Sonntag ist der schlimmste Tag
Interview mit der Haushalts- und Familienforscherin Prof. Uta Meier-Gräwe über Auswirkungen von Armut auf das Alltagsleben von Familien
Wenn Mitte des Monats im Schulranzen ein Brief liegt mit der Aufforderung, dem Kind für ein Englisch-Arbeitsheft in Ergänzung zum Schulbuch 7,50 € mitzugeben, was bedeutet das für eine arme Familie?
Uta Meier-Gräwe: Wenn es nur diese 7.50€ wären! Aber wir wissen ja, dass es dabei nicht bleibt. Im gleichen Monat wird vielleicht noch ein Beitrag für ein Geschenk für die Klassenlehrerin eingesammelt oder 2.90€ Fahrgeld für einen Ausflug zum Museum. Nicht zu vergessen Geld für ein Geschenk, wenn die Kinder zu einer Geburtstagsfeier eingeladen werden. Jede zusätzliche Ausgabe führt zu großem Stress. Der bekannte Satz „Am Ende des Geldes ist noch Monat übrig“ beschreibt die Lage armer Familien sehr gut. Und wenn der Geldbeutel leer ist, wird auch nicht mehr gesund gekocht.
Sicher wirkt Kinderarmut in einem reichen Land wie Deutschland weniger spektakulär als in Ländern wie Bangladesch. Worunter leider arme Kinder bei uns?
Uta Meier-Gräwe: Arme Kinder in reichen Industrieländern leiden subtiler. Sie nehmen nicht nur wahr, dass ihre Eltern wenig Geld haben, sondern erleben tagtäglich Mangelsituationen in mehreren Lebensbereichen, erfahren sich als nicht gleichwertig. Ihnen und ihren Eltern macht zu schaffen, dass sie ganz offensichtlich in einem wohlhabenden Land leben und von diesem Wohlergehen ausgeschlossen sind. Deshalb bezeichnen wir diesen Mangel als relative Armut. In Gesellschaften wie unserer hat das gravierende Folgen für Bildung, Gesundheit, Wohnen und soziale Teilhabe. Wir sprechen deshalb auch von der Mehrdimensionalität von Armutslagen. Diese Dimensionen überlagern sich, bedingen sich wechselseitig und machen Armut zu einer komplexen Lebenslage.
Schauen wir uns eine Dimension genauer an. Wer wenig Geld hat, kann sich keine große Wohnung leisten…
Uta Meier-Gräwe: Das ist tatsächlich ein wichtiger Faktor, der allein komplexe Folgen nach sich zieht. Arme Familien, die in Städten leben, wohnen häufig segregiert, also in Wohngegenden, wo viele arme Menschen wohnen, wo es häufig auch nachts lauter ist und das Umfeld wenig anregend. Wir wissen, dass sich beengter Wohnraum in einer schlechten Wohnlage auf Leistungsfähigkeit und Gesundheit der Kinder auswirken. Wenn die Wohnung an einer verkehrsreichen Straße liegt, ein Kind kein eigenes Zimmer oder keinen Rückzugsraum für sich hat, kann zum Beispiel sein Schlaf erheblich beeinträchtigt sein.
Dann wacht es morgens müde auf, …
Uta Meier-Gräwe: … und leidet häufiger unter Kopfschmerzen, ist unkonzentriert in der Schule mit Folgen für seine Leistung im Unterricht. Sinken die Leistungen, geht die Spirale weiter nach unten. Hinzu kommt: Fehlt ein anregendes Wohnumfeld, dann bewegen sich Kinder weniger draußen. Sie sitzen häufiger vor dem Fernseher, essen mehr Fast Food und werden dicker, mit weiteren gravierenden Folgen für das Selbstwertgefühl. In schwierigen sozialen Verhältnissen sind Kinder doppelt bis dreimal so häufig von Übergewicht und Adipositas betroffen.
Wie geht es den Eltern?
Uta Meier-Gräwe: Finanzielle Nöte und räumlich Enge, zumal dann, wenn kein „Ende des Tunnels in Sicht" ist, führen zu chronischem Stress, der eine Hauptursache für zahlreiche Erkrankungen darstellt. Dazu gehören Kopf- und Rückenschmerzen, Schlaflosigkeit, aber auch Herz-Kreislauf-Probleme und psychische Erkrankungen bis hin zu komplexen Erschöpfungszuständen.
Wie wirkt sich dies auf den Alltag mit Kindern aus?
Uta Meier-Gräwe: Ein großes Problem besteht darin, dass Eltern, die unter Mangel und dem damit verbundenen chronischen Stress leiden, häufig den Blick für die Bedürfnisse der Kinder verlieren, deren Wünsche nach Zärtlichkeit, Gesprächen, Spielen, gemeinsamen Unternehmungen. Eltern versuchen sehr lange, Kinder die finanziellen Folgen der Armut nicht spüren zu lassen. Das hat aber auch etwas damit zu tun, das Menschen in Armut Selbstzweifel entwickeln und häufig Scham empfinden. Ihr Selbstwertgefühl ist jedenfalls in aller Regel nicht sehr ausgeprägt. Deshalb pflegen sie weniger Freundschaften, scheuen häufig auch den Kontakt zur Schule, gehen mit den Kindern wenig spazieren, in die Bücherei oder ins Schwimmbad. Ich erinnere mich an den Satz eines Mädchens: Sonntag ist der schlimmste Tag.
… Und am Montag in der Schule wird gefragt: „Was hast du am Wochenende erlebt?“…
Uta Meier-Gräwe: Ja. Dabei muss man sich klar machen, dass Eltern sich nicht absichtlich so verhalten. Menschen, denen es nicht gut geht, die abgehängt und von der Teilhabe am durchschnittlichen Lebensstandard ausgeschlossen sind, neigen aus Selbstschutz dazu, sich einzuigeln und Probleme, zum Beispiel mit den Kindern oder die Höhe der Schulden, zu verdrängen. Eltern fehlt dann einfach die Kraft, sensibel auf die Bedürfnisse ihrer Kinder einzugehen, sich Hilfe und Beratung zu holen, um einen Ausweg zu finden. Oder sie sehen in der Anstrengung keinen Sinn mehr. Wenn sich Frust und Perspektivlosigkeit in einer Familie breit gemacht haben, dann besteht immer die Gefahr, dass die Einstellung um sich greift: „Es lohnt sich nicht“.
Wie erleben Sie selbst die Familien, die Sie im Rahmen Ihrer wissenschaftlichen Arbeit besuchen?
Uta Meier-Gräwe: Wenn wir Interviews mit armutsbetroffenen oder –gefährdeten Familien durchführen, dann erleben meine Studentinnen fast immer, wie froh die Menschen sind, dass man sich für sie interessiert. Ich erinnere mich, dass wir einmal für eine Befragung 45 bis 60 Minuten pro Familienhaushalt veranschlagt hatten. Damit kamen wir nie aus. Manchmal verabschiedeten wir uns erst nach vier Stunden. Man glaubt gar nicht, wie offen die Familien ihre Lebensumstände ausbreiten und wie realistisch sie ihre Chancen einschätzen. Es bedrückt aber auch zu sehen, dass die Ämter es diesen Familien oftmals schwer machen, ihre Würde zu bewahren.
Sehen Sie Chancen, diesen Kreislauf aus Armut und Perspektivlosigkeit zu durchbrechen?
Uta Meier-Gräwe: Interesse an und Ermutigung der Eltern von Geburt des ersten Kindes an ist wichtig, zum Beispiel durch eine empathische und wertschätzende Willkommens- und Unterstützungskultur. Wir wissen aus der AWO/ISS-Längsschnittstudie, dass die Chancen von Kindern derzeit im Grunde bereits mit sechs Jahren vergeben sind. Der repräsentative Survey „Aufwachsen in Deutschland: Alltagswelten" (AID:A), durchgeführt vom Deutschen Jugendinstitut e. V. in München, kommt zu dem Ergebnis, dass es schon bei sehr kleinen Kindern einen signifikanten Zusammenhang zwischen den Haushaltsnettoeinkommen der Herkunftsfamilie und ihrem Zugang zu Angeboten wie Babyschwimmen und Krabbelgruppe gibt. Im weiteren Lebensverlauf setzt sich diese Tendenz fort: Es sind Jungen und Mädchen aus armen und armutsgefährdeten Familien, die deutlich seltener als ihre Altersgefährten Sport treiben oder ein Musikinstrument spielen. Erschreckende Befunde, meine ich.
Können Schulen arme Kinder stabilisieren?
Uta Meier-Gräwe: Ja, das könn(t)en sie. Es wird immer deutlicher, dass Schulen gerade für arme Kinder nicht nur ein Lernort sein dürfen. Kitas und Schulen in prekären Wohngegenden brauchen die besten Pädagogen, die beste Ausstattung und natürlich die beste Erzieher/Lehrer-Kind-Relation. Leider ist das in Deutschland nicht so. Eher ist das Gegenteil der Fall. Dr. Andrea Lanfranchi von der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik Zürich hat sehr überzeugend herausgearbeitet, welche Kriterien erfüllt sein müssen, damit Sozialräume, also auch Schulen, die sich im Wohnumfeld von erschöpften Familien befinden, so etwas wie eine „strukturell zweite Heimat" und damit ein Schutzfaktor zur Bewältigung von Armutslagen werden können. Hier geht es immer auch um die Haltung des Lehrpersonals, etwa der konstruktiv-professionellen Überwindung der Auffassung, dass die Schule nicht der Reparaturbetrieb von andernorts erzeugten Problemen sein könne.
Das Gespräch führte Inge Michels.
Weitere Beiträge von Prof. Uta Meier-Gräwe in unserem Familienhandbuch
Quelle
Erstveröffentlichung:
Zeitschrift „Schüler. Wissen für Lehrer“ ; Themenheft „FamilienLeben“; Friedrich Verlag, 2015
Das Interview wird hier mit freundlicher Genehmigung des Friedrich Verlags übernommen.
eingestellt am 16.11.2015