Wenn Kinder und Jugendliche ihre Eltern schlagen
Gertrud Ennulat
Es ist ein leidvolles Kapitel, das ich mit diesem Beitrag aufschlage. Leichter wäre es über Eltern zu schreiben, die von Zeit zu Zeit ihre Kinder verhauen. Das passt gerade noch in den Rahmen des üblichen Familienalltags hinein. Aber in meinem Beitrag geht es um Kinder und Jugendliche, die ihre Eltern schlagen, sie körperlich verletzen und demütigen. Schon die Vorstellung dieser Sachverhalte ist eine Zumutung. Es tut einfach weh!
Das sog. Parent battering ist hinter einer undurchdringlich scheinenden Mauer des Schweigens verborgen. Für ein solches Geschehen Worte zu finden ist sehr schwer. Gleichzeitig weisen Betroffene darauf hin, wie befreiend es ist, endlich aus dem Versteck heraus zu kommen.
In meinen Ausführungen schlagen sich die leidvollen Erfahrungen von Eltern nieder, die mit dieser Form familiärer Aggression konfrontiert waren. Da in den geschlagenen Familien alle leiden, geht es auch um die Not der heranwachsenden Kinder, die sich ihren Eltern gegenüber nur noch schlagend äußern können. Vielleicht verringert sich für Betroffene, welche diesen Beitrag lesen, der Druck des Schweigen-Müssens und der Scham. Wer vom eigenen Kind körperlich verletzt und gedemütigt wird, denkt ja, dies geschehe nur in seiner Familie. Aber das stimmt nicht.
Das darf es in unserer Familie doch nicht geben!
Im Nachhinein erscheint den Betroffenen seltsam unwirklich, was sich soeben in ihrer Wohnung ereignet hat. Da will sich eine gut situierte Familie an den Tisch zum Essen setzen. Doch der 13jährige Sohn ist mal wieder nicht bereit, sich an die Regeln des Zusammenlebens zu halten. Eine lautstarke verbale Auseinandersetzung zwischen Vater und Sohn beginnt. Als der Befehlston des Vaters keine Wirkung zeigt, steht er vom Tisch auf und richtet sich drohend vor seinem etwas kleineren Sohn auf. Der schlägt ihn mit beiden Fäusten kräftig in den Magen. Als der Vater sich vor Schmerzen auf dem Boden liegend krümmt, tritt der Junge ihn mit Füßen und beschimpft ihn mit üblen Worten.
Zum ersten Mal ist in dieser Familie etwas geschehen, das allen die Sprache verschlägt. Wie gelähmt sitzt die Mutter am Tisch. Später sagt sie: “Als unser Sohn zum ersten Mal meinen Mann niedergeschlagen hat, war ich geschockt und ich konnte es nicht glauben. Da ist etwas geschehen, was es eigentlich nicht geben darf. Ich hatte noch nie davon gehört. Das war alles so furchtbar. Die Nachbarn haben vielleicht alles mitgekriegt und denken sich ihren Teil. Was sind wir doch für eine kaputte Familie! Eine Zeit lang hatte ich Angst, dass wir jetzt alle in die Psychiatrie kommen. Wir ticken ja nicht mehr richtig!” Aber am nächsten Tag sind alle Familienmitglieder zur Tagesordnung übergegangen und haben gehofft, einmal ist keinmal.
Doch die Auseinandersetzungen wiederholen sich. Immer richtet sich die Aggression des Jungen gegen den Vater, der in seinen Augen ein schwammiges “Weichei” ist. Er provoziert mit verletzenden Worten, spuckt dem Vater ins Gesicht und schlägt zu. Der Satz einmal ist keinmal hat keine beruhigende Wirkung mehr. Die Angst vor der nächsten gewalttätigen Szene macht sich breit. Trotzdem dauert es seine Zeit, bis den betroffenen Eltern bewusst wird, was sich da zwanghaft wiederholt. Vor allem lernen sie unangenehme Schamgefühle kennen und isolieren sich von Freunden und Bekannten. Niemand soll erfahren, was bei uns zuhause läuft!
