Die normierte Vielfalt: die Heterogenität in einer vermeintlich homogenen Schulklasse

Manuela Fischer-Rollbühler

Fischermanuela

Mit der Unterzeichnung der UN-Behindertenrechtskonvention hat sich Deutschland verpflichtet, ein inklusives Schulsystem zu entwickeln. Alle Kinder sollen gemeinsam lernen. Vielfalt soll zur „Norm“ werden. Doch ist die „Norm“ nicht schon immer auch vielfältig?

„Das Zeugnis ist eine Unverschämtheit!“ so die Worte der Mutter der neunjährigen Nina. „Da sieht man, dass Nina nicht gesehen wurde.“ Das Zeugnis scheint auf den ersten Blick gar nicht schlecht zu sein. Jedes Fach wurde mit „befriedigend“ bewertet. Doch die Mutter sieht das anders. Ihre Tochter fällt nicht auf, sie wird nicht wahrgenommen – läuft einfach irgendwie durch. Weder ihre Stärken, noch ihre Schwächen scheint die Lehrerin erkannt zu haben. „In Mathe müsste Nina eigentlich eine fünf haben! Und Sport ist ihr Leben!“ Nina spielt schon seit Jahren ausgiebig Hockey. Kein Baum ist ihr zu hoch, kein Ball zu hart. Sie ist schnell und wendig. Aber auch im Sportunterricht scheint sie nur mittelmäßige Leistungen erbracht zu haben. Mathe ist Ninas „Hassfach“ – wie sie es nennt. Im dritten Schuljahr wurde bei ihr eine leichte Dyskalkulie festgestellt. Nina benutzte noch immer die Finger, wenn sie addieren oder abstrahieren musste. Sie bekam Förderunterricht in der Schule. Und im Zeugnis eine drei.

Nina wird mit 26 weiteren Kindern in einer Klasse unterrichtet. Die Grundschule befindet sich in einem Kölner Stadtteil, der geprägt ist von bildungsgewohnten Familien. Etwa 90 Prozent der Kinder (oder der Eltern der Kinder) streben am Schuljahresende den Wechsel auf das Gymnasium an. Eine scheinbar recht homogene Klasse. Eine Vorzeigestruktur für das von noch immer vielen Menschen verteidigte dreigliedrige Schulsystem. Denn in „Klassen, die zu sehr durchmischt sind vom Leistungsstand der Kinder, ist es kaum möglich, zu unterrichten“. Diese Worte einer bereits pensionierten Grundschullehrerin machen nachdenklich. Fällt Nina schon raus aus der Gruppe homogener Schülerinnen und Schüler? Ab wann beginnt eine Klasse, heterogen zu werden? Sind sich die Kinder in Ninas Klasse tatsächlich alle so ähnlich, dass ihnen ein gemeinsames Lernkonstrukt übergestülpt werden kann?

Schaut man sich die Kinder an, die an großen Gruppentischen sitzen und gerade ein Arbeitsblatt zum Thema „Pflanzen“ ausfüllen, erkennt man sehr schnell Unterschiede. Manche Mädchen könnten schon gut die sechste Klasse besuchen. Die beginnende Pubertät ist nicht zu übersehen. Andere wirken noch sehr jung und kindlich. Ein Junge lässt seinen Bleistift wie eine Rakete oder ein Flugzeug über seinen Kopf kreisen – und macht dabei leise Fluggeräusche. Ein anderer Junge, die etwas längeren Haare lässig über das eine Auge fallend – fixiert scheinbar verträumt eine Klassenkameradin, die ihm schräg gegenüber an einem anderen Gruppentisch sitzt. Bei dem ein oder anderen Kind blitzen noch kleine Milchzähne aus dem Mund.

Kinder entwickeln sich unterschiedlich schnell. Die körperliche Entwicklung lässt sich leicht messen und feststellen. Vielleicht wundern wir uns über das ein oder andere Kind, das einfach nicht so schnell wachsen mag, wie die meisten anderen Kinder. Aber niemand käme auf die Idee, einem Kind von neun oder zehn Jahren Kleidung in Größe 140 zu kaufen – die Größe, die eben für dieses Alter als Richtwert angegeben wird – wenn das Kind erst 110 oder eben schon 160 Zentimeter groß ist.

