Sind Entwicklungsverzögerungen bei Zwillingen häufiger?
Sigrun Rux
Über ein Jahr sind die Zwillinge Clarissa und Tamara jetzt schon, aber weit davon entfernt, ein paar selbständige Schritte zu wagen. “Unsere älteren Kinder konnten schon mit elf Monaten gehen” , schreibt mir eine Mutter aus Erfurt, “auch sonst scheinen mir die Zwillinge in ihrer Entwicklung ein bisschen zurück zu sein.”
Zwillingseltern machen sich häufiger Sorgen als Eltern von “Einlingen” , ob die motorische und geistige Entwicklung ihrer Kinder im ersten Jahr “normal” verläuft. Leichte Entwicklungsverzögerungen sind bei Zwillingen keine Seltenheit. Die Ursachen dafür können mit der Frühgeburt oder mit einer Wachstumsverzögerung beziehungsweise Lageanomalien im Mutterleib in Zusammenhang stehen. Wenn Sie also bei der Entwicklung ihrer Zwillinge starke Abweichungen zu einem anderen gleichaltrigen Kind bemerken, sollten Sie bei frühgeborenen Zwillingen zuerst immer das Geburtsdatum korrigieren, das heißt zum Geburtstag die fehlenden Wochen bis zum “errechneten” Geburtstermin dazuzählen. Aber auch die Orientierung aneinander oder ein gewisser Mangel an Aufmerksamkeit (aus Zeitgründen) seitens der Eltern kann bewirken, dass sich Zwillinge etwas langsamer entwickeln als einzelne Kinder. Außerdem gibt es bei der Entwicklung speziell im ersten Lebensjahr eine recht breite Streuung: das eine Kind geht schon mit zehn Monaten, ein anderes macht erst mit 18 Monaten die ersten Schritte – und beides ist normal.
Motorische Entwicklung
Lassen Sie sich nicht von Entwicklungstabellen oder dem Konkurrenzdenken anderer Eltern irreführen – regelmäßige Besuche beim Kinderarzt geben Aufschluss über die gesunde Entwicklung der Kinder. An den großen Kliniken ist es üblich, bei frühgeborenen Kindern und oft auch routinemäßig bei Mehrlingsgeburten in regelmäßigen Abständen Entwicklungskontrollen durchzuführen. Erfahrene Kinderärzte und Neonatologen können durch sorgfältige Untersuchungen eine mögliche Entwicklungsverzögerung oder Entwicklungsstörung feststellen und gegebenenfalls eine Therapie einleiten.
Meine Zwillingsmädchen hatten in den ersten einundeinhalb Lebensjahren eine – in meinen Augen – ziemlich verzögerte motorische Entwicklung: Sitzen mit 10 Monaten, Krabbeln mit einem Jahr, Laufen mit 17 Monaten. Nachdem zwei Kinderärzte Bedenken darüber geäußert hatten, begaben wir uns voller Sorge zu einem Spezialisten. “Alles in Ordnung” konstatierte er, und ich hatte irgendwie das Gefühl, seit wir die Entwicklung unserer Zwillinge lockerer verfolgten, wurden sie auch zunehmend mobiler. Heute gibt es keinen Balken, auf dem sie nicht balancieren, keinen Baum, auf den sie nicht unbedingt hinaufklettern müssen.
Sprachentwicklung bei Zwillingen
Forschungen auf diesem Gebiet haben ergeben, dass Zwillinge im Durchschnitt in der Sprachentwicklung etwa sechs Monate hinter Einlingen liegen. Das trifft aber selbstverständlich nicht auf alle Zwillingskinder zu. Viele Zwillinge sind sogar sprachlich sehr gewandt, und selbst wenn eine Verzögerung beim Erlernen der Sprache vorhanden ist, muss das nicht bedeuten, dass sich für das betroffene Kind daraus spätere Probleme ergeben.
Wann sollten Eltern beunruhigt sein? Zwillingseltern sollten auf jeden Fall gewissenhaft alle Vorsorgeuntersuchungen in Anspruch nehmen. Der Kinderarzt kann am ehesten beurteilen, ob die Kinder – oder eines von ihnen – in ihrer Sprachentwicklung zurück sind oder ob eine Therapie beim Logopäden angebracht ist. Bei einer leichten Verzögerung, wobei verschiedene Faktoren berücksichtigt werden müssen, genügt es aber schon, die Kinder auf individueller Basis zum Sprechen zu motivieren, wie etwa durch tägliches Vorlesen, Vorsprechen von Kinderreimen und oftmaliges Wiederholen der zu erlernenden Ausdrücke.
Spätere sprachliche Probleme können verhindert werden, wenn die Eltern aber auch Pädagogen darauf achten, dass in den ersten Jahren Sprachschwierigkeiten bei Zwillingen möglich sind. Besonders bei Zwillingsjungen wird manchmal ein Zusammenhang zwischen langsamer Sprachentwicklung und Verhaltensschwierigkeiten beobachtet.
