Untergewicht bei Kindern – ein unterschätztes Risiko

Stiftung Kindergesundheit

Die „Generation Pommes" beschäftigt seit Jahren Ärzte und Öffentlichkeit. Aus gutem Grund: Die alarmierende Zunahme von Übergewicht durch Fastfood und Süßgetränke bedroht die Gesundheit von immer mehr Kindern und Jugendlichen. Viel weniger Aufmerksamkeit erfahren dagegen Kinder, die für ihr Alter zu dünn oder zu klein sind. Dabei bestehen auch bei der Betreuung dieser Kinder in Deutschland noch große Defizite: Ihre Probleme werden häufig nicht erkannt und nicht konsequent behandelt, stellt die Stiftung Kindergesundheit in ihrer Stellungnahme fest.

Untergewicht ist häufig Begleitsymptom von Erkrankungen

„Beim Stichwort Untergewicht denkt man unwillkürlich zuerst an die vielen Kinder in Entwicklungsländern, die unter Hunger und schlechten Lebensbedingungen leiden“, sagt Prof. Dr. Berthold Koletzko, Leiter der Abteilung Stoffwechsel- und Ernährungsmedizin der Universitäts-Kinderklinik München und Vorsitzender der Stiftung Kindergesundheit. „Dabei kommt Untergewicht bei Kindern und Jugendlichen auch in Deutschland häufiger vor als meist angenommen. Mit einem großen Unterschied: Das Untergewicht der Kinder in der Dritten Welt ist in aller Regel eine Folge von Armut und Unterernährung. Bei den Kindern hierzulande hat sie dagegen oft nichts mit einem Mangel an Nahrung zu tun: Sie ist häufig ein Begleitsymptom von länger dauernden oder chronischen Erkrankungen“.

Richtig sichtbar wird das Ausmaß des Problems bei Kindern, die in einem Krankenhaus behandelt werden müssen. Ein Beispiel lieferte kürzlich eine Untersuchung von 475 Kindern in der Kinderklinik der Universität München. So war jedes vierte Kind, das im Dr. von Haunerschen Kinderspital aufgenommen werden musste, untergewichtig. „Daten der letzten zwanzig Jahre zeigen, dass jedes dritte bis vierte Kind in europäischen Krankenhäusern mäßig bis schwerwiegend mangelernährt ist“, berichtet Professor Koletzko. „Das ist ein Zustand, den wir Ärzte so nicht weiter hinnehmen dürfen“.

Frühchen besonders häufig betroffen

Ein besonders hohes Risiko für einen schlechten Ernährungszustand haben Frühgeborene und chronisch kranke Kinder und Jugendliche, berichtet die Stiftung Kindergesundheit. Auch Kinder mit angeborenen Herzfehlern, einer Mukoviszidose (zystische Fibrose) und verschiedenen Magen- und Darmerkrankungen sind häufig betroffen.

„Die Auswirkungen einer Mangelernährung sind bei Kindern noch gravierender als bei Erwachsenen“, betont Prof. Dr. Berthold Koletzko. Eine Mangelernährung in den ersten beiden Lebensjahren kann die Gehirnentwicklung und damit die intellektuelle Entfaltung behindern. Sie kann in den ersten fünf Lebensjahren auch das Immunsystem schwächen und so zu einer erhöhten Infektanfälligkeit führen. Weitere Konsequenzen von Mangelernährung sind auch Wachstumsstörungen, eine verzögerte Geschlechtsreife, eine verzögerte Wundheilung, verminderte Knochendichte und Muskelmasse und Kleinwuchs.

„Zu den möglichen Folgen einer Mangelernährung gehören auch erhebliche Verzögerungen der Entwicklung, eine erhöhte Sterblichkeit sowie eine starke Einschränkung der Lebensqualität der betroffenen Kinder und Jugendlichen“, bringt es Professor Koletzko auf den Punkt.

Versäumnisse, Wissenslücken und Personalnot

Weshalb wird das Problem der Unterernährung von vielen Ärzten nicht gebührend beachtet? Die Stiftung Kindergesundheit benennt folgende Defizite in den Arztpraxen und Kinderkrankenhäusern:

  • Häufig werden Größe und Gewicht der Kinder und Jugendlichen nicht konsequent gemessen und bewertet. Dadurch wird der Ernährungszustand des Kindes nicht richtig eingeschätzt.
  • In der Ausbildung der Angehörigen der Gesundheitsberufe werden Mangelernährung und der erforderliche Umgang damit meist nicht angemessen berücksichtigt.
  • In den Kinderkliniken in Deutschland herrschen Personalnot und Zeitmangel. Auch wenn für den Mangelzustand der Kinder ausreichend Daten vorliegen, führt das Wissen nicht immer konsequent zu den richtigen diagnostischen und therapeutischen Schritten.

