Stress auszuhalten können Kinder nur von ihren Eltern lernen!

Dieter Scholz und Martin Bucher

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Nachfolgender Artikel beschäftigt sich mit dem Thema Stress in Familien. Dabei wird der Unterschied von positivem und negativem Stress aufgeführt und das Verhalten von Kindern und Eltern in stressigen Alltagssituationen näher beleuchtet. Wenn es doch einmal stressig wird im Familienalltag, gibt es leicht umsetzbare Impulse und anschauliche Beispiele für einen entspannteren Familienalltag.

Stressige Situationen - die kennt wohl jede Familie. Die Zeit ist knapp, die Eltern werden unruhig und genau dann "funktionieren" die Kinder nicht mehr. Die Eltern erhöhen den Druck und werden lauter, die Kinder bocken, alle sind gereizt. Wer kennt das nicht?

Während Eltern diese Situationen als sehr stressig empfinden übersehen sie oft, dass ihr Kind mindestens genauso vielem Stress ausgesetzt ist.

Dabei sind Konflikte und Überforderung alles andere als angenehm für das Kind. Diese Art von negativem Stress wird Disstress genannt. Im Unterschied zum positiven Stress (Eustress), der das Kind an seinen Aufgaben wachsen lässt, hemmt Disstress über längere Zeit die Entwicklung des kindlichen Gehirns und damit auch die Entwicklung wichtiger geistiger, emotionaler und sozialer Fähigkeiten1,2.

Kinder unter drei Jahren haben noch keine Befähigung zur Selbstberuhigung2. In stressigen Situationen braucht es also schnell die Beruhigung durch seine Bindungsperson, in der Regel durch ein Elternteil. Wie mit Stress umgegangen wird, das können Kinder nur von ihren Eltern lernen.

Wie können Eltern mit Stresssituationen besser umgehen, so dass diese nicht eskalieren?

In stressigen Situationen ist es wichtig, dass Eltern zunächst einmal den Stress des Kindes akzeptieren - also, dass nicht nur die Eltern gerade gestresst sind, sondern auch ihre Kinder jetzt Stress erleben! 

Wenn wir gestresst sind, haben wir alle, aber besonders die Kinder, eine eingeschränkte Wahrnehmungs- und Aufnahmefähigkeit. Da bringt es wenig, dass Eltern auf die Kinder einreden. Es braucht nun Botschaften, welche die Kinder ihre Eltern gut verstehen lassen. Wichtiger als Worte ist die Körpersprache, also welche Haltung habe ich dem Kind gegenüber, wenn mir etwas wichtig ist. Erst danach sollten Worte folgen. Dabei geht es immer um Ich-Botschaften. Kein "Du".

Wieso halten sich manche Kinder die Ohren zu, wenn die Eltern auf sie einreden?

Das ist eine oft unverstandene Gestik, die bei vielen Eltern die Wut hochkochen lässt. Dabei sagen die Kinder im Grunde nur: „Was du sagst, das ist mir zu viel, das macht mir Stress“. Die Kinder halten sich also die Ohren zu, um sich zu schützen. Es ist wichtig, dass Eltern verstehen, dass die Wut nicht gegen sie gerichtet ist. 

In solch einer Situation ist es entscheidend, sich als Eltern zu stoppen und zu versuchen, nicht in die Stressspirale einzusteigen, damit das Kind sich auch beruhigen kann. Denn gestresste Eltern sind für Kinder, wenn sie selbst gestresst sind, nur schwer auszuhalten. Kinder kommen ansonsten nicht aus ihrem eigenen Stress heraus. Sie brauchen ihre Eltern als Co-Regulatoren. Dadurch lernen Kinder über die Eltern ihren eigenen Stress zu regulieren.

Wie genau drücke ich mich im Stress in „Ich-Botschaften“ aus?

Bei Du-Botschaften der Eltern geht es in Stresssituationen meistens darum, was das Kind falsch gemacht hat, es geht um Schuld. In diesem Zusammenhang ist sehr wichtig, dass Eltern verstehen: Das ist nicht Schuld des Kindes, aber auch nicht Schuld der Eltern.

Aber: Eltern haben die Verantwortung für die Situation als Mutter oder Vater, nicht das Kind. Deshalb ist es wichtig, die Schuld nicht beim Kind zu suchen, dass dann die Erfahrung macht, dass es falsch ist, sondern den Blick auf das zu richten, was schwierig ist in der Situation. Fragen wären hier zum Beispiel: Was löst Stress in mir aus? Was löst Stress im Kind aus? Wie gehe ich mit der Stresssituation um? Die Verantwortung sollte nicht auf die Kinder übertragen werden. Als die Eltern selbst kleine Kinder waren haben sie oft genug erlebt, dass sie falsch seien. Also ist die Frage heute: Wie löse ich das? 

„Wenn Eltern den Stress des Kindes nicht aushalten,
dann können die Kinder den Stress auch nicht aushalten"

Dieter Scholz, online-familienberater.de

Wieso fällt es vielen Eltern schwer, mit Stress gut umzugehen?

Viele Eltern haben durch ihre eigene Kindheit keinen guten Umgang mit Stress gelernt. Stresssituationen auszuhalten, das können Kinder nur von Eltern lernen.

