Wie Zwillinge unter ihrer Situation leiden

Die aus einer natürlichen geschwisterlichen Wettbewerbssituation sich zwangsläufig ergebenden erzieherischen Problemsituationen sind hinlänglich bekannt. Für „Zwillingssituationen“ gelten die üblichen Maßstäbe nicht. Aus der Distanz des “gesetzten Al­ters” kann über eine Zwillings-Erziehung unter besonderen Konkurrenzbedingungen und der An­nahme berichtet werden, dass es sich hierbei sicherlich nicht um einen spezifischen Einzelfall handelt. Für Eineiige ist die Welt doppelt und sie wird harmonisch zusammen erlebt. Zweieiige werden von den Anderen zwar doppelt gesehen, sie selbst definieren sich aber durch Unterschiede. Wie wirkt sich der „kleine“ Unterschied aus? Wie schwierig ist die Harmonie der zweieiigen Unterschiede in Familie und Erziehung?

Ausgangslage

Für zweieiige Zwillinge besteht sie darin, dass zwar die Anlagen unterschiedlich sind, Umwelt und Erziehung aber gerade diese natürlichen Unterschiede zu einem gnadenlosen Instrument der Bewertung der Persönlichkeiten machen.

Situation

Vom ersten Lebenstag an, von uns registriert seit Beginn des Bewusststein, wurden wir von unserer Umwelt vorrangig nicht als Einzelpersonen betrachtet. Einheitliche Bekleidung war üblich. Allein der hierin fehlende Unterschied suggerierte den Betrachtern (wir wurden stets zusammen betrachtet) dass wir, entgegen der genetischen Vorbestimmung, eine persönliche Einheit darstellen. Das war der Beginn des Dilemmas. Denn es war keineswegs so, dass wir von Natur aus gleich waren. Mein Bruder war stets etwas robuster, ich etwas schwächer, was später durch gezieltes Training ausgeglichen wurde. Da die Größe gleich und das Aussehen anfänglich sehr ähnlich war, war uns stets die u n g e t e i l t e und besondere (gegenüber anderen Gleichaltrigen) Aufmerk­samkeit von Verwandten, Lehrern, Passanten, Freunden und sicher.

Wirkungen

Diese Form der unerbetenen und lästi­gen Aufmerksamkeit führte dazu, dass nahezu alle Betrachter (“ach, sind die süß!”) und selbst die eigene Familie permanent darauf erpicht war, trotz visueller Ähnlichkeit signifikante Unterschiede zwischen uns Beiden festzustellen. Die Litanei der provokanten Fragen begann mit: Wer von euch Beiden ist größer, wer stärker, wer schlauer, sind die Zensuren gleich, warum seid ihr (wenn das denn der Fall war) nicht gleich angezogen, habt ihr die gleichen Freunde? Unendlich die Zahl der Fragen. Stets liefen sie darauf hinaus, Qualitäts- und Leistungsunterschiede zwischen uns festzu­stellen. War das dann tatsächlich einmal nicht der Fall, haben wir es als Betroffene nicht realisie­ren können, weil nicht vergleichende Kommentare und Gesprächsinhalte in unserem Denkschema nicht präsent waren. Wir waren vom ersten Tage unseres Bewusstsein einem uns aufoktroy­ierten gegenseitigen Konkurrenzdenken ausgesetzt. Das führte dazu, dass wir ge­radezu geschult waren, selbst permanent gegeneinander Vergleiche anzustellen, deren Ergeb­nisse zu bewerten und im täglichen Miteinander auszunutzen.

In Kindheit und Jugend war dadurch das Kommunikationsverhalten teilweise negativ geprägt. Die schulischen Leistungen (immer in einer Klasse bis zum Abitur) waren für Eltern und alle anderen Personen der Anlass für Unterschiedsbetrachtungen mit dem Ziel, dem “Schlechteren” einen Ansporn zur Leistungssteige­rung zu vermitteln. Es entstand daraus die permanente Angst, von Anderen in einen “brüderlichen Topf geworfen zu werden” und so als Teilhaber der schlechteren Leistung bzw. des Ansehens des Bruders zu gelten. Diese Situation ist zwar in Familien mit mehreren Kindern und den sich daraus ergebenden natürlichen Unterschieden normal, in einer Zwillings- bzw. Mehrlingssituation ohne die Chance einer erklärenden natürlichen Unterschiedsbetrachtung aber zerstörerisch. Selbst Recht­fertigungen mittels fauler Ausreden, wie sie unter Kindern zur Behauptung gegenüber Eltern und anderen Erwachsenen als Verteidigungsmechanismus gang und gäbe sind und toleriert werden, waren kaum möglich, da der “Zwillings-Konkurrent” als permanenter Gegenteilbe­weis und Kontrollinstanz zur Verfügung stand.