Auch Interessen entwickeln sich unterschiedlich schnell und in verschiedene Richtungen. Die einen Kinder vertiefen sich stundenlang in Bücher, andere konstruieren mit Lego-Steinen Raumschiffe oder Traumschlösser, wieder andere sinken ein in die Welt der Rollenspiele. Doch im Unterricht sitzen alle diese Kinder an ein und demselben Arbeitsblatt. „Wer damit fertig ist, darf sich ein neues Arbeitsblatt aussuchen!“ beteuert die Lehrerin der Klasse. Wird das tatsächlich den Kindern gerecht? Von einer anderen Mutter weiß ich, dass ihr Sohn bereits vor Eintritt in die Grundschule überdurchschnittlich gut rechnen konnte. Er bewegte sich schon zu dieser Zeit sicher im Tausender-Zahlenraum. Dennoch musste er seitenweise Einsen, Zweien und Dreien in die Zeilen seines Matheheftes schreiben. Auch er durfte sich nach getaner Arbeit ein für ihn etwas „interessanteres“ Arbeitsblatt aussuchen. Der Tausender-Zahlenraum war allerdings noch nicht vorgesehen für ihn. „Mathe macht ihm überhaupt keinen Spaß. Paul langweilt sich und arbeitet nur ungern mit! Dabei war das eigentlich seine große Begabung!“ Die Mutter ist auf der einen Seite etwas enttäuscht, sie kann es aber auch nachvollziehen. „Die Lehrerin ist allein in der Klasse mit 27 Kindern. Da auf jedes Kind und seine individuellen Bedürfnisse einzugehen ist wahrscheinlich einfach nicht möglich.“ Paul wird nach der Grundschule das Gymnasium besuchen. Wie die meisten seiner Mitschülerinnen und Mitschüler auch. Das System funktioniert. Scheinbar. Eine genormte Didaktik schafft ein genormtes Bildungsziel. Zumindest in einer scheinbar homogenen Gruppe von Kindern. Dass viele Kinder am Ende der Grundschulzeit weit unter ihren Möglichkeiten geblieben sind, andere überfordert waren, spielt hierbei keine Rolle. Dass sich kaum ein Kind auf den Schulunterricht freut, scheint auch keine Rolle zu spielen. Und dass beim Erreichen des Lernzieles – der Wechsel auf ein Gymnasium – nicht die intrinsische Motivation des Kindes gefragt ist, sondern immer häufiger der extrinsische Einsatz der meist überforderten Eltern, wird dabei in Kauf genommen, wie die Studie „Eltern unter Druck“ der Konrad-Adenauer-Stiftung zeigt.

Dabei verankern zumindest Grundschulen ein „individualisiertes Lernen“ bereits häufig in ihren Konzepten. Bisher bedeutet dies für die Kinder zumeist nur die Wahl, welches der vorgegebenen Arbeitsblätter sie zuerst bearbeiten wollen – in einer von der Lehrerin oder dem Lehrer festgelegten Zeitspanne. Ihrer Neugier und Originalität wird damit kaum Rechnung getragen. Wäre es nicht möglich, Kinder ihrem Lernstand, Vorwissen und auch Temperament entsprechend ein Thema erkunden zu lassen? Das Thema „Pflanzen“ bietet mehr Spielraum als das Ausfüllen von Arbeitsblättern. So könnten die einen Kinder Samen sähen, den Wachstum beobachten und dokumentieren. Manche mit dem Pinsel, andere mit der Kamera und wieder andere könnten tabellarisch die Daten erfassen. Manche Kinder könnten den Weg vom Samen zur Blüte kneten, ein Referat vorbereiten oder einfach staunend den Vorträgen und Geschichten der Mitschülerinnen und Mitschüler lauschen. Vielleicht könnte Nina ein Bewegungsspiel dazu erfinden. Und Paul könnte alle Daten sammeln und zusammenführen.

Die UN-Behindertenrechtskonvention ist unterschrieben. Die Tore der Regelschulen sind geöffnet für alle Kinder. Doch die Angst vor einer zu großen Vielfalt sitzt tief. Laut Artikel 3 der UN-Menschenrechtskonvention sollen alle Menschen akzeptiert werden als „Teil der menschlichen Vielfalt“. Denn vielfältig werden Schulen nicht erst – sie sind es bereits. Dies in den vermeintlich homogenen Gruppen zu erkennen, wäre der erste und nötigste Schritt dahingehend, alle Kinder willkommen heißen zu können. Dann wäre es möglich, ihre vielen unterschiedlichen Potenziale zu entdecken, diese wertschätzen zu können und somit als Bereicherung für ein inspirierendes gemeinsames Lernen zu nutzen.

Petra Wagner fasst dies wunderbar zusammen: „Da gibt es das Kind, dem das Sprechen sehr leicht fällt, ebenso wie das schweigsame Kind, das erst aus der Reserve gelockt werden muss, bevor es sich äußert. Es gibt die Kletterkünstler und diejenigen, die Unterstützung brauchen, um sich vom sicheren Erdboden wegzubewegen. Es gibt Kinder, die gern malen und basteