Kinderreiche Familien – ein Überblick
Dr. Kurt P. Bierschock
Kinderreichtum – ein Begriff im Wandel. Wie viele kinderreiche Familien gibt es denn noch? Bedeutet Kinderreichtum zugleich Armut – oder: wie gut oder schlecht leben Kinderreiche? Wie ist das mit der Berufstätigkeit von Müttern mit vielen Kindern? Und schließlich: was bedeutet es für Kinder, mehrere Geschwister zu haben? Diesen Fragen wird im folgenden Text nachgegangen.
Kinderreichtum – eine kurze Begriffsgeschichte
Die deutlich quantitativ kind(er)bezogenen Bezeichnungen kinderreich, kinderreiche Familie und Kinderreichtum sind eine Besonderheit der deutschen Sprache. Sie haben zumindest in den bekannteren westeuropäischen Sprachen keine unmittelbare Entsprechung. Dort ist nämlich die Bezeichnung auf die schlichte Tatsache bezogen, dass es sich um große Familien handelt, eben um large families (englisch), familles nombreuses (französisch) oder grote gezinnen (niederländisch).
Die – im Deutschen noch erkennbare – Verknüpfung von hoher Kinderzahl und Reichtum weist gleichsam als Überbleibsel vergangener gesellschaftlicher und insbesondere sozioökonomischer Verhältnisse darauf hin, dass eine große Kinderschar im Hause von vielen Familien durchaus als Reichtum angesehen wurde: Im intergenerativen ökonomischen Sinne – im wirtschaftlichen Verhältnis der Daseinsvorsorge also – wurde das Vorhandensein (möglichst) vieler Kinder durchaus als Altersversicherung verstanden, als Garantie, im Alter durch die Kinder und ihre Zuwendungen abgesichert zu sein. In vielen Fällen haben die Kinder zudem zur Sicherstellung des Familieneinkommens auch dann beigetragen, wenn die Eltern selbst noch im Erwerbsleben (z.B. in der Landwirtschaft, im Handwerk oder – zu Beginn des industriellen Zeitalters – in der Industrie) standen.
Wann ist man eigentlich heute “kinderreich” ?
Wenn man bei einer Straßenbefragung in Deutschland den Passanten die Frage “Mit wie vielen Kindern ist eine Familie kinderreich?” stellen würde, würden die meisten Befragten antworten: “Mit drei Kindern” . Es ist anzunehmen, dass die Antwort auch in anderen westlichen Gesellschaften so lauten würde. Hätte man hingegen die gleiche Frage etwa vor einhundert Jahren gestellt, so wäre die dabei genannte Anzahl in aller Regel um (mindestens) ein Kind höher gewesen.
Ausgehend von einem statistischem Mittelwert von 1,4 Kindern pro Familie und der daraus resultierenden Alltagserfahrung, dass die weitaus meisten Familien ein Kind oder zwei Kinder haben, decken sich hier die Obergrenze der Kinderzahl in einer Norm(al)familie und der – angenommene – Schwellenwert zum Kinderreichtum.
Mit dreien gilt man also als kinderreich – und wie viele kinderreiche Familien gibt es in Deutschland?
Es sind mehr Familien als man gemeinhin geneigt ist zu vermuten. Die Bevölkerungsstatistik weist nach, dass in etwa jeder achten Familie in Deutschland drei oder mehr Kinder leben. Genauer: laut Statistischem Jahrbuch hatten im Jahre 2002 12% aller Familien drei oder mehr Kinder. Die volljährigen Kinder sind hier mit einbezogen – zählt man nur die Kinder unter 18 Jahren mit, so beträgt die entsprechende Prozentzahl 11%.
Eine andere Quelle (Engstler, Heribert & Sonja Menning 2003: 39) geht davon aus, dass im Jahre 2000 in 11,7% der Familien in Deutschland drei oder mehr minderjährige Kinder lebten. Dies entspricht einer Gesamtzahl von 1,1 Millionen kinderreichen Familien. Ein Blick auf die Familienformen zeigt hier, dass 13% der Familien mit verheirateten Eltern als kinderreich anzusehen waren. Bei den nicht-ehelichen Lebensgemeinschaften waren es lediglich 5%, bei den allein Erziehenden jedoch immerhin 8%.
