Wenn Kinder ihre Eltern schlagen

Thomas Detzel

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Gewalt in Familien stellt meist ein großes Tabuthema dar, weil es Betroffenen unangenehm ist, darüber zu sprechen oder Hilfe zu holen. Noch schambesetzter erscheint es, wenn die eigenen Kinder gewalttätig gegenüber ihren Eltern werden. Wichtiger als Ursachenforschung sind die sofortige Beendigung der Gewalt und ein schneller Ausweg aus der Hilflosigkeit. Dieser Artikel soll Eltern eine erste Hilfestellung anbieten, wie sie sich und ihre Kinder besser schützen und Ohnmacht überwinden können. Darüber hinaus soll er Eltern ermutigen, aktiv Hilfe zu suchen!

Zu Beginn erstmal etwas Grundsätzliches: Kinder sind nicht (nur) süß und Familie ist nicht der Ort ständiger Glückseligkeit! Wir erleben Kinder in unserer Wahrnehmung zwar oft als süß und das Zusammenleben mit ihnen ist verbunden mit Vorstellungen von Idylle, Geborgenheit und Warmherzigkeit. Aber grundsätzlich haben Kinder die gleichen menschlichen Gefühle wie Erwachsene. Also nicht nur Liebe, Freude oder Trauer, sondern auch Ärger, Wut und Aggression. Der Unterschied zu Erwachsenen aber ist: Wenn man bei Erwachsenen davon spricht, im Affekt gehandelt zu haben, dann meint man einen Ausnahmezustand. Kinder (vor allem jüngere) sind jedoch noch sehr emotionsgesteuert, demnach ist ihr Agieren im Affekt eher der „Normalzustand“. Das kennt jeder, der einem Kind schon mal die Schokolade im Supermarkt oder die weitere Viertelstunde Fernsehen untersagt hat. Dieser emotionale Verarbeitungsunterschied reicht aber aus meiner Sicht als Erklärungsansatz, weshalb Kinder ihre Eltern schlagen, nicht aus.

Alles eine Frage der Beziehung?

Smalltalk zu Beginn einer Hochzeitsfeier. Eine Frau unterhält sich mit einem anderen Gast und hat dabei ihre 2jährige Tochter auf dem Arm. Die Tochter wirkt etwas gelangweilt und spielt mit der Brille ihrer Mutter. „Du sollst doch nicht mit meiner Brille spielen! Wie oft muss ich das noch sagen?“. Die Tochter reißt ihr die Brille vom Kopf und wirft sie auf den Boden. Ihre Mutter schüttelt nur den Kopf, hebt die Brille wieder auf und führt das Gespräch fort. Das Kind schlägt ihr leicht ins Gesicht. Mutter: „Wir hauen nicht!“. Das Kind holt aus und schlägt ihr mit voller Wucht ins Gesicht. Die Frau steht sprach- und hilflos da, wirkt regelrecht erstarrt.

Ein Vater stört sich daran, dass sein 15jähriger Sohn seit Tagen nur am PC sitzt und online Rollenspiele spielt. Er macht keine Hausaufgaben und beteiligt sich nicht am Familienleben. Lange hat der Vater geschwiegen, um keinen Streit zu provozieren. Jetzt spielt der Sohn aber immer weiter und auch Ermahnungen und Drohungen erzeugen keine Wirkung. Der Vater beschließt, den WLAN-Stecker zu ziehen. Wutentbrannt stürmt der Sohn auf seinen Vater zu und schlägt unmittelbar auf ihn ein.

Obwohl sich die beiden Fallbeispiele insbesondere aufgrund des Alters der Kinder unterscheiden, gibt es eine Gemeinsamkeit: Kinder sind in erster Linie Lernende in der Beziehung zu ihren Eltern. Sie lernen von ihren Eltern, wie sie mit Gefühlen umgehen können, wo die Grenzen im Ausagieren dieser Gefühle liegen und wie Zusammenleben gut gelingen kann, obwohl jeder ganz unterschiedliche Bedürfnisse hat. Daher ist gewalttätiges Verhalten von Kindern in erster Linie immer auch ein Beziehungsthema. Kindliche Gewalt findet sich häufiger in Familien,

  • in denen die Eltern (verbale wie physische) Gewalt als Mittel der Erziehung anwenden und damit eine Spirale in Gang gebracht haben, die zu einer grundsätzlichen Legitimation von Gewalt auch auf Seiten der Kinder führen kann. Wobei Kinder dann häufig zunächst unter Gleichaltrigen oder Geschwistern aggressiv auffallen, bevor sich die Gewalt schließlich auch gegen Eltern richtet.
  • in Familien, in denen Eltern die besten Freunde ihrer Kinder sein wollen. Oft einhergehend mit einer großen Erziehungsunsicherheit, weil die Kinder das „Freundsein“ scheinbar gar nicht zu schätzen wissen, sich aus Sicht der Eltern undankbar und frech verhalten und es den Eltern gleichzeitig schwerfällt, ein Konzept von (positiver) Autorität zu entwickeln.

