Pflegekinder und ihre Geschwister – gemeinsame oder getrennte Unterbringung?

Dr. Daniela Reimer

Für viele Pflegekinder sind und bleiben ih­re leiblichen Geschwister und Halbge­schwister hochrelevant, unabhängig da­von, ob eine gemeinsame oder eine ge­trennte Unterbringung erfolgt. Welche As­pekte aus der Sicht der Pflegekinder be­sonders bedeutsam sind, beleuchtet der Beitrag. Grundlage dafür sind etwa 100 biografische Interviews mit jungen Erwachsenen, die an der Universität Siegen in diversen Projekten geführt wurden.

1. Geschwisterbeziehungen sind für Pflegekinder bedeutsam!

Geschwisterbeziehungen sind für die meisten Menschen die längsten Bezie­hungen in ihrem Leben. Eltern sterben ir­gendwann, Ehen werden erst im Erwach­senenalter geschlossen und möglicher­weise geschieden, Freunde kommen und gehen. Die meisten Kinder wachsen ge­meinsam mit ihren Geschwistern auf. Sie gehören in der Regel derselben Genera­tion an und teilen viele gemeinsame Er­fahrungen. Selbst wenn sie über Jahre oder gar Jahrzehnte nicht mehr miteinan­der sprechen, bleiben sie dennoch als Geschwister miteinander verbunden.

Die meisten Pflegekinder haben Ge­schwister oder Halbgeschwister. Manche wachsen gemeinsam in einer Pflegefami­lie auf, manche werden voneinander ge­trennt. In der Fachdiskussion ist das The­ma Geschwister bisher recht unberück­sichtigt geblieben. Viele Fachdienste handhaben das Thema gemeinsame oder getrennte Unterbringung sehr rigide nach ihren jeweiligen Anschauungen, die nicht empirisch begründet sind. Es wird kaum thematisiert, ob zwischen Geschwistern, die in verschiedenen Familien unterge­bracht sind, Besuchskontakte erfolgen sollten. Oft bleibt die Kontaktgestaltung den Pflegeeltern überlassen. Manche Pflegeeltern, die aufgrund ihrer eigenen Lebenserfahrung Geschwisterkontakte für bedeutsam halten, fördern diese, andere nicht.

So kommt es, dass einige Pflegekinder regelmäßigen Kontakt zu ihren Geschwis­tern haben, und andere die Geschwister über Jahre oder gar Jahrzehnte nie tref­fen. Für Pflegekinder bleibt es also in der Regel Zufall, ob die Kontakte zu den Ge­schwistern bestehen bleiben.

Aus unseren biografischen Interviews mit Pflegekindern wird deutlich, dass dies der Wichtigkeit von Geschwisterbeziehungen nicht gerecht wird.

2. Die Perspektive der Pflegekinder

In den Interviews wird deutlich, dass sich die Bedeutung der Geschwister in den verschiedenen Lebensphasen verändert. Aus diesem Grund wird die Perspektive der Pflegekinder auf die Geschwister an­hand eines imaginären Lebensverlaufs, der die verschiedenen Etappen in stark vereinfachter Form abbildet, vorgestellt.

Die Zeit in der Herkunftsfamilie

In ihren Herkunftsfamilien erlebten viele Kinder, die später zu Pflegekindern wur­den, desolate Familiensituationen. In die­sen Situationen, in denen die Kinder von den Erwachsenen hauptsächlich negative, oft sogar feindselige Reaktionen erfuhren, bildeten die Geschwister untereinander oft sehr enge Beziehungen aus. Sandra be­richtet:

„Die Große, die ist, wurde 22, ich bin 20 und meine Kleine ist 18, also wir sind ge­nau immer so zwei Jahre älter, so unge­fähr ja jedenfalls warn wir dann bei mei­nen leiblichen Eltern, die haben nix besser zu tun gehabt wie auf gut deutsch zu sau­fen und waren dann also nicht in der La­ge, uns zu versorgen und haben dann auch Aktionen abgezogen, also mein Va­ter hat so mal ne einen Spiegel zerbro­chen und meine Mutter lag da drin, zum Beispiel da dran kann ich mich noch erin­nern und meine große Schwester, also die war ja auch damals noch klein, sechs Jah­re, die hat uns immer mitgenommen, uns beiden, meine kleine Schwester auf‘m Arm ge­schleppt und mich dann an der Hand ge­nommen und dann is se einfach nur mit uns abgehaun so dass wir dat gar net so oft mitgekr – bekommen ham, aber was wir mitbekommen ham, dass meine Mutter geschlagen worden is, das hab ich schon auch mitbekommen.“