Unterschiede gibt es aber auch zwischen deutschen und nicht-deutschen Familien: Eine Neuauswertung des DJI-Familiensurveys 2000 zeigte, dass 14,7% der dort befragten Familien drei oder mehr Kinder hatten (drei Kinder: 11,6%, vier Kinder: 2,2%, fünf Kinder: 0,6%, sechs und mehr Kinder: 0,3%), während immerhin 29,9% der Zuwandererfamilien kinderreich waren (drei Kinder: 17,6%, vier Kinder: 9,0%, fünf Kinder: 1,7%, sechs und mehr Kinder: 1,2%) (DJI-Familiensurvey 2000; eigene ifb-Berechnungen 2003).
Warum Kinderreichtum nicht mehr en vogue ist
Die lange Zeit gültige und gängige Vorstellung, Kinder dienten vor allem auch der eigenen Absicherung für die alten Tage, verlor in Deutschland und in anderen europäischen Staaten erst mit der Schaffung und allmählichen Festigung der sozialen Sicherungssysteme – in Deutschland mit den Auf- und Ausbau des Sozialversicherungsstaates Bismarckscher Prägung – an Bedeutung. Neben der Tatsache, dass Kinder nicht länger der Sicherstellung des materiellen Überlebens der Familie dienten, wurden in der industriellen Moderne – etwa zu Beginn des 20. Jahrhunderts – drei weitere Gründe, die zu hohen Kinderzahlen geführt hatten, zunehmend bedeutungslos:
- Die Zufälligkeit der Zeugung von Kindern wurde im Verlaufe des 20. Jahrhunderts durch verschiedene Verhütungsmethoden und -mittel (z.B. Knaus-Orgino, Kondom, Spirale und schließlich die Pille) stark eingeschränkt – mit der Folge, dass Kinderreichtum nunmehr eine – mehr oder minder – bewusste Entscheidung der Eltern ist.
- Die Säuglings- und Kindersterblichkeit ging aufgrund umfassender medizinischer und hygienetechnischer Fortschritte im 20. Jahrhundert erheblich zurück. Dies hatte zur Folge, dass die Familienplanung – im Sinne der Planbarkeit der Zukunft mit weniger Kindern – weiter erleichtert wurde.
- Wesentlich für den Rückgang der Kinderzahl in den Familien waren aber auch – spätestens seit den 1970er Jahren – die Individualisierungstendenzen in den westlichen Gesellschaften, insbesondere auch in der Bundesrepublik Deutschland.
Kinder kosten zudem Geld, und nicht wenige Paare beziehen den Kostenfaktor Kind in ihre Überlegung mit ein, indem sie lediglich ein oder zwei Kinder oder überhaupt keine Kinder bekommen. Mehr darüber im Kapitel “Kinderreichtum = Kinderarmut” .
Und wer ist denn nun kinderreich?
Entgegen der landläufigen Meinung gibt es auf der Grundlage der üblichen soziodemografischen Kategorien keine eindeutige Disposition, kinderreich zu werden. Weder die üblichen Annahmen, dass Kinderreiche eher in ländlichen Regionen leben würden oder dass kinderreiche Eltern im Durchschnitt über ein niedrigeres Bildungsniveau verfügten bzw. einen geringeren beruflichen Status hätten, lassen sich bestätigen – das Bildungsniveau von Eltern mit vielen Kindern liegt sogar über den Durchschnitt aller Eltern (s. Eggen & Leschborn, 2004). Allenfalls die oft zu hörende Vermutung, kinderreiche Eltern seien religiöser eingestellt als Eltern mit weniger Kindern, lässt sich tendenziell bestätigen: Im Leben kinderreicher Eltern haben Religion und Kirche einen deutlich höheren Stellenwert (s. auch Bamberger Ehepaar-Panel 2003: 103).
Weshalb wird man kinderreich?
Fragt man die Eltern nach den Gründen, weshalb sie viele Kinder haben (wollten), so waren in den Interviews, die das Staatsinstitut für Familienforschung an der Universität Bamberg (ifb) im Jahre 2003 mit kinderreichen Familien (N=31) durchführte, die Antworten darauf recht vielfältig. Oft werden positive Erfahrungen mit Geschwistern in der eigenen Kindheit genannt – wobei kinderreiche Eltern nicht überdurchschnittlich oft aus kinderreichen Familien stammen. Gelegentlich spielen aber auch negative Erfahrungen in der Kindheit eine Rolle: Man möchte an den eigenen Kinder gut machen, was man selbst nicht erfahren hat. In aller Regel wurde aber betont, dass viele Kinder ein Wert an sich sind, Lebendigkeit in die Familie bringen und so das Familienleben bunt machen.