Eltern sind Vorbilder. Wenn Eltern den Stress des Kindes nicht aushalten, dann können die Kinder den Stress auch nicht aushalten. Deshalb ist es ja auch so schwierig - die Eltern möchten es anders machen, als in ihrer eigenen Kindheit und müssen sich das nun selbst erarbeiten. Eltern können hier viel voneinander lernen und gleichzeitig auch von und mit den Kindern. 

Eltern sind hier wichtige Vorbilder. Kinder schauen sich von den Eltern den Umgang mit Stresssituationen ab. 

Wieso sind Werte in Stresssituationen wichtig?

Die Werte der Eltern kommen gerade auch in Stresssituationen zum Tragen. Ganz wichtig ist, die Integrität des Kindes zu wahren. Damit ist gemeint, das Kind nicht falsch zu machen bzw. die Schuld nicht beim Kind zu suchen. Die eigenen Bedürfnisse sollten dem Kind als Ich-Botschaft mitgeteilt werden und gleichzeitig sollte man auch auf die Bedürfnisse des Kindes schauen. Es gibt kein falsch oder richtig, alle Bedürfnisse sind in Ordnung und dürfen sein.

Das nannte der bekannte Familientherapeut Jesper Juul „Gleichwürdigkeit“, also dass keiner falsch ist, gerade in einem Konflikt, und jedes Bedürfnis seine Berechtigung hat. Auch, dass die Eltern die Verantwortung für die Situation übernehmen und authentisch sagen, was ihnen persönlich wichtig ist, gehört dazu. Zu klären, welche Erwartungen ich an mich und das Kind habe, kann helfen, den Knoten zu lösen.

Ist das grundsätzlich so, oder wie unterscheidet sich das Verhalten im Stress abhängig vom Kindesalter?

Sobald Kleinkinder ein eigenes Bewusstsein, ein eigenes Ich entwickeln, ca. im Alter von zweieinhalb Jahren, kann es Konflikte geben, dann stoßen die Bedürfnisse und Gefühle der Kinder mit denen der Eltern zusammen.

Ein wichtiges Lernziel ist die Inhibition - also, wie kann ich diesen Impuls kontrollieren, der in mir hochkommt. Kinder unter zweieinhalb Jahren können das noch nicht. Deshalb ist es für Eltern wichtig zu wissen, wo das Kind in seiner Entwicklung steht und was es denn überhaupt kann. 

Wieso das kein Plädoyer für eine stressfreie Familie ist

Die Atmosphäre, dass Papa oder Mama gestresst sind, darf durchaus sein. Das ist in Ordnung. Nur das Kind muss sich nicht schuldig fühlen dafür. Daher ist es besser, authentisch zu sein und sich selbst zu zeigen. Diese Chance wahrzunehmen, das könnte mit Eltern zum Beispiel in einem Elterntraining erarbeitet werden. Da gibt es kein Richtig oder Falsch, sondern es gibt nur ein „Was ist da?“, „Wer bist du?“, „Wer ist mein Kind?“ und ein Verständnis füreinander.

Fazit - Wenn es doch einmal stressig wird

Wenn es doch einmal zu stressigen Situationen mit dem Kind kommt, dann ist es zunächst wichtig, sich als Eltern selbst zu beruhigen. Da können ein paar tiefe Atemzüge Wunder wirken. Wenn es nicht anders geht, können Eltern sich kurz aus der Situation herausziehen, sich selbst beruhigen und dann wieder in Beziehung zum Kind gehen.

Es hilft, den Stress des Kindes zu sehen und zu akzeptieren. Das ändert unsere Haltung und verhindert, dass wir auf das gestresste Kind mit guten Argumenten einreden.

Wichtig ist, dass Eltern die Verantwortung für die Situation voll und ganz übernehmen, anstatt dem eigenen Kind die Schuld für die angespannte Situation zu geben.

Jesper Juul, der dänische Familientherapeut sagte einmal: „Streicht alles, was ihr als eine Last empfindet oder was euch stresst! Denn wenn es euch stresst, dann stresst es auch eure Kinder. Also lasst es sein!“.

Empfohlene Literatur

  • „Liebevoll bleiben bei Stress, Wut und starken Gefühlen“, von Jeannine Mik (mini&me) und Sandra Teml-Jetter, 7. Auflage, Kösel-Verlag 2019
  •  „Leitwölfe sein - über liebevolle Führung in der Familie“, Jesper Juul, 8. Ausgabe, BELTZ Verlag 2016

Autoren

Martin Bucher ist Coach, Trainer für Gewaltfreie Kommunikation, familylab Seminarleiter, Enneagramm-Lehrer, Gründer von https://online-familienberater.de

Dieter Scholz ist familylab-Trainer, zertifizierter Coach, Berater in der Familien-, Paar und Einzelberatung, Pädagoge und langjähriger Elternkursleiter, Referent für Erziehungsfragen und Kommunikation.

Quelle

Dieser Artikel entstand auf Grundlage eines Interviews zwischen den Autoren und wurde in seiner ursprünglichen Form veröffentlicht auf:

https://www.online-familienberater.de/2022/12/20/stress-auszuhalten-können-kinder-nur-von-ihren-eltern-lernen/

Weitere Internet-Quellen, abgerufen am 20.4.2023:

[1] https://www.usz.ch/krankheit/stress/

[2] https://dgkjf.de/wp-content/uploads/Sulz-Vortrag-Kinderkrippe-als-toxischer-Dauerstress.pdf

 

eingestellt am 09.05.2023

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