Die Geschwister bildeten also eine Schicksalsgemeinschaft, die sich gegen­seitig unterstützte, so gut es ging. Kusuma drückt es so aus:

„Wir haben uns gegenseitig geweckt für Schule und Kindergarten, sind miteinan­der zum Arzt gegangen, haben alles zu­sammen gemacht, so als hätten wir gar keine Eltern gehabt.“

Diese engen Geschwisterbeziehungen sind oft von großer Ambivalenz geprägt. Zentral aber ist, dass in vielen desolaten Familiensituationen die Geschwister zu zentralen Bezugspersonen – und oft auch Bindungspersonen – werden.

Die Entscheidung über die Fremd­unterbringung

Wenn in einer solchen Familie eine Fremd­unterbringung ansteht, stellt sich die Frage, wer in die Entscheidung über die Unterbringung mit einbezogen wird und wie Partizipation erfolgen kann. Viele In­terviewpartnerInnen berichten davon, dass sie sich meist als Objekte der Ent­scheidungen Erwachsener erlebt haben und selbst wenig Einfluss nehmen konn­ten. Desiree berichtet, wie sie und ihre Geschwister voneinander und von ihren Eltern völlig unvorbereitet getrennt wur­den:

„Ich weiß halt nur, dass wir dann irgendwo hingegangen sind, ich wusste damals nicht, dass das ein Gericht war. Wir muss­ten draußen warten und da hat ein Mann zu uns dreien gesagt „komm wir gehen mal raus an die frische Luft bisschen spie­len“, und da hab ich noch zu dem Mann gesagt, ich hab das wohl verstanden, ich bin am Fenster gewesen und ich hab ge­sagt „hier kann man nicht spielen, ich sag hier sind ja nur Autos und ne Straße, wo wollen sie denn mit uns spielen gehen?“ Also ich fand das irgendwie extrem ko­misch und dann sind wir halt raus, alle drei Geschwister zusammen mit mehreren fremden Leuten, und dann standen halt drei Autos, die Kleine ins erste, ich ins zweite, die andere ins dritte und da saßen halt immer zwei Leute drinne, die machen immer diese Fahrten fürs Jugendamt, die kannten uns nicht oder irgendwas, und joa einfach reingepackt und weg, also wir konnten uns auch nicht verabschieden oder irgendwas, vielleicht wollten unsre El­tern auch nicht, dass die uns verabschie­den oder so, ich weiß es ja nicht, ob sie es vielleicht schon vorher wussten, dass wir wegkommen. Auf jeden Fall es hat uns keiner Tschüss gesagt oder so, das war dann halt so. Und vor allem, wie gesagt, das Schlimmste war halt mit meinen Schwestern. Ich konnte nicht Tschüss sa­gen oder irgendwas, ich wurde als kleines Kind ins Auto gesteckt und weg, und joa ich hab anscheinend dann ziemlich nach meinen Geschwistern geschrien und das fand ich eigentlich viel schlimmer als wie gesagt nicht mehr bei meinen Eltern zu sein, nach denen hab ich jetzt nicht groß­artig geheult.“

Auch hier sind es die Geschwister, die die eigentlichen Bezugspersonen für die In­terviewpartnerin darstellten. Die unvorbe­reitete Trennung von ihnen war für sie dauerhaft schmerzhaft und unverständlich. Obwohl die jüngeren Geschwister in ihren jeweiligen Pflegefamilien gut versorgt wa­ren, machte sich Desiree, die älteste Schwester, weiterhin Sorgen um ihr Wohl­ergehen.

In vielen Interviews finden sich ähnliche Beschreibungen. Oft machen sich die großen Schwestern, die vorher viel Ver­antwortung für die Geschwister übernom­men haben, jahrelang Sorgen um die jün­geren – und können sich deshalb gar nicht richtig auf den neuen Lebensort einlassen.