Wie päppelt man die Hänflinge wieder hoch?

Voraussetzung ist die Therapie der Krankheit, die am Untergewicht des Kindes ursächlich beteiligt ist. Ist das Untergewicht die Folge einer nicht ausreichenden, falschen oder einseitigen Ernährung, Appetitlosigkeit oder Essstörung, kann eine Umstellung der Ernährung auf eine hochkalorisch angereicherte Kost helfen. Zur Beseitigung des Defizits sind dann auch Nahrungsmittel erlaubt, die sonst als wahre Dickmacher gelten.

Professor Koletzko: „Bei Säuglingen kann als einfache Methode die Konzentration der Nahrungspulvermenge erhöht werden. Das führt allerdings zu einer unausgewogenen Ernährung und belastet die Nieren. Besser eignen sich so genannte bilanzierte therapeutische Säuglingsnahrungen mit hohem Energiegehalt. Das Essen von Kleinkindern und Schulkindern darf man mit Sahne, Margarine, Butter, Pflanzenölen und Maltrodextrin anreichern“.

Schokoriegel und Kartoffelchips ärztlich empfohlen

Für den häuslichen Gebrauch empfiehlt die Stiftung Kindergesundheit folgendes Vorgehen:

  • Die Kost sollte attraktiv und wohlschmeckend sein und darf durchaus reichlich Butter oder Öl enthalten.
  • Die Mahlzeiten sollten möglichst im Kreis der Familie in positiver Atmosphäre eingenommen werden. Gespräche während der Mahlzeiten sollten die Kinder einbeziehen.
  • Eine Sonderbehandlung des kranken Kindes gegenüber seinen Geschwistern und ständiges Ermahnen zum Essen sollten dagegen möglichst vermieden werden.
  • Bei untergewichtigen Klein- und Schulkindern eignet sich zu Nahrungsanreicherung die Zugabe von Fetten (Sahne, Margarine oder Butter, Pflanzenöle) und Kohlenhydraten (Maltodextrin). Besonders effektiv ist die häufige Gabe energiereicher Zwischenmahlzeiten, z.B. selbst hergestellter Milchshakes, Eis mit Sahne, Schoko- und Müsliriegel, Mandel- oder Nussmus, Kartoffelchips und anderer energiereicher Happen.

Wenn mit häuslichen Maßnahmen allein keine angemessene Gewichtsentwicklung erreicht wird, können energiereiche Trinknahrungen sehr hilfreich sein. Die Eltern sollten dabei eingehend durch eine Ernährungsfachkraft beraten werden. Die oft recht hohen Kosten für solche Nahrungen werden bei medizinischer Notwendigkeit von den gesetzlichen Krankenversicherungen erstattet.

Mehr Kompetenzen für Ernährungsmedizin nötig

Angesichts der unzureichenden ernährungsmedizinischen Kenntnisse bei Ärzten und anderen Angehörigen von Gesundheitsberufen fordert die Stiftung Kindergesundheit eine Förderung der Aus- und Weiterbildung im Bereich der Ernährungsmedizin, um die Kompetenz von Studierenden der Medizin, Ärzten und Pflegekräften zu erhöhen. Es sollten alle Kinder und Jugendliche in den kinderärztlichen Praxen und Kliniken in regelmäßigen Abständen gewogen und gemessen werden. Außerdem sollte der Verlauf der Erkrankung dokumentiert und in jedem Entlassungsbrief aus der Klinik Angaben zum Ernährungszustand des Kindes gemacht werden.

„Entschieden ist, dass nicht nur gemessen wird, sondern dass aus den gemessenen Werten auch Schlüsse gezogen werden“, betont Prof. Berthold Koletzko. „Liegt tatsächlich eine Mangelernährung vor, müssen ihre Ursachen möglichst genau abgeklärt werden, damit das betroffene Kind auch adäquat behandelt werden kann.“

Quelle

Stiftung Kindergesundheit

eingestellt am 15.02.2022