Gewalt gegen Eltern steht also häufig im Zusammenhang damit, dass ein Kind ein Elternteil entweder als besonders schwach, unsicher und grenzenlos oder als übermächtig, drohend und vielleicht sogar selbst Gewalt anwendend erlebt. Natürlich kann auch eine Loyalität zum anderen Elternteil (z.B. bei getrennt lebenden Eltern) dahinterstecken. Insbesondere dann, wenn es auf Elternebene massive Konflikte gibt und ein Kind Schuldvorwürfe eines Elternteils übernimmt (bspw. „meine Mama ist schuld daran, dass sich meine Eltern getrennt haben“).

Wechselseitige Gewalt in Familien

Wechselseitige Gewalt in Familien bedeutet, dass sowohl Eltern als auch deren Kinder Gewalt als Mittel zur Durchsetzung ihrer Ziele einsetzen.  Dies ist häufig ein schleichender Prozess, der sich in der Regel aus heftigen Konflikten heraus entwickelt, in denen der Umgangston mit der Zeit immer rauer und lauter wird. Eltern, die das Gefühl haben, sich nur noch mittels zunehmender Lautstärke Gehör verschaffen zu können, erziehen durch ihr schlechtes Vorbild die Kinder zum Schreien und Brüllen. Es entsteht somit eine wechselseitige „Brüllspirale“, die den Weg zur tatsächlichen Gewalt immer kürzer werden lässt. Fast alle Eltern wollen eigentlich gute und liebevolle Eltern sein. Wenn es zu Gewalt kommt, dann in der Regel aus einem Gefühl von absoluter Ohnmacht und Hilflosigkeit, da die bisherigen Erziehungs- und Lösungsversuche als gescheitert empfunden werden.

Was kann man tun?

Im Falle beidseitiger Gewalt gilt eindeutig: Sofort mit der eigenen Gewaltanwendung aufhören. Kinder haben ein unveräußerliches Recht auf eine gewaltfreie Erziehung. Außerdem kann ich Gewalt gar nicht stoppen, wenn ich sie für mich selbst legitimiere. Wenn Kinder von ihren Eltern lernen, dass Schlagen ein legitimes Mittel zur Durchsetzung von Interessen ist, dann ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass die Kinder irgendwann selbst gewalttätig werden. Und selbst wenn es mir mittels Gewalt gelänge, das Schlagen meines Kindes zu unterbinden, kann ich damit nicht die Gewaltfantasien und die Wut meines Kindes stoppen, sondern allenfalls unterdrücken. 

Einseitige Gewalt von Kindern gegenüber ihren Eltern

Besonders tragisch ist, wenn es zu einseitiger Gewalt von Kindern gegenüber einem Elternteil kommt, und ein Vater oder eine Mutter es eigentlich besonders gut und liebevoll meint. Manchmal auch verbunden mit eigener leidvoller Erfahrung von Gewalt oder Angst in der Beziehung zu den eigenen Eltern. So wie man selbst erzogen wurde, will man es auf keinen Fall wiederholen. Aber so, wie man es sich vorgestellt hat, funktioniert es dann oftmals doch nicht. Dass ein Kind seine Mutter oder seinen Vater schlägt, steht häufig am Ende einer langen Reihe von Erziehungsunsicherheiten und Auseinandersetzungen mit dem Kind. Die Idee „wenn ich immer nur lieb und nett zu meinem Kind bin, quasi sein bester Freund oder seine beste Freundin, dann wird mein Kind auch immer lieb und nett zu mir sein“ geht leider nicht auf.

Was kann man tun?

Unabhängig vom Alter der Kinder gilt:

Das Schlagen sofort und möglichst schon im Ansatz unterbinden!

Dafür braucht es wenig bis gar keiner Worte, aber Entschlossenheit im Handeln und klares Auftreten. Bei kleineren Kindern hilft es, dem Kind möglichst ruhig und vorsichtig die Hände festzuhalten. Dabei aber dem Kind nicht weh tun! Das Kind muss an meiner gesamten Reaktion merken, dass es so nicht geht und dass das Schlagen eine Grenzüberschreitung darstellt, die ich niemals bereit bin zu tolerieren. Hierfür reichen oft ein entschlossener, strenger Blick (Augenkontakt herstellen!) und ein deutliches „Nein“. Gerade kleinere Kinder können (wie oben beschrieben) ihr emotionales Verhalten noch nicht gut steuern und reagieren sehr impulsiv. Es ist daher hilfreich, dem Kind seine Gefühle zu spiegeln (bspw. „du bist echt sauer, oder?“) und ihm zeitgleich Alternativen anzubieten, damit es seinen Frust abbauen kann (bspw. mit einem Kissen aufs Bett hauen). Bei älteren und körperlich stärkeren Kindern ist es hingegen wichtig, die Situation sofort aufzulösen. Entweder kann man das Kind aus dem Raum schicken oder zur Not selbst die Situation verlassen. Im Zustand höchster Emotionalität ist eine Klärung der Situation sowieso nicht möglich, das kann auch auf einen späteren Zeitpunkt verschoben werden.