Die jeweilige Entscheidung, (noch) ein weiteres Kind zu bekommen, wird in aller Regel einvernehmlich getroffen, d.h. von beiden Partnern gemeinsam. Allerdings wurden bei dritten und noch deutlicher beim vierten Kind Vorenthalte zumindest eines der Partner gegen dieses weitere Kind geäußert. Manchmal klang bei den Interviews auch an, dass es die Eltern hinsichtlich der Zeugung ihrer Kinder oft einfach darauf ankommen ließen, d.h. eine Familienplanung im strikten Sinne bewusst nicht stattfand.
Ein weiteres Charakteristikum kinderreicher Eltern besteht darin, dass das durchschnittliche Alter beider Partner bei der Geburt des ersten Kindes um gut ein Jahr niedriger ist als im Durchschnitt aller Eltern (kinderreiche Mütter: 27,0 Jahre, kinderreiche Väter: 30,0 Jahre; Durchschnitt: Mütter: 28,3 Jahre, Väter: 30,8 Jahre; Bamberger Ehepaare-Panel 2003: 104).
Kinderreichtum = Kinderarmut?
Wie bereits angedeutet, haben auch wirtschaftliche Erwägungen dazu beigetragen, dass Kinderreichtum nicht mehr en vogue ist. Bei einem deutlich unterdurchschnittlichen (Haushalts-) Einkommen der Eltern und – in noch stärkerem Umfang – in Ein-Eltern-Fami-lien führt Kinderreichtum zu (relativer) Armut bzw. zu Kinderarmut. Mit letzterer ist hier die wirtschaftliche Deprivation der einzelnen Kinder in einer solchen Familie gemeint. Bei den Ursachen für – relative – Armut oder für das so genannte Armutsrisiko wird Kinderreichtum (je nach Ansatz der jeweiligen Untersuchung) an erster oder zweiter Stelle platziert – die Langzeitarbeitslosigkeit steht dann auf dem jeweils anderen Rangplatz.
Allerdings gibt es aber auch den Trend, dass insbesondere Familien mit weit überdurchschnittlichem Einkommen unter den Kinderreichen zu finden sind. Pointiert und damit auch verkürzt formuliert: Es gibt unter den kinderreichen Familien vermehrt solche, die trotz staatlicher Transferleistungen (wie z.B. Kindergeld) an oder knapp oberhalb der Armutsschwelle leben, und ebenfalls vermehrt solche, deren Einkommen – auch ohne staatliche Transferleistungen – weit überdurchschnittlich sind. Kurzum: unter den Kinderreichen sind sehr arme und sehr reiche Familien – im Verhältnis zur allgemeinen Verteilung der Familieneinkommen – überdurchschnittlich vertreten.
Über welches Einkommen verfügen kinderreiche Familien?
Auf der Grundlage des DJI-Familiensurveys 2000 berechnet, betrug das durchschnittliche Haushaltseinkommen großer Familien 5.570 DM und das von Familien mit nur einem Kind 4.981 DM. Mit dem jeweiligen Haushaltseinkommen muss in kinderreichen Familien eine größere Anzahl von Familienmitgliedern unterhalten werden: In einer Ein-Kind-Familie betrug das Pro-Kopf-Einkommen damals im Mittel 1.703 DM, in Familien mit zwei Kindern 1,533 DM, in kinderreichen Familien jedoch nur 1.393 DM (eigene ifb-Berechnungen auf Basis des DJI-Familiensurvey).
Diese Zahlen geben noch keine hinreichende Auskunft über den Bedarf und die erreichte Bedarfsdeckung in großen Familien. Aus diesem Grunde bedient man sich der so genannten (neuen) OECD-Skala, mit deren Hilfe jedem Familienmitglied ein bestimmter Bedarfsfaktor zugeschrieben wird – auch weil ältere Kinder mehr kosten als etwa Kleinkinder. Für das so genannte Bamberger Ehepaare-Panel (2003) wurde auf diese Weise für die verschiedenen Familiengrößen folgende bedarfsgewichtete Pro-Kopf-Einkommen berechnet: Für Familien mit einem Kind betrug dieser Wert 1.880 EUR, für Zwei-Kind-Familien 1.700 EUR und für große Familien 1.690 EUR (Bamberger Ehepaare-Panel 2003: 66).
Große Familien sind – zumindest nach dieser Stichprobe, in der allerdings die Mittelschichten etwas zu stark vertreten sind – nur unwesentlich schlechter gestellt als Familien mit zwei Kindern. Gegenüber Ein-Kind-Familien ist die Differenz allerdings nicht unerheblich, d.h. große Familien verfügen pro Kopf über deutlich weniger Geld, um ihren Bedarf zu decken, als Eltern mit nur einem Kind.
Wie (un-)zufrieden sind kinderreiche Eltern mit ihrer wirtschaftlichen Lage?
Fragt man die kinderreichen Familien nach ihrer Zufriedenheit mit der finanziellen Situation, so zeigt sich, dass sie – auch angesichts des geringeren bedarfsgewichteten Einkommens – unzufriedener sind als kleinere Familien, dass aber – entgegen der allgemeinen Erwartung – die Unterschiede nicht so gravierend in dem Sinne sind, dass sich kinderreiche Familien generell in einer deutlich schlechteren Lage sehen. Allerdings kann diesen Einschätzungen auch entnommen werden, dass einerseits am oberen Ende der Zufriedenheitsskala ein nur leichter Rückgang gegenüber kleineren Familien und andererseits in den untersten Kategorien eine relativ starke Zunahme zu verzeichnen ist (es geht ihnen schlecht; die finanzielle Lage ist völlig unzureichend). Die Kategorien und die Einschätzungen im Einzelnen (ifb-Berechnung auf Basis des Bamberger Ehepaar-Panels):
- Als “ausgezeichnet” schätzten ihre finanzielle Situation ein: 5,2% der Eltern mit einem Kind, 4,7% der Eltern mit zwei Kindern, 4,6% der Eltern mit drei oder mehr Kindern – ein leichter Rückgang auf relativ niedrigem Niveau.
- Als “zufrieden stellend” bezeichneten ihre finanzielle Lage: 74,8% (Ein-Kind-Familien), 74,6% (Zwei-Kind-Familien) und 66,2% (kinderreiche Familien) – nur eine geringe Abnahme zwischen dem ersten und zweiten Kind, ein recht deutlicher Rückgang in der Zufriedenheit bei den Kinderreichen.
- Als “bescheiden – es reicht für das Notwendigste” stuften die Finanzlage ein: 16,7% (Ein-Kind-Familien), 17,9% (Zwei-Kind-Familien) und 22,9% (kinderreiche Familien) – hier nehmen die Anteile quasi im Gegenzug zu: leicht zwischen den Ein- und Zwei-Kind-Familien, deutlich bei den Kinderreichen.
- Als “schlecht – wir können uns viele Dinge nicht leisten” sahen ihre finanzielle Position: 2,5% (Ein-Kind-Familien), 2,4% (Zwei-Kind-Familien) und 3,9% (kinderreiche Familien) – diese Einschätzung, die wohl als Entsprechung zur Schwelle zur Armut angesehen werden könnte, ist zwar im Vergleich zwischen Ein- und Zwei-Kind-Familien so gut wie unverändert, bei den Kinderreichen verdoppelt sich dieser Anteil dann nahezu.
- Als “völlig unzureichend” betrachteten ihre Finanzverhältnisse jeweils 0,8% der Ein- und Zwei-Kind-Familien und 2,4% der großen Familien – auch bei dieser Einschätzung, die auf ein Leben in Armut hinweisen könnte, nimmt der Anteil der Kinderreichen erheblich zu.
Welche Kosten werden von den kinderreichen Familien als besonders hoch empfunden?
