Weise loslassen können, ohne sie aufgeben zu müssen. Das aber verlangt nach „Sicherheiten“ durch Pflegeeltern und soziale Dienste. Sicherheit bedeutet vor allem die Akzeptanz, dass die leiblichen Eltern auch während der Fremdunterbringung Eltern ihres Kindes bleiben.
Herkunftseltern lieben ihre Kinder und wollen natürlich auch deren „Bestes“. Nur klaffen nicht selten zwischen dem, was sie sich für ihre Kinder an Lebensverhältnissen wünschen und dem, was sie tatsächlich zu tun in der Lage sind, Lücken. Diese können dann zu Krisensituationen für Kind und Eltern führen. Gleichwohl sind Fremdunterbringungen dann vermeidbar, wenn durch ein differenziertes System unterstützender Hilfen für die unterschiedlichen Familienbedarfe gesorgt wird. Vermieden werden könnte Fremdunterbringung z. B. durch die Übernahme von Patenschaften für Eltern und Kinder, die in persönlichen Krisen und Konflikten niedrigschwellig zur Verfügung stehen und einfach nur helfen; oder aber Heime oder Kliniken, in denen die gesamte Familie aufgenommen wird und so die Chance erhält, zusammenzubleiben und sich gemeinsam zu verändern. Wichtig ist, dass Herkunftseltern eine Vertrauensperson zur Verfügung steht, die etwa die Rolle des zuverlässigen Ansprechpartners übernimmt: Das heißt, aus der Sicht der Eltern deren Leben sehen und verstehen kann, die persönlichen, aber auch die strukturellen Bedarfe der Eltern und Familie erkennt und der in der Lage ist, dies den Eltern ohne Schuldvorwurf zu vermitteln.
3. Die Rolle von Herkunftseltern als „Eltern ohne Kind“
Es wurde bereits einleitend darauf hingewiesen, wie schwierig es für Herkunftseltern ist, nicht zu wissen, wie man sich als „Mutter oder Vater ohne Kind“ richtig verhält? Während einigermaßen klar ist, was die Gesellschaft von Eltern, die mit ihren Kindern zusammenleben, erwartet, besteht eine solche „gesellschaftliche Übereinkunft“ für Herkunftseltern (und auch für Pflegeeltern) nicht. Das bedeutet gleichzeitig, dass Herkunftseltern sich zunächst ein eigenes Rollenskript von „guten Müttern oder Vätern“ zurechtlegen müssen. Und sie sind darauf angewiesen, was Pflegeeltern, Erzieher/-innen und Fachkräfte von ihnen als „gute“ Mutter/Vater erwarten. Dabei können diese Erwartungen nicht nur mit dem Rollenskript der Herkunftseltern divergieren, sondern es ergeben sich nicht selten auch innerhalb der „externen Erzieher“ (Pflegeeltern, Heim, soziale Dienste etc.) teilweise große Differenzen. So kann es für die Fachkräfte wichtig sein, dass die Herkunftseltern ihr Kind in regelmäßigen Abständen besuchen; die Pflegeeltern könnten dagegen eher das Interesse und die Erwartung haben, dass Herkunftseltern dies möglichst selten tun und wünschen, dass diese sich aus dem Erziehungsgeschehen möglichst ganz „verabschieden“. Dann ist es für Herkunftseltern nahezu unmöglich, sich „richtig“ zu verhalten. Damit sind unter Umständen heftige Konflikte vorprogrammiert.
Ein Beispiel: Für das Rollenskript der Herkunftseltern mag es Sinn machen, dass eine gute Mutter sich im Konfliktfalle auf die Seite des Kindes schlägt, häufige Besuchskontakte wünscht, ihrem Kind bei den Besuchen auch etwas gönnt (z. B. Süßigkeiten etc.) usw. Für die Pflegeeltern macht es möglicherweise dagegen mehr Sinn, wenn die Herkunftseltern eher selten kommen, in Familienkonflikten sich neutral verhalten oder nach ihren Vorstellungen erzieherisch planvoll handeln.
Wir sehen an diesem kleinen Beispiel, dass es für Herkunftseltern wie für die anderen beteiligten Akteure einer hohen Flexibilität und Kreativität bedarf, bis ein gemeinsames „Arrangement“ hinsichtlich der Rolle der Herkunftseltern und der Pflegeeltern gefunden wird. Dies ist nicht selten ein längerer Lernprozess. Das sollte man von vornherein wissen, damit die Beteiligten, hier vor allem die Herkunftseltern, nicht durch zu hohe einseitige Erwartungen überfordert werden.
In der Regel wollen – und sollen auch nach den gesetzlichen Bestimmungen (§§ 27, 36 und 37 SGB VIII) – alle Herkunftseltern auch nach der Fremdunterbringung (gute) Mutter oder Vater sein.
Es gilt an dieser Stelle zu fragen, was brauchen Erwachsene, um eine gute Mutter oder ein guter Vater zu sein?
Gute Eltern sind Eltern, die ein „Gefühl für ihr Kind“ haben. Damit ist zweierlei gemeint: Einmal die Fähigkeit, sich in das Kind „hineinversetzen“ zu können; fachsprachlich ist damit vom „Perspektivenwechsel“ die Rede, der in die Lage versetzt, die Welt aus der Sicht des Kindes zu sehen. Dem folgt zum anderen die hieraus resultierende Kompetenz, das Kind in seinen Denk-, Gefühls- und Handlungsstrukturen verstehen zu können und damit auf kindliches Verhalten angemessen reagieren und erzieherische Impulse weniger affektiv als vielmehr intentional setzen zu können.
Gute Eltern – also mit einem Gefühl für ihr Kind – sind Eltern, die
a) über ein gewisses Maß an selbstreflexiver Kompetenz verfügen (sie denken vorher nach über das, was sie tun wollen bzw. reflektieren die Wirkungen ihres Handelns auf das Kind auch im Nachhinein),
b) für sich eine „innere Balance“ gefunden haben, die sie in die Lage versetzt, sich nicht mit Situationen und Personen zu verstricken,
c) und die über weitere zwei wesentliche „elterliche Kompetenzen“ verfügen: Gute Eltern erbringen darüber hinaus regelmäßige entwicklungsbezogene physische Versorgungs- und Pflegeleistungen und sie erkennen Gefahren für das Kind rechtzeitig und intervenieren angemessen.
Es wurde bereits an anderer Stelle darauf hingewiesen, dass auch Herkunftseltern natürlich über elterliche Fähigkeiten verfügen. Allerdings braucht es hier häufig noch einer neuen Austarierung, die im Rahmen eines kontinuierlichen Unterstützungsprozesses von Eltern- oder/und Restabilisierungsarbeit erfolgen muss.
Wir sehen, dass es nicht einfach ist, stets gute Eltern zu sein. Zum einen hängt einiges davon ab, ob Erwachsene in Kindheit und Jugend selbst in fairen, partnerschaftlichen und liebevollen Beziehungen aufgewachsen sind – und wenn nicht – inwieweit schwierige Kindheitserfahrungen aufgearbeitet sind. Zum anderen geht es aber auch darum, wie kreativ und gekonnt Eltern gemeinsam mit ihrem Kind unter den gegebenen Rahmenbedingungen und Lebensverhältnissen zugewandte und faire Beziehungsverhältnisse gestalten können.
Herkunftseltern, das wissen wir, haben oft eher eine bedrückende Kindheit und nicht selten Gewalterfahrungen erlebt. Das hat ihre Haltung dem Leben gegenüber und ihre Art der Lebensbewältigung geprägt. Das Gefühl bei Herkunftseltern bewegt sich mit einer gewissen Kontinuität zwischen Kampf und Resignation: Als Kind haben sie häufig erfahren, dass Liebe und Zuwendung nicht selbstverständlich sind, sondern dass darum gekämpft werden muss – und dies häufig erfolglos.
In den vorliegenden Studien (u.a. Faltermeier, 2001: 229ff) wird bestätigt, dass Herkunftseltern gerade vor ihrem schwierigen sozialen und biografischen Hintergrund häufig nur begrenzt über die vorab genannten erzieherischen Fähigkeiten verfügen.
Es ist sicherlich wichtig darauf hinzuweisen, dass über diese hier dargestellten elterlichen Kompetenzen nicht nur Herkunftseltern, sondern viele Eltern nicht im erforderlichen Umfang verfügen. Je nach spezifischer Situation und Umfeld der Familie kann und wird Vieles durch informelle Netzwerke ausgeglichen. Dass Herkunftseltern aber über solche elterliche Kompetenzen nur begrenzt verfügen heißt nicht, dass sie kein Interesse für ihr Kind hätten oder dass ihre Kinder sie nicht als Eltern lieben würden.
Deshalb bedürfen Herkunftseltern vor dem Hintergrund ihrer elterlichen bzw. erzieherischen Nachholbedarfe und ihrer schwierigen Gesamtlage und Lebensverhältnisse der Unterstützung. Dies ist eine zentrale Aufgabe, die gesetzlich dem Jugendamt vorgegeben ist (§ 37 Abs. 1 und 2 SGB VIII). In der Praxis ist jedoch vielfach festzustellen, dass nach der Unterbringung des Kindes Herkunftseltern nicht (mehr) im erforderlichen Maße gefördert und unterstützt werden. Damit wird ihnen auch die Chance genommen, künftig gute bzw. bessere Eltern für ihre Kinder sein zu können.