Fremdunterbringung – gemeinsam oder getrennt? Risiken und Chancen

Daran anknüpfend lässt sich die Frage stellen, ob Geschwister getrennt oder ge­meinsam untergebracht werden sollten.

In wenigen Situationen muss die Ent­scheidung eindeutig für eine getrennte Unterbringung fallen. Eine Interviewpart­nerin wurde von ihrem älteren Bruder se­xuell missbraucht. In diesem Fall wäre es unverantwortlich, die Kinder gemeinsam in einer Pflegefamilie unterzubringen.

In einer Zusammenschau der Interviews wird aber deutlich, dass in den meisten Fällen beide Entscheidungen sowohl Risi­ken als auch Chancen bergen.

Ein Risiko bei einer gemeinsamen Unter­bringung ist, dass die in den desolaten Si­tuationen in der Herkunftsfamilie erlernten Rollen weitergeführt werden und sich die Geschwister dadurch in ihrer Entwicklung hemmen. Die Herkunftsfamilie bleibt mit den gemeinsam untergebrachten Ge­schwistern ständig präsent und es ist schwieriger, die Geschwister in die Familie zu integrieren. Oft schaffen es die Ge­schwisterpaare nicht, sich aus ihren alten Rollen zu lösen. Nicole berichtet, dass das bei ihr bis heute – sie ist 21 Jahre alt – der Fall ist:

„…und ja es is so wie immer noch für Mela so, dass sie so die Mutterrolle immer noch übernimmt, aber das ist bei mir auch so, dass ich, egal was Mela sagt, dass ich da­rauf irgendwie höre. Weiß ich nicht, das is ganz komisch, obwohl ich irgendwie weiß ich nicht, es ist nicht richtig, aber es ist, ich muss es mir abgewöhnen und sie viel­leicht auch. Und ich glaub, das ist für uns beide nicht gut.“

Dem gegenüber stehen die Chancen der gemeinsamen Platzierung in einer Pflege­familie. Eine Fremdunterbringung ist für Kinder ein einschneidendes Erlebnis, das – insbesondere zu Beginn – die Kinder verwirrt. Viele berichten davon, dass sie sich ausgeliefert fühlten und dabei ihre ganze Sicherheit verloren haben. Ge­schwister als zentrale Bezugspersonen können sich in dieser Situation gegensei­tig Rückhalt geben.

Auch eine getrennte Unterbringung birgt Chancen und Risiken. Die große Chance besteht darin, dass sich Kinder, wenn sie alleine – von den Geschwistern getrennt – untergebracht werden, schneller an ande­re Personen, also Pflegegeschwister und andere Erwachsene binden und sich leich­ter in die Familie integrieren lassen. Ins­besondere die älteren Schwestern, die oft Sorgefunktionen für die jüngeren über­nommen haben, berichten darüber, dass sie es in der Pflegefamilie genießen konn­ten, endlich nicht mehr verantwortlich zu sein, endlich „Kind zu sein“ und sich von erwachsenen Bezugspersonen verwöh­nen zu lassen.

Gleichzeitig besteht das Risiko, dass es trotz getrennter Unterbringung den Kin­dern nicht gelingt, sich von der Verantwor­tung für ihre Geschwister zu lösen. Dies verstärkt sich, wenn jüngere Geschwister in der Herkunftsfamilie zurückbleiben. So berichtet die 19-jährige Katrin, die mit elf Jahren in eine Pflegefamilie kam, darüber, wie sie sich auch nach der Unterbringung Sorgen um die Geschwister gemacht hat:

„Und der Emil, der ja jetzt noch bei meiner leibliche Mutter wohnt, der hing auch ziemlich an mir, der hat mich auch manchmal Mama genannt, weil ich war halt immer so die Bezugsperson für ihn gewesen bin, und wir haben dann auch den ganzen Tag immer Kinderserien ge­guckt, ich hab für ihn gekocht, ich hab für ihn alles gemacht, und irgendwann bin ich dann halt weg. Da bin ich dann noch ein­mal, als ich zu den Pflegeeltern gezogen bin, da bin ich noch einmal dahin übers Wochenende, und da war sie wieder nachts weg, und da hab ich mich noch um ihn gekümmert und hab gesagt, „ja Emil, wie geht’s dir denn hier ohne mich“, und da sachte er ja hier, „Mama haut mich immer“, und da hab ich gesagt, „das darf doch wohl nicht wahr sein.“ Und da sagte er auch „Mama hat gesagt, ich darf dir das nicht sagen, sonst gibt’s noch mehr Haue. Bitte sag das keinem.“ Und da hab ich dann versucht, mit der Frau vom Pflege­kinderdienst drüber zu sprechen, aber ich hatte keine Beweise, ich hab gesagt, „was soll ich denn machen, soll ich den Jungen fotografieren oder auf ein Tonband auf­nehmen? Was soll ich denn machen?“ Ja, ich dürfte mich da nicht einmischen. Und dann kam das dann halt übers Jugendamt wieder zu ihr und seitdem haben sie ge­sagt, ich dürfte meine Geschwister auch nicht mehr sehe, die hab ich jetzt be­stimmt schon fünf Jahre nicht mehr gese­hen.“

Abgesehen davon, dass das Jugendamt in diesem Fall rechtswidrig gehandelt hat – ein Jugendamt darf kein Kontaktverbot für Geschwister verhängen – wird aus der Textpassage deutlich, wie die ältere Schwester in der Sorge um den jüngeren Bruder verblieben ist und damit wiederum nicht alle Entwicklungschancen, die sich ihr in der neuen Pflegefamilie geboten ha­ben, vollständig nutzen konnte. Ähnliche Sorgen machen sich ältere Geschwister regelmäßig, wenn sie davon erfahren, dass die leiblichen Eltern weitere Kinder nach der Fremdunterbringung bekommen haben. Wenn Kontakt zu den Herkunft­seltern besteht und die Kinder sehen, dass sich ihre jüngeren Geschwister dort wohlfühlen und gut entwickeln, dann stel­len sie sich oft die Frage, warum sie selbst nicht dort leben können, werden neidisch auf die Ge­schwister und zweifeln an sich. Eine wei­tere schwierige Situation, über die mehre­re GesprächspartnerInnen im Inter­view erzählen, tritt ein, wenn bei getrenn­ter Un­terbringung ein Geschwister sich Kontakt wünscht, der andere oder die an­deren aber nicht. Diejenigen, die ein ge­ringes In­teresse von ihren Geschwistern erlebt ha­ben, versuchen Begründungen dafür zu finden („hat viel mit Schule/Stu­dium/Ausbildung/Beruf zu tun“, „wohnt weit weg“, „hat gerade eine neue Freun­din“), zeigen aber auch, dass das Desinte­resse sie verletzt.

Geschwisterbeziehungen im Erwachsenenalter

Menschen, die nicht in ihren Herkunftsfa­milien aufgewachsen sind, haben oft im Jugend- und Erwachsenenalter ein aus­geprägtes Bedürfnis, Antworten auf Fra­gen nach der Herkunft und den Gründen der Fremdunterbringung zu bekommen.

In Bezug auf die Herkunft ist oft die Frage nach Ähnlichkeiten bedeutsam, die sich häufig bei Geschwistern finden lassen. Manchmal werden Ähnlichkeiten geradezu konstruiert, wie bei einer Interviewpart­nerin, die als über Dreißigjährige erstmals die Möglichkeit hatte, ihre leibliche Halb­schwester kennenzulernen. Enttäuscht musste sie beim ersten Treffen feststellen, dass keine äußerlichen Ähnlichkeiten er­kennbar waren. Im Gespräch stellte sich dann jedoch heraus, dass beide ein Ka­ninchen hatten, das auch noch denselben Namen trug – „das kann kein Zufall sein“, versicherte sie im Interview. Daran wird deutlich, wie wichtig es für Pflegekinder ist, über Ähnlichkeiten Zugehörigkeit zu ih­rer Herkunftsfamilie herzustellen.