Die furchtbare Scham
Wie geht es einem Vater, einer Mutter, die von ihrem größer werdenden Kind geschlagen werden? Sie schämen sich, und diese Scham ist abgrundtief. Vermischt mit Schuldgefühlen zieht sie den Boden unter den Füßen weg. Das schlagende Kind macht die Eltern schutzlos und klein. Der Übergriff eines Kindes auf einen Elternteil verursacht große Schuld- und Insuffizienzgefühle. “Die Welt steht auf dem Kopf in unserer Familie, und ich habe es nicht verhindern können.” Der Vater nimmt sich vor, den Raum zu verlassen, sobald die Streitereien wieder anfangen,. Doch das gelingt ihm nicht. Die Woge der Destruktivität reißt alle mit.
Scham gehört zu den natürlichen menschlichen Emotionen, die im Zusammenleben einer Gemeinschaft eine große Rolle spielen. Ihre körperlichen Niederschläge werden als unangenehm und bedrängend erlebt. Das Herz klopft verstärkt, der Puls beschleunigt sich, die Haut rötet sich. Wer sich schämt, traut sich nicht, dem anderen ins Gesicht zu schauen. Über diesen unangenehmen Befindlichkeiten wird schnell vergessen, dass Scham eine schützende Funktion hat. Sie zwingt mich, auf mich zu schauen und zieht mich dadurch aus der beschämenden Situation heraus.
Geschlagene Eltern werden mit ihrer Scham konfrontiert, weil sie ihrem bisherigen Selbstbild als gute Eltern nicht mehr entsprechen. Das sind schwer zu verdauende Brocken! Jetzt wird auch verständlich, warum diese Familien die Schotten dicht machen. Eine Schande ist das! Wer zum Opfer aggressiver Übergriffe von Sohn oder Tochter wird, ist froh, wenn er ungefragt und ungesehen von der Öffentlichkeit in die Wohnung kommt. Aber auch die hat sich verändert. Sie ist nicht länger ein Ort des Schutzes und der Behaglichkeit. Wer traut sich da noch, Nachbarn einzuladen? Sie könnten ja etwas mitbekommen von den Grenzüberschreitungen.
Zum Glück geht der Krug so lange zum Brunnen, bis er bricht. Hoffentlich ist das recht bald. Was aber führt die Wende herbei? In nicht wenigen Fällen wird ein Telefonanruf bei der Polizei zum Wendepunkt. Die Mauer des Schweigens zerbricht mit Hilfe der Ordnungsmacht des Staates. Ihre Präsenz in der Wohnung wirkt als positive Gegenkraft, die das familiäre Chaos zu ordnen versucht. Nur auf diese Weise kann die Familie aus dem Gefängnis ihrer gegenseitigen Verstrickungen wieder herausfinden. Allein schafft das niemand. Da das Polizeiauto auf der Strasse allen Nachbarn zeigt, was Sache ist, kann keiner mehr die Augen verschließen. Was unterm Teppich war, kommt endlich ans Licht.
Der Blick von außen enthüllt die Schwachstellen
Ein Polizeibeamter, der mit seinem Kollegen in die geschlagene Familie gerufen wurde, berichtet: “Diese Eltern sind unfähig, Grenzen zu setzen. Der Junge ist total verwöhnt und weiß, er kann sich alles erlauben. Von Zeit zu Zeit versucht der Vater den starken Mann zu spielen und will rigoros Grenzen setzen, ist aber unfähig, sich entsprechend zu verhalten. In den Augen des Sohnes bleibt er ein Schwächling, und die Mutter betreibt Augenwischerei. Sie ist abhängig vom Wohlwollen ihres Sohnes, sie verzeiht ihm alles, und das nützt dieser voll aus. In dieser Wohnung kann man die Entfremdung und Beziehungslosigkeit geradezu riechen. Was jahrelang unter den Teppich gekehrt wurde, stinkt. Jetzt hat der Vater Anzeige wegen Körperverletzung gegen seinen Sohn erstellt. Auf diese Weise kommt der Stein ins Rollen.”
Der Hilflosigkeit der Eltern steht die Macht der Polizei gegenüber. Die Grenzenlosigkeit, unter der alle leiden, wird in eine erste Schranke gewiesen. Endlich wird das Verhalten des Sohnes und der Eltern an allgemein gültigen Werten und Normen gemessen. Die helfende Instanz des Staates greift in ein krankes familiäres Gefüge ein und setzt dadurch im günstigen Fall einen Wachstumsimpuls. Dem Jungen gibt ein Aufenthalt in der Jugendpsychiatrie die Möglichkeit, sich unter positiven Bedingungen weiter zu entwickeln. Nach der Klinik beginnt er ein neues Leben in einer Pflegefamilie. Die Kontakte zu seinen Eltern, deren Ehe in der Zwischenzeit geschieden wurde, sind sehr lose.