4. Pflegeeltern und Herkunftseltern – gemeinsame Elternschaft für ein gemeinsames Ziel
Es wurde bereits darauf hingewiesen wie wichtig es ist, dass ein faires Konzept der Beteiligung und Einbindung der Herkunftseltern gemeinsam ausgehandelt wird.
Pflegeeltern und Fachkräfte der sozialen Dienste sollten sich im Umgang mit den Herkunftseltern an diesen Parametern orientieren. In jedem Fall sollte vermieden werden, dass so etwas wie ein „geschlossener Bewusstheitskontext“ zwischen den beteiligten Akteuren entsteht: Dieser wird in unserem Zusammenhang als Koalition von Pflegeeltern und sozialen Diensten verstanden, die sich gegen die Herkunftseltern verbünden. Dabei kann ein solcher geschlossener Bewusstheitskontext gezielt herbeigeführt werden oder auch ungewollt entstehen (vgl. Goffmann, 1973: 136 f). Aus der Sicht von Herkunftseltern verdichtet sich damit der Eindruck, dass die externen Erzieher alle „unter einer Decke stecken“ (vgl. Faltermeier 2001:233ff). Deshalb ist die Offenheit des Diskurses zwischen den beteiligten Akteuren wichtig, ohne damit gleichzeitig auf eigene Überzeugungen zu beharren.
Beide Elternsysteme wollen, dass es dem Pflegekind gut geht und dass seine Entwicklung gefördert wird. Herkunftseltern wissen zum Zeitpunkt der Fremdunterbringung ihres Kindes in der Regel wohl, dass ihr Kind Hilfe von außen bedarf (Faltermeier, 2001: 229ff). Insoweit ist mit der Zustimmung zur Inpflegegabe des Kindes gleichzeitig auch die Hoffnung und Erwartung der Herkunftseltern verbunden, dass die Entwicklungsdefizite abgebaut und die Rahmenbedingungen für die Persönlichkeitsstärkung des Kindes sich verbessern werden.
5. Zusammenfassung
Erziehungspartnerschaft setzt voraus, dass die sozialen Dienste darauf achten, dass insbesondere folgende Verfahrensschritte eingehalten werden2:
1. gemeinsame Entscheidung und Vermittlung (in akuten Situationen muss dieser Prozess nachgeholt werden – vgl. Kindler, 2010: 330 ff),
2. Vorbereitung durch Information und „einstimmen“ auf das Neue,
3. die wichtigen Themen im Blick behalten (vgl. Kindler, 2010: 366f); d. h. in den Kontakten und Gesprächen mit der Herkunftsfamilie sollten vor allem
- der Fokus auf die Bedürfnisse des Kindes gelegt werden,
- die bisherigen Veränderungsprozesse im Blick bleiben,
- gemeinsam reflektiert werden, inwieweit Herkunftseltern bei ihrem Kind verhindern können, was sie selbst als Kind möglicherweise erfahren haben, die Befürchtungen im Zusammenhang mit der Entfremdung zwischen Kind und Eltern thematisiert werden,
4. Einrichtung einer Anlaufstelle für Herkunfts- und Pflegefamilie, insbesondere für Konfliktregelungen,
5. Eltern- und Restabilisierungsarbeit für Herkunftsfamilien.
Beide Elternsysteme sollen sich offen und transparent mit den sozialstaatlichen Diensten von Beginn an darüber verständigen, was die Zielschritte sind und wie die Zusammenarbeit konkret gestaltet werden soll. Herkunftseltern haben die Pflicht und das Recht, als Eltern kontinuierlich einbezogen zu werden. Ihre Erwartungen und Vorstellungen hinsichtlich der Erziehung ihres Kindes, der Besuchs- und Umgangskontakte etc. sind zu berücksichtigen. Jedes der Elternsysteme hat in seiner Rolle eine spezifische Verantwortung für das Kind: Die Pflegeeltern als jene, die das Kind im Alltag begleiten und für seine physische, psychische aber auch geistige Entwicklung im Wesentlichen verantwortlich sind. Die Zusammenarbeit zwischen Pflegeeltern und Herkunftseltern ist vor allem dann erfolgreich, wenn den Pflegeeltern der Perspektivenwechsel auf die Herkunftseltern gelingt. D. h. wenn sie in der Lage sind, die „typischen Besonderheiten“ von Herkunftseltern zu akzeptieren und diese nicht als Geringschätzung erleben: Der ausbleibende Besuch der HE ohne Begründung, die mitgebrachten Süßigkeiten, sich nicht an Vereinbarungen halten, die andere Art, Freizeit zu gestalten oder sich zu kleiden. Dies alles ist dem Eigensinn des Lebens geschuldet, den schwierigen Aufwachsbedingungen ebenso wie den geringen oder begrenzten gesellschaftlichen Chancen, die den Herkunftseltern auf Grund ihres „So-Seins“ zur Verfügung stehen.
Die Herkunftseltern als jene, die mit dem Kind eine gemeinsame familiengeschichtliche Identität verbindet und die jetzt in der Distanz zu ihrem Kind „besondere Bezugspersonen“ bleiben; sie werden die Verbindung von Pflegeeltern und Kind durch Akzeptanz stärken und sich im Konfliktfall an faire Spielregeln sowohl gegenüber ihrem Kind als natürlich auch gegenüber den Pflegeeltern halten. Im günstigen Verlauf könnten Herkunftseltern auch eingebunden werden in die Übernahme bestimmter Aufgaben für das Kind, z. B. Zimmer tapezieren, Fahrrad reparieren etc. Dabei kann nicht bereits zu Beginn eines Pflegeverhältnisses erwartet werden, dass die Kooperation gut gelingt. Gerade Herkunftseltern brauchen natürlich hier entsprechende Begleitung und Unterstützung durch Impulse und Tipps.
Wie in anderen Ländern auch (z. B. Großbritannien, Frankreich) sollten deshalb bei Fremdunterbringungen Verantwortungsgemeinschaften gebildet werden, in denen sich Erzieher/-innen, Pflegeeltern und die Fachkräfte der sozialen Dienste die Verantwortung mit den Herkunftseltern teilen. In Frankreich werden beispielsweise Herkunftseltern als zentrale Beteiligte im Hilfeprozess aufgewertet. Entscheidungen über Hilfen werden nur in Anwesenheit der Eltern getroffen. Dies alles stärkt die Position der Herkunftseltern im Verfahren als auch im Hilfeprozess selbst und „zwingt“ die Fachkräfte, in allen ihren fachlichen Überlegungen auch die Perspektive der Eltern mitzubedenken und zu berücksichtigen (vgl. Pluto, 2007, S. 196).
Fußnoten
1 TEXTOR (2004, S. 1) versteht mit dem Begriff der Erziehungspartnerschaft den gleichberechtigten Dialog zwischen Eltern und pädagogischen Institutionen als Grundlage der Zusammenarbeit.
2 weiterführende Überlegungen und Anregungen sind zu finden bei Faltermeier, J. 2001: Verwirkte Elternschaft? S. 269-323
Literatur
- Faltermeier, J. 2009: Fremdunterbringung – Herkunftseltern als Partner in der öffentlichen Erziehung, in: Knab, E./ Fehrenbacher, R. (Hg.): Die vernachlässigten Hoffnungsträger, Beiträge zur Kinder- und Jugendhilfe, Freiburg i. Br.
- Faltermeier, J. 2001: Verwirkte Elternschaft? Fremdunterbringung, Herkunftseltern, Handlungsansätze, Münster/Wf.
- Goffman, E. 1973: Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen, Frankfurt/M.
- Kindler, H. 2010: Die Pflegekinderhilfe in der Praxis, 282-342, in: Kindler u. a. (Hg.): Handbuch Pflegekinderhilfe, München
- Kindler, H. 2010: Perspektivklärung und Vermeidung von Abbrüchen von Pflegeverhältnissen, 345-374, in: Kindler u. a. (Hg.) 2010: Handbuch Pflegekinderhilfe, München
- Pluto, L. 2007: Partizipation in den Hilfen zur Erziehung. Eine empirische Studie, München
- Statistisches Bundesamt, Erhebung 2005, Wiesbaden
Quelle
Erstveröffentlichung in der Fachzeitschrift „Pflegekinder“ Heft 1/2012, S. 39 - 47, Hrsg. Familien für Kinder gGmbH, Berlin,
www.familien-fuer-kinder.de
Autor
Prof. Dr. Josef Faltermeier,
Hochschullehrer und Dekan am Fachbereich Sozialwesen der Hochschule RheinMain Wiesbaden, vorher langjähriger Leiter des Arbeitsfeldes „Kindheit, Jugend, Familie, Gleichstellung“ beim Deutschen Verein, Berlin. Forschungsinteresse und Arbeitsschwerpunkte liegen in der Benachteiligten- und Bildungsforschung; Veröffentlichungen vor allem im Bereich der Öffentlichen Erziehung (Herkunftsfamilienforschung), Bildung (Schulverweigerung, Bildungsmanagement) Integrationstheoretische Ansätze (Kinderschutz, Sozialpädagogische Familienhilfe etc.) und Professionalisierung (Neue Fachlichkeit).
eingestellt am 17.08.2018