Sich selbst schützen!

Bei massiver Bedrohung, wenn ein Kind sich bspw. überhaupt nicht beruhigt und andere oder sich selbst gefährdet, kann es sein, dass ein Elternteil es allein nicht schafft. Dann müssen Eltern Hilfe holen, um die Situation zu klären. Das kann familiäre Hilfe sein (z.B. der Partner/die Partnerin) bis hin zur Notwendigkeit, die Polizei zu verständigen, wenn es zu einer schwerwiegenden und gefährlichen Eskalation kommt – zum Schutz für alle Beteiligten!

Scham und Schweigen überwinden!

Kindliche Gewalt offenbart Hilflosigkeit und Erziehungsunsicherheit. Viele Eltern trauen sich nicht, mit anderen darüber zu reden oder sich Hilfe zu suchen. Das verstärkt jedoch einen Teufelskreis aus wachsender Unsicherheit, Ohnmacht und zumeist inkonsequentem Verhalten (bspw. zu Vermeidung weiterer unangenehmer Situationen). Viele Eltern leiden still unter der Situation oder bauen massive Schuldgefühle auf. So nachvollziehbar dies auch ist, so wenig hilft die Schuldfrage den Eltern am Ende. Die Not wird nicht kleiner, wenn man sich damit beschäftigt, was man vermeintlich falsch gemacht hat. Wichtiger ist es, als Eltern die Verantwortung für eine positive Veränderung zu übernehmen!

Damit ist nicht gemeint, zu einem veralteten Verständnis von Autorität (in Form von Einschüchterung und Machtmissbrauch) zurückzukehren, sondern sich seiner eigenen Grenzen bewusst zu werden und diese ebenso zu wahren, wie ich auch die Grenzen meines Kindes wahren muss. Kinder kommen nicht mit einem perfekt abgestimmten Verständnis für die Grenzen anderer auf die Welt. Dies ist eine beständige Lernaufgabe auf dem Weg zum Erwachsenwerden. Und die wichtigsten Lehrer dabei sind die Eltern. Für eine gute Eltern-Kind-Beziehung ist es sehr wichtig, dass die Eltern sich selbst und ihre Grenzen gut kennen, dass sie einerseits gut für sich sorgen und andererseits die Beziehung zu ihrem Kind reflektieren. Das bedeutet aber auch, Entscheidungen zu treffen und Verantwortung zu übernehmen, z.B. im Sinne von „Ich bin Deine Mutter/Dein Vater und Du kannst mir vertrauen!“. Ich erlebe häufig, dass Eltern vor allem kleinen Kindern viel zu viel erklären oder mit ihnen Dinge diskutieren, die letztlich die Kinder überfordern und ihnen das Gefühl vermitteln, dass die Eltern selbst zu schwach zum Entscheiden sind.

Erziehungsberatung hilft

Leider läuft Erziehung nicht immer idealtypisch ab. Elternsein geht einher mit großen Herausforderungen. Jede Mutter und jeder Vater wird von Situationen berichten können, in denen sie oder er an seine Grenzen gelangt ist und nicht mehr weiter wusste. Wir empfehlen, sich in solchen Situationen Hilfe zu suchen. Erziehungsberatungsstellen arbeiten unter Schweigepflicht und werden gemeinsam mit Eltern und Kindern versuchen, eine Lösung zu finden. Es ist keine Schande, sich Unterstützung zu holen. Im Gegenteil: Es erfordert viel Mut, sich einzugestehen, dass man es allein nicht schafft, es erfordert viel Verantwortung, weil man sich dem Wohl der Familie verpflichtet sieht und viel Liebe, weil es eine große Investition in die Zukunftsbeziehung zum eigenen Kind beinhaltet.

Die Adresse Ihrer Erziehungsberatungsstelle sowie ein Online-Beratungsangebot finden Sie hier.

Literatur

Brüning, Wilfried: "Wege aus der Brüllfalle - Wenn Eltern sich durchsetzen müssen"  (Film)

Autor

Thomas Detzel, Dipl. Sozialarbeiter (FH), Systemischer Familientherapeut

Caritas Beratungs- und Jugendhilfezentrum St. Nikolaus Mainz

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eingestellt am 26. September 2018