Kein Wunder, dass unter diesen Bedingungen unsere gegenseitigen Beobachtungen und Bewer­tungen stets einen lauernden Charakter hatten und bei kleinsten Anlässen in Handgreiflichkeiten ausarteten. Durch Schule und nachbarschaftliche Spielgefährten waren auch die außerfamiliären Sozialkontakte weitgehend ungeteilt. Dies führte zwangsläufig zu einem permanenten “Anerken­nungswettlauf”, der dann hin und wieder in der für Kinder katastrophalen Feststellung mündete: “Einer allein kann ja gar nicht so dumm (blöd) sein”. Und im gleichen Atemzug wurde gefragt, bist du allein, wo ist dein Bruder, habt ihr Krach, etc.? Nur zu verständlich, dass unter diesen Umständen die frühzeitige Ausbildung einer eigenständigen Persönlichkeit schwierig war. Erst die Trennung durch die Wehrpflicht führte erstmals zu einer Wahrnehmung als Einzelpersonen durch eine nicht vom Zwil­lingsstatus beeinflusste Umwelt. Die jugendlichen Verhaltensmuster wirken aber nach wie vor. Treffen wir uns heute, können die zur Kindzeit erworbenen gegenseitigen Verhaltensweisen nur mühsam unter­drückt werden. Den späteren Lebensweg begleitete die Angewohnheit, stets äußerst kritisch die Aussagen Anderer dahingegen zu beurteilen, ob sie evtl. gegen mich gemeint sein könnten. Miss­trauen blieb die allgegenwärtige Notwehrprophylaxe.

Vorteile?

Andererseits war hiermit aber auch ein anerzogener, für Unterschiede und Hintergründe aufmerksamer Intellekt verbun­den. Da in Kind­heitstagen jede unüberlegte verbale Äußerung sofort zu einer Blöße bzw. zu einem “brüderlichen Angriff” führen konnte, waren wir so schon früh geschult, mündlich und später schriftlich Formulie­rungen zu finden, die möglichst druckreif stets auch den Konjunktiv berücksichtigten. Dies Alles mag äußerst negativ klingen, aber dennoch hatte wir, zumindest bis zur Pubertät, nach außen auch eine starke brüderliche Solidarität. Positiv waren aber eine ganze Reihe von Folgeaspekten, zumal der Lebensoptimismus nicht darunter litt. Auch die bessere Bewertung der schulischen Leistungen meines Bruder hat mir vermutlich sehr geholfen. Es war nach dieser “konkurrierenden Zwil­lings-Schule” im Leben nicht schwer, mittels sezierender Situationsbetrachtung Ursachen und Wirkungen einander zuzuordnen und daraus leichter zutreffende Schlussfolgerungen zu ziehen. Ob die sub­jektiven Beobachtungen und Beurteilungen einer objektiven Bestätigung standhalten, kann ich nicht beurteilen. Noch weniger, ob für andere Familien ähnliche Zusammenhänge gelten. Andererseits kann ich kaum glauben, von einer erlebten Einmaligkeit betroffen zu sein. Zudem waren sich die Erzieher (keine weiteren Geschwister) dieser besonderen erziehungspsychologischen Situation nicht bewusst.

Maßnahmen

Bei nicht gleichgeschlechtlichen Zwillingen tritt vermutlich die Problematik, dank unverkennbarer natürlicher Unterschiede, kaum so exemplarisch auf. Auch Mehrlings-Situationen (mehr als 2 Gleichaltrige) sind sicher anders zu bewerten. Alleine die oben geschilderte unausweichliche und erbarmungslose (für Kinder und Jugendliche) Dual-Situation ist ein Grund dafür, dass die in jeder Erziehung not­wendigen Unterscheidungen kein Instrument der Erziehung und Persönlichkeitsentwicklung bei Zwillingen sein dürfen. Aufgrund meiner Erfahrungen kann ich Zwillings-Eltern empfehlen, in der Erziehung generell mit konkurrierenden bzw. vergleichenden Geschwister-Argumenten sehr vor­sichtig zu sein. Ferner sollte auf Unterschiede der Kleidung, Frisuren, des allgemeinen Äußeren etc. geachtet werden. Wenn möglich ist Gruppen- und Klassen-Trennung in Kindergarten und Schule anzustreben. Unterschiedliche Sportarten in verschiedenen Vereinen sind sehr sinnvoll, da in ihnen erstmals die Persönlichkeitsmerkmale ohne einen familiären Konkurrenzdruck dargestellt werden können. Wenn irgend möglich, sollten von frühester Kindheit an Zwillingen getrennt über einen län­geren Zeitraum (bei Verwandten, Freizeiten, Urlaube, Sprachschulen im Ausland, etc.) die Ent­wicklung eigenständiger Sozialkontakte ermöglicht werden. Auch im häuslichen Tagesablauf und der familiären Aufgabenverteilung sind relativ leicht Unterscheidungskriterien zu erfüllen.

Name des Verfassers ist der Redaktion bekannt

Erstellt am 28. Juni 2002, zuletzt geändert am 5. Juni 2013