Chris, die über viele Jahre nicht wusste, dass sie noch einen jüngeren Bruder hat, der zur Adoption freigegeben wurde, be­richtet davon, dass die äußerlichen Ähn­lichkeiten sie heute eng mit ihm verbinden. Umso mehr leidet sie darunter, dass sie über Jahre nichts von ihm wusste:

„ich will in die Wunde reinhauen bis sie [=die leiblichen Eltern] dran verrecken, weil sowas, dass sie meinen Bruder abge­schoben haben, meinen kleinen Bruder, ich mein, der ist gut aufgewachsen, aber die haben dieses Prachtkind, wenn ich so ein Sohn hätte, da wär ich froh, da wär ich stolz, wenn ich so einen hübschen und in­telligenten Sohn hab, das ist des intelli­genteste Produkt der ganzen Familie ja? Dass sie den weggegeben haben und dass sie mir ihn vorenthalten hatten, die­sen Menschen, den mit dem ich mich iden­tifiziern kann, das is der einzige erst­gradig verwandte Mensch in meinem Le­ben, Da­niel Busch, ja? Der mit dem ich mich iden­tifiziern kann un diese Mischung is richtig stark, erstgradig verwandt und man kann sich komplett mit dieser Person identifi­ziern und das is ein größeres Band als al­les andere, und damit da verletz ich sie [=die leiblichen Eltern] und da da da froh­lock ich, wenn da einer von denen heult da bin ich richtig, da geht‘s mir richtig gut. Und die Mama sagt immer „oh es tut mir so leid, dass du da früher so gelitten hast“ sag ich „weißte Mama, das is alles, viel­leicht hab ich Angst im Dunkeln und bin halt eh generell bisschen panischer und ängstlicher im Leben, aber das ist al­les nichts dagegen, was ihr mir angetan habt, dass ihr mir mein Bruder weg­genommen habt, dass ihr mich als aller­letzte davon erfahrn habt lassen, das nehm ich übel, da bin ich ganz knallhart en da gibt‘s nichts zu entschuldigen und wenn man mir sacht „ok ich hab dich frü­her geschlagen und allein gelassen und du hattest Hun­ger“ und so, da sag ich „Mama du warst jung, ich will auch keine Kinder im Moment und eh du hast mich auf die Welt gebracht alle Achtung, aber dass du mir mein Bru­der weggenommen hast“ da da da bin ich ganz rigoros und da verletz ich sie bis an ihr Lebensende damit und das das wird nie enden ich werde sie so foltern damit, das kannste dir nicht vor­stelln, den räche ich, der wurd abgescho­ben und das find ich unmöglich.“

Darüber hinaus gibt es jedoch auch kon­krete Fragen über die Lebensbedingun­gen in der Herkunftsfamilie und die Fremdunterbringung, auf die Pflegekinder Antworten suchen. Oft werden gerade die kritischen Themen, wenn Kontakt zu leib­lichen Eltern besteht, tabuisiert, um eine minimale Beziehungsbasis aufrechterhal­ten zu können. Dann wird oft von den älte­ren Geschwistern erwartet, dass sie zu den anstehenden Fragen Auskunft geben. In vielen Fällen, in denen die Geschwister getrennt untergebracht waren und über viele Jahre wenig Kontakt hatten, wird diese Erwartung nicht erfüllt. In einer Gruppendiskussion mit mehreren ehema­ligen Pflegekindern haben zwei junge Frauen, Kusuma (K) und Iris (I) über das Schweigen der älteren Geschwister disku­tiert:

„K: kriegst Du dann auch zu hören, guck nach vorne?

I: ja einmal das und auch so dieses, ist doch alles alter Käse, was willst denn da­mit noch.

K: mhm, ja das hör ich auch, guck nach vorne und wühl nicht in meiner Vergan­genheit und dann sag ich, wie soll ich nach vorne gucken, wenn mich die Ver­gangenheit immer wieder einholt […]

I: ja also und ich komm natürlich immer her und klopfe immer an und will was wis­sen, will was wissen, das stört natürlich und vielleicht rührt es meinen Bruder auch auf, weiß ich jetzt nicht, und deswegen wehrt er das natürlich auch ab.

K: ja aber bei ihm ist es doch bestimmt so, er hat das komplette Wissen, Du hast nur teilweise das Wissen und hast Fragen, genauso ist das nämlich auch bei mir, die haben das komplette Wissen und wollen nicht darüber reden, und wir haben aber halt Fragen dazu, weil wir nur Lücken ha­ben, oder wie soll ich das sagen, Puzzle­teile, und suchen halt die andern Stücke noch, die wir nicht kriegen, die haben die ganze Wahrheit.