Neben den Kosten für den Wohnraum – sei es für eine angemietete Wohnung, die sich oft als zu klein erweist; sei es für Wohnungseigentum, für das sich, auch angesichts der hohen Mietpreise für adäquat große Wohnungen, sehr viele kinderreiche Familien entschieden haben und das manchmal zu längerfristigen Finanzierungsproblemen führt – werden oft auch die Kosten für Bekleidung, Schule und Freizeitaktivitäten als hoch eingeschätzt. Während aber in der Regel die notwendigen Ausgaben für Bekleidung, Spielzeug etc. bei den kleineren Kindern als relativ unproblematisch gelten, werden bei niedrigen bis mittleren Familieneinkommen die Ausgaben für größere Kinder – z.B. für Bekleidung, Schulmaterialien und -fahrten, Beiträge für Sportvereine und Musikschulen – oft als Belastung empfunden. Kritisiert wird zudem das Fehlen von spürbaren Preisnachlässen etwa für den Besuch von Schwimmbädern, Museen etc. Auch Fernreisen bzw. Pauschalflugreisen werden mit zunehmender Kinderzahl und zunehmenden Alter der Kinder immer kostspieliger und in vielen Fällen unerschwinglich.
Allerdings muss man berücksichtigen, dass die Ehepartner in (nunmehr) kinderreichen Familien sich – wie die Auswertung qualitativer Interviews (ifb) zeigte – oft von vorneherein darüber bewusst waren, dass viele Kinder “ihren Preis” haben: d.h., dass die Lebensfreude, die aus der Anwesenheit vieler Kinder im Haushalt erwächst, mit einem niedrigen Lebensstandard einhergehen könnte. Dies wird übrigens – unter Hinweis auf oft als unzureichend angesehene staatliche Unterstützung, auf mangelnde Berücksichtigung der höheren Kinderzahl in Form von Ermäßigungen (etwa bei den Eintritts- und Fahrpreisen sowie Teilnahmegebühren) sowie auf die Infrastrukturen (Wohnumfeld, staatliche und kommunale Einrichtungen, Betreuungs- und Bildungseinrichtungen, Wohlfahrtsorganisationen und Dienstleistungssektor u.a.) – teilweise recht heftig (und deftig) kritisiert, aber auch gleichsam als “systemimmanent” eingestuft.
Fühlen sich kinderreiche Eltern sozial ausgegrenzt?
Die “strukturelle Rücksichtslosigkeit gegenüber der Familie” , die Franz-Xaver Kaufmann schon zu Beginn der 1990er Jahre kritisiert hat (s. Kaufmann 1995: 169 ff.), wirkt sich im verstärktem Maße auf kinderreiche Familien aus – wenngleich die Erfahrungen, die kinderreiche Eltern machen, nicht generell negativ sind. Das Bild, das die befragten Eltern hier zeichneten, war durchaus durchwachsen; von einer allgemeinen und allumfassenden Diskriminierung im Alltag konnte jedoch nicht die Rede sein. Gelegentlich werden jedoch diskriminierende Äußerungen von Passanten oder in der Nachbarschaft erwähnt, die auf ein gewisses Unverständnis und auf Unkenntnis des Kinderreichtums hinweisen. Kinderfeindlichkeit manifestiert sich eben im verstärkten Maße gegenüber Kinderreichen, manchmal auch in Form sexuell gefärbter Anspielungen.
Bräuchten kinderreiche Familien mehr Unterstützung bei der Kinderbetreuung?
Die Unterstützung bei der Kinderbetreuung wird oft als unzureichend angesehen: Die Unterstützungsnetzwerke, insbesondere für plötzlich auftretende Betreuungsbedarfe, sind – so die Aussagen der befragten Mütter und Väter – nicht sehr dicht geknüpft und beschränken sich oft auf benachbarte Familien, die ebenfalls mehrere Kinder haben. Lediglich bei entsprechender finanzieller Ausstattung der Familien wurden verstärkt Dienstleistungen “eingekauft” (Haushaltshilfe), um hoch qualifizierten Müttern die (zeitweise) Berufsausübung zu ermöglichen.
Familie und Beruf – (k)ein Thema für kinderreiche Mütter?
Die Berufstätigkeit kinderreicher Mütter ist in aller Regel durch einen ständigen Wechsel zwischen der Berufstätigkeit und den “Babypausen” gekennzeichnet, wobei der Stundenumfang tendenziell nach jeder Unterbrechung abnimmt und die Unterbrechungsdauer – auch je nach Konstellation der Geburtenabfolge – tendenziell zunimmt.
Gleichermaßen nimmt der Anteil der Frau am Haushaltseinkommen mit jedem weiteren Kind tendenziell ab: Während beispielsweise 27,1% der Frauen mit einem Kind zwischen 25 und 50% des Haushaltseinkommens erzielten, also einer typischen Teilzeitbeschäftigung nachgingen, sank dieser Anteil auf 14,9% bei den Frauen mit drei oder mehr Kindern (Bamberger Ehepaare-Panel 2003).