Eine Mutter von eineiigen Zwillingen aus Zürich kann davon ein Lied singen: Ihre Zwillingsbuben sprachen bis zum dritten Lebensjahr höchstens fünf bis sechs unzusammenhängende Worte. Trotz spielerischer Übungen kam keine Reaktion von seiten der Kinder mehr zu sprechen. Mit viereinhalb folgte die erste logopädische Behandlung, die zumindest den Erfolg brachte, dass die Kinder eine erhöhte Bereitschaft zum Sprechen zeigten. Dennoch waren die Zwillinge bis zum Eintritt in das Schulalter von Außenstehenden kaum zu verstehen und man merkte deutlich, dass sie sprachlich weit hinter den anderen waren. Dazu kam noch, dass sie sich gegenseitig blockierten. Justin, der öfters Ansätze zum Reden zeigte, wurde oft von seinem dominanten Bruder Florin unterbrochen oder überhaupt zum Schweigen gebracht. Miteinander hatten die beiden zwar eine eigene Art der Verständigung, die anderen Kinder lehnten sie jedoch wegen der Sprachprobleme ab, was wiederum dazu führte, dass vor allem Florin zu aggressiven Handlungen neigte.
Als die Zwillinge sieben Jahre alt waren, bekamen sie noch einen Bruder. Auch bei ihm zeigten sich von Anfang an Sprachschwierigkeiten. Diesmal bemühten sich die Eltern um eine frühzeitige Förderung, und obwohl nicht zu erwarten war, dass aus Etien ein Sprachgenie wird, hatten sie diesmal die Probleme schneller in Griff.
Dieses Beispiel macht deutlich, dass sprachliche Probleme innerhalb einer Familie nicht nur mit den Zwillingen in Zusammenhang stehen müssen, manchmal können auch erbliche Faktoren eine Rolle spielen. Oft wird übersehen, dass das Erlernen der Sprache ein zweifacher Prozess ist: Verstehen und selbst Sprechen. Auch Kinder, die lange Zeit nicht selbst sprechen, haben einen unheimlich großen passiven Wortschatz, das heißt sie speichern sehr wohl die Ausdrücke, die sie von ihrer Umwelt hören.
Das Geheimnis der Zwillingssprache
Es gibt in der Tat eine Art “Geheimsprache” , die vor allem eineiige Zwillinge untereinander entwickeln und die nur sie und sonst keiner, oft nicht einmal die Eltern, verstehen. Genauer betrachtet handelt es sich dabei um eine einfach strukturierte, unreife Sprache verbunden mit viel Gestik und Mimik.
Normalerweise verliert sich aber die Zwillingssprache bis zum Ende des dritten Lebensjahres wieder, es besteht also kein Grund zur Sorge, vorausgesetzt es erfolgt nebenbei auch eine normale Sprachentwicklung.
Zwillinge verstehen einander oft nur durch die Körpersprache, so dass es für sie weniger wichtig erscheint, viele Worte miteinander zu wechseln. Durch ihre Nähe zueinander sehen sie keine Notwendigkeit, sich für andere (erwachsene) Menschen deutlicher auszudrücken.
Aus Untersuchungen an Zwillingsfamilien geht hervor, dass Zwillinge aufgrund von Zeitmangel von ihren Eltern weniger sprachliche Zuwendung erfahren als einzelne. Dieser Mangel an Sprachanreiz führt dazu, dass sich die Kinder von der Außenwelt abkoppeln und miteinander eine eigene Art der Kommunikation entwickeln. Dass Zwillinge, solange sie klein sind, seltener einzeln angesprochen werden, scheint dabei auch eine Rolle zu spielen. Ich ertappe mich selbst oft dabei, dass ich zu meinen Kindern immer wieder in der Pluralform spreche: “Margit und Astrid, kommt ihr bitte her…” Auch Zwillingseltern lernen also nicht so schnell aus. Ganz besonders wichtig für die gesamte Entwicklung in den ersten Jahren ist, jedes Kind individuell zu fördern.
Mehr Information zum Thema Zwillinge hier.
Literatur
- Pighin, G.: Kinder lernen sprechen, Pattloch Verlag
- Zollinger, B.: Wenn Kinder die Sprache nicht entdecken, Herder Verlag, Freiburg 2000.
- Pulkkinen, A.: Babys spielerisch fördern, GU Verlag, München 1999.
Weitere Beiträge der Autorin hier in unserem Familienhandbuch
- Was Sie über Zwillinge wissen sollten
- Alltag mit Zwillingen: Neuorganisation der Familie
- Muss man Zwillinge anders erziehen?
- Schwangerschaft und Geburt im Doppelpack: was ist anders?
Autorin
Sigrun Rux, Journalistin, Fachgebiete: Medizin und Psychologie
Erstellt am 29. Januar 2002, zuletzt geändert am 19. Februar 2010