Kontaktstörungen
Alle Formen eines Übergriffs lassen sich auf Störungen im Bereich der Beziehungen zurückführen. Die betroffenen Kinder und Jugendlichen erleben ihre Eltern nicht als schützende und Halt gebende Personen, sondern als sehr schwach. Dadurch vermindert sich ihre eigene Stabilität und hindert sie daran, sich gut, sicher und o.k. zu fühlen. Jeden Tag verbrauchen sie viel seelische Energie, die Diskrepanz zwischen dem berechtigten Wunsch nach Sicherheit und der erfahrenen Realität auszugleichen. Irgendwann ist der Punkt erreicht, wo sie die beidseitige Hilflosigkeit nicht mehr ertragen können. Da hilft nur noch Draufschlagen!
Häufig geschieht dies in Familien mit einer allein erziehenden Mutter, bei sozial schwachen Eltern, aber auch in Familien mit einem alkoholkranken Elternteil. Da den schlagenden Kindern und Jugendlichen meist ein gesunder alltäglicher Austausch mit Gleichaltrigen fehlt, sind ihre sozialen Ressourcen blockiert. Wer keine stabilisierenden Freundschaften erlebt, soziale Anerkennung und Wertschätzung nicht kennt, kann der häuslichen Atmosphäre der Hilflosigkeit wenig entgegensetzen. Misstrauen und Angst bestimmen den Blick in die Welt.
Manche Jugendliche stärken ihr schwaches Selbstwertgefühl durch Drogen und Alkohol, was zu einem Anstieg der verbalen und körperlichen Gewalt führt und zusätzliche Probleme hervorruft. Die Eltern versuchen durch Einschränkungen oder Gängelung Einfluss zu nehmen. Da sie aber unfähig sind, geduldig und konsequent am Problem zu arbeiten, bleibt der Erfolg aus. Jede Begegnung in der Wohnung wird von einer unerträglichen Spannung begleitet. Schreien und lautes Schimpfen sind an der Tagesordnung. Irgendwann wird es unerträglich, der Sohn oder die Tochter geht der Mutter an den Kragen, würgt sie oder wirft sie gegen die Wand. Die gegenseitige Verstrickung scheint ausweglos.
Im Hinblick auf das Verhältnis der Geschlechter werden Jungen häufiger Täter als Mädchen, und allein erziehende Mütter häufiger Opfer als Väter. Wie ist es aber in Familien mit mehreren Kindern?
Die Geschwister suchen Auswege
Ein 12jähriges Mädchen leidet unter den aggressiven Bedrohungen durch ihren 16jährigen Bruder. Sobald er zuviel getrunken oder Drogen genommen hat, schreit er in der Wohnung herum, er würde sie alle noch umbringen, sie würden ja dann schon sehen, was er kann. Die Mutter hat große Angst vor ihrem Sohn. Verschiedene Male hat er sie bereits geschlagen. Da er wesentlich stärker und größer ist als die schmächtige Frau, fühlt sie sich ihm ausgeliefert. Ihre Tochter ist nicht mehr bereit, die Aggression des großen Bruders als gegeben hinzunehmen und wagt den mutigen Schritt nach außen.
Da fasst sich ein Geschwister ein Herz und nimmt Verantwortung wahr für sich und die anderen in der Familie. Nach einem ersten Gespräch mit dem Vertrauenslehrer ihrer Schule wendet sie sich ans Jugendamt. Sie geht diesen eigenständigen Schritt ohne das Einverständnis ihrer Mutter. Durch den Rückhalt, den ihr informierte Außenstehende geben, verfügt sie über das nötige Stehvermögen gegenüber dem geschlagenen Elternteil. Die Angst um die eigene Sicherheit und das Mitleiden mit der hilflosen Mutter machen ihr Beine. Dabei ignoriert sie die oft gehörten Sätze: “Wehe, du erzählst irgendjemandem, was bei uns los ist!” oder “Wenn das rauskommt, dann landen wir alle in der Klapsmühle!” oder “Wenn das rauskommt, dann hänge ich mich auf!”