I: das stimmt, aber weißte was, ich verste­he auch nicht, warum da keine Informatio­nen kommen, also ich halte ihm das auch vor, ich werfe ihm das auch, aber ich kann et nicht ändern…“

In dem Gespräch wird deutlich, wie schmerzhaft es ist, keine Antworten auf wichtige Fragen von den Geschwistern zu bekommen. Beide Interviewpartnerinnen betonen, dass das Nichtreden-Können über die gemeinsame Herkunft und Ver­gangenheit ihre Beziehung zu den Ge­schwistern nachhaltig beeinträchtigt und oberflächlich macht.

Interessant ist, dass Geschwister, die ge­meinsam untergebracht wurden, im Ge­gensatz dazu davon berichten, dass sie regelmäßig mit ihren Geschwistern über ihre gemeinsame Geschichte sprechen.

Pflegekinder, die über viele Jahre keinen Kontakt zu ihren anderweitig unterge­brachten oder in der Herkunftsfamilie ver­bliebenen Geschwistern hatten, berichten davon, dass es oft ein schwieriger Weg war, die Schwester oder den Bruder wie­derzufinden – in einem der Interviews ge­lang dies erst über eine Fernsehsendung. Wenn sich Geschwister dann treffen, muss erst wieder eine Beziehung herge­stellt werden. Das kann schwierig und mühselig sein, oder sogar ganz miss­lingen, weil sich die Bedingungen des Aufwachsens und der weitere Lebensweg stark voneinander unterschieden.

3. Was Pflegekinder sich in Bezug auf Geschwisterbeziehungen wünschen

  • Wenn Kinder fremduntergebracht wer­den, ist das eine sehr einschneidende Erfahrung. Wenn eine Fremdunterbrin­gung tatsächlich unvermeidbar ist, wünschen Kinder es sich, dass mit ihnen gesprochen wird und sie nach ih­ren Wünschen und Ängsten gefragt werden – und auch was sie sich in Be­zug auf ihre Geschwister wünschen
  • Verständnis dafür, dass die leiblichen Geschwister für Pflegekinder außer­ordentlich wichtig sind. Dieses Ver­ständnis sollten sowohl Pflegeeltern als auch Professionelle aus den Diensten haben
  • Respekt dafür, dass Pflegekinder Kon­takt zu ihren Geschwistern haben möchten
  • Unterstützung bei der Realisierung von Kontakten
  • Pflegekinder wünschen sich Informa­tionen über ihre Rechte. Dazu gehört, dass die Kinder wissen, dass Soziale Dienste nicht das Recht haben, Pflege­kindern den Kontakt zu ihren Ge­schwistern zu verbieten.

Weiterführende Literatur

  • Petri, Corinna; Radix, Kristina; Wolf, Klaus (2012) Ressourcen, Belastungen und pä­dagogisches Handeln in der stationären Betreuung von Geschwisterkindern. Mün­chen: SOS Kinderdorf; Materialien 14: Geschwister in der stationären Erzie­hungshilfe
  • Reimer, Daniela (2011) Pflegekinderstim­me. Arbeitshilfe zur Begleitung und Bera­tung von Pflegefamilien. Düsseldorf (Her­ausgeber: PAN e.V.)
  • Reimer, Daniela; Wolf, Klaus (2012) Ge­schwisterbeziehungen in der Fremdunter­bringung – Ressourcen und Belastungen. In: SOS Dialog. Fachmagazin des SOS – Kinderdorf e.V. – Themenheft Geschwister in der stationären Erziehungshilfe, S. 22-27

Quelle

Erstveröffentlichung in der Fachzeitschrift „Pflegekinder“ Heft 2/2013, S. 31 - 38, Hrsg. Familien für Kinder gGmbH, Berlin, www.familien-fuer-kinder.de

Autorin

Dr. Daniela Reimer, Dipl.-Soz.Arb.; Dipl.-Pädagogin, Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich Pflegekinderwesen

Zentrum für Planung und Evaluation Sozialer Dienste (ZPE)
Universität Siegen
Hölderlinstraße 3
57068 Siegen

Mit freundlicher Genehmigung der Familien für Kinder gGmbH

eingestellt am 04. Juli 2018