Nahezu alle (Ehe-) Männer in kinderreichen Familie sind hingegen Vollzeit berufstätig und sorgen so für den Hauptanteil des Einkommens – die Erwerbsbeteiligung von Mann und Frau ist also in kinderreichen Familien weitgehend traditionell organisiert. Festzuhalten ist jedoch, dass auch kinderreiche Mütter nicht (mehr) durchgehend dem klassischen Bild des “Aufgehens” in der Mutterrolle entsprechen – emanzipative Spurenelemente im Sinne eines eigenständigen beruflichen Wege sind auch hier vielfach auszumachen, und sei es aus Überlegungen der ökonomischen Notwendigkeit einer Ergänzung des familiären Einkommens heraus.
Die meisten kinderreichen Mütter haben auch mit wachsender Kinderzahl durchaus Aspirationen bezüglich einer beruflichen Tätigkeit, sei es im Rahmen einer Erwerbstätigkeit mit eher begrenzten Stundenumfang, sobald das Letztgeborene Betreuungseinrichtungen besuchen kann, sei es als aufrecht erhaltene Perspektive einer Rückkehr in den Beruf, sobald alle Kinder “aus dem Gröbsten heraus” – sprich: im Teenageralter – sind.
Auch bei den kinderreichen Müttern sind alle vier gängigen Typen hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Familie und Beruf vertreten, selbst wenn die Annahme zulässig ist, dass mit einer bewussten Entscheidung, eine große Familie zu werden, in vielen Fällen auch eine bewusste Entscheidung für eine traditionelle Frauenrolle einherging. In der Umsetzung dieser Entscheidung für ein traditionelles Rollenverständnis kommt es dann dazu, dass viele kinderreiche Mütter durchaus zufrieden mit ihrer Rollen sind; bei einem kleineren Teil führte die alltägliche Lebenswirklichkeit in einer großen Familie – insbesondere bei ungünstigen sozioökonomischen und/oder Partnerschaft-Verhältnissen – zu Unzufriedenheit, ja Verbitterung.
Bei den berufstätigen kinderreichen Müttern sind ebenfalls zwei Typen auszumachen: Hoch qualifizierte (insbesondere freiberuflich Tätige), bei bestimmten Arbeitsgebern (z.B. öffentlicher Dienst) beschäftigte und/oder mit entsprechenden finanziellen Ressourcen (für das outsourcing von Haushalts- und Betreuungstätigkeiten) ausgestattete und damit privilegierte Mütter halten die Vereinbarkeit von Familie und Beruf insgesamt für unproblematisch, während andere mehr oder minder stark unter der Doppelbelastung leiden.
Geschwisterverhältnisse: Vorteile für alle Kinder – Nachteile für das einzelne Kind?
Kinder in großen Familien haben – mindestens – zwei Geschwister. Dies hat natürlich Auswirkungen auf die Geschwisterbeziehungen und auf die Mitwirkung der Kinder bei den Haushalts- und Betreuungstätigkeiten, aber auch auf die Möglichkeiten individueller Förderung der einzelnen Kinder.
Positiv zu bewerten ist sicherlich, dass die Kinder im täglichen Umgang mit jüngeren/ älteren Geschwistern soziale Kompetenzen erwerben – dass sie etwa lernen, auf die jüngeren Geschwister Rücksicht zu nehmen und ihnen Hilfestellungen zu geben. Außerdem mangelt es in kinderreichen Familien – zumindest bei entsprechender Altersabfolge – nie an Spielkameraden. Auch kleinere Betreuungsaufgaben ( “Aufpassen” ) werden von den älteren Geschwistern häufig übernommen. Zudem werden die (älteren der) Kinder oft dazu angehalten, Pflichten im Haushalt zu übernehmen und dadurch die Eltern zu entlasten. Allerdings sorgen sich die Eltern – angesichts der vielfältigen Betreuungs- und Erziehungsaufgaben -, ob sie den einzelnen Kindern genügend individuelle Förderung (etwa im Bereich der schulischen Entwicklung) zukommen lassen können.