Der Schritt des Mädchens geht nach vorne. Aber das heißt noch nicht, dass die Verstrickung von Mutter und Bruder auch gelöst wird. Es ist durchaus möglich, dass das Mädchen am Ende einer Reihe beratender Gespräche beschließt, dem Frieden zuhause nicht zu trauen und lieber in eine Pflegefamilie oder in ein Internat zu gehen. Diese Tochter hat einen Ausweg für sich gefunden. Darum geht es letztendlich in Familien mit schlagenden Kindern: Jeder muss lernen, was er braucht. Jeder muss seinen ganz eigenen Weg gehen. Besserung bringt nur der radikale Bruch mit dem bisherigen destruktiven Beziehungsmuster.
Auswege
So paradox es beim ersten Hören auch klingt, eine Anzeige bei der Polizei kann von hilfreicher Wirkung sein. Die Mutter oder der Vater, die ihr schlagendes Kind bei der Polizei anzeigen, ermöglichen eine erste innere und äußere Distanzierung voneinander. Vielen schlagenden Jugendlichen fallen jetzt erst die Schuppen von den Augen. Langsam wird ihnen bewusst, dass die Eltern es ernst meinen.
Das hätten diese Kinder eigentlich von klein auf erfahren sollen. Sobald ein Kind Eltern gegenüber aggressiv wird, müssen diese zu ihrer Empfindung das ist nicht in Ordnung stehen. Humorvolles Überspielen ist gut gemeint, aber kontraproduktiv, weil es beim Kind als verwirrende Botschaft ankommt. “Ich hab der Mama in den Arm gebissen; sie sagt, das tut weh und ich darf das nicht mehr tun, aber sie lacht trotzdem!” Im Umgang mit kleineren Kindern passiert das schnell. Die Erwachsenen wollen keine Spielverderber sein, und doch sind die Kinder darauf angewiesen, die Grenze zwischen Spiel und Verletzung kennen zu lernen. Im Umgang mit körperlicher Aggression brauchen sie den authentischen Spiegel des Erwachsenen. Schließlich ist die körperliche Unverletzlichkeit ein schützenswertes Gut.
Wenn Eltern die Mauer des Schweigens durchbrochen haben, zur Beratungsstelle gegangen sind, kommen sie nicht darum herum, den Sohn oder die Tochter davon zu unterrichten. Das fällt schwer. Aber nur so kann der bisher zwanghaft ablaufende Teufelskreis durchbrochen werden. Es bringt einer Mutter oder einem Vater nichts, wenn sie ihr schlagendes Kind entlasten wollen und alle Schuld auf sich nehmen. Eines ist sicher, die Eltern brauchen eine gute Begleitung, einen langen Atem und die Bereitschaft, ihr Leben grundlegend zu verändern. Es ist schwer, aber es lohnt sich.
In manchen Fällen reißen die Kontakte der aus der Therapie entlassenen Jugendlichen zu ihrer Ursprungsfamilie zeitweilig oder für lange Zeit ab. Auf den ersten Blick scheint das hart und unmenschlich. Doch die Erfahrung zeigt, dass im unveränderten Familiengefüge die Gefahr sehr groß ist, dass die alten Zwangs- und Gewaltmechanismen wieder einrasten. Manche Wiederannäherungen werden zum gefährlichen Gang über ein Minenfeld und scheitern. Dann lieber eine radikale Lösung. Viel ist erreicht, wenn jeder aus der Familie sichere und verlässliche Lebensbedingungen findet.
Der Traum von der heilen Welt der Familie ist ausgeträumt. Aber jeder Scherbenhaufen kann zum Neuanfang werden
Literatur
Reinmar du Bois: Jugendkrisen. Erkennen -verstehen -helfen, Verlag C.H. Beck
Weitere Beiträge der Autorin hier in unserem Familienhandbuch
- Gewalt unter Geschwistern im Alltag der Familie
- Wenn ein Suizid in der Familie geschieht
- Trauerkultur in der Familie
- Ich hau Dir in die Fresse - verbale Gewalt bei Kindern
- Auf einmal bin ich Großmutter
Autorin
Gertrud Ennulat, Pädagogin, freie Autorin (verstorben 2008)
Erstellt am 13. Juli 2004, zuletzt geändert am 5. August 2010