Kurzum: soziale Kompetenzen erwachsen aus den Beziehungen der Geschwister untereinander; die individuelle Entwicklung der kognitiven Fähigkeiten wie auch die Beziehung zwischen den Eltern und dem einzelnen Kind werden von den Eltern oft sehr bewusst in den Blick genommen, um keines der Kinder zu benachteiligen.
Jedoch kann – wie in den ifb-Interviews mit kinderreichen Eltern oft berichtet wurde – der aus der individuellen Förderung erwachsende Betreuungs- und Erziehungsaufwand sich belastend auf die Qualität der Partnerbeziehung auswirken. Auch die Kommunikation zwischen den Partnern dreht sich überwiegend um den Alltag mit den Kindern und bezieht sich nicht mehr so sehr auf die Paarbeziehung als solche.
Zitierte Literatur
- Eggen, Bernd & Leschborn, Harald (2004): Kinderreichtum und Bildung. In: Statistisches Monatsheft Baden-Württemberg, 7/2004, S. 8-11
- Engstler, Heribert & Menning, Sonja (2003): Die Familie im Spiegel der amtlichen Statistik. Datenbroschüre des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, S. 39
- Kaufmann, Franz-Xaver: Zukunft der Familie im vereinigten Deutschland. München: C.H. Beck
- Rost, Harald, Rupp, Marina, Schulz, Florian & Vaskovics, Laszlo A. (2003): Bamberger Ehepaar-Panel. Bamberg: ifb
Ausgewählte, weiterführende Literatur zum Thema
- Babka von Godomski, Christian (1998): Machen Kinder Ehen glücklich? In: Demographie – Zeitschrift für Bevölkerungswissenschaften, 23 Jg., Heft 2, S. 151-178
- Buchholz, Roswitha, Fügemann, Christine & Minsel, Wolf-Rüdiger (2002): Der Übergang zur Drei-Kind-Familie. In: systema, Heft 1, S. 42-49
- Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2007): MONITOR FAMILIENFORSCHUNG. Ausgabe Nr. 10: Kinderreichtum in Deutschland
- Bundesregierung (2001): Lebenslagen in Deutschland. Der erste Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung. S. 17-24, 78-94, 95-118, 282-288
- Burkard, Günther (1994): Die Entscheidung zur Elternschaft. Eine empirische Kritik von Individualisierungs- und Rational-Choice-Theorien. Stuttgart: Ferdinand Enke Verlag
- Butterwegge, Christoph (2002): Kinderarmut und Generationengerechtigkeit. Familien- und Sozialpolitik im demografischen Wandel. Opladen: Leske + Budrich
- Geller, Helmut (1997): Kinderreiche Mütter. Lebensentwürfe, Probleme und Perspektiven. Opladen: Leske + Budrich
- Nauck, Bernhard & Kohlmann, Annette (1999): “Values of Children – Ein Forschungsprogramm zur Erklärung von generativem Verhalten und intergenerativen Beziehungen” . In: Busch, Friedrich W., Nauck, Bernhard & Nave-Herz, Rosemarie (Hrsg.): Aktuelle Forschungsfelder der Familienwissenschaft. Würzburg: Ergon, S. 53-73
- Neubauer, Georg, Fromme, Johannes & Engelbert Angelika (Hrsg.) (2002): Ökonomisierung der Kindheit. Sozialpolitische Entwicklungen und ihre Folgen. Opladen: Leske + Budrich
- Quednau, Heike (1994): Kinderreichtum. Einfluss der Kinderzahl auf Lebensentwürfe und Planungsverhalten von Müttern. Essen (Dissertation, Manuskript)
- Schicha, Christian (1996): Lebenszusammenhänge kinderreicher Mütter. Frankfurt am Main: Lang
Autor
Dr. Kurt P. Bierschock, M.A., Soziologe, Diplom-Sozialpädagoge (FH), wissenschaftlicher Referent beim Staatsinstitut für Familienforschung an der Universität Bamberg (ifb) in Bamberg, Redakteur der Zeitschrift für Familienforschung, stellvertretender Vorsitzender von HIPPY Deutschland e.V. Forschungsschwerpunkte: präventive Familienbildung, kinderreichen Familien und Zuwandererfamilien, Sozial- und Familienpolitik im internationalen Vergleich, insbesondere Kanada.
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Dr. Kurt P. Bierschock
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Erstellt am 2. November 2004, zuletzt geändert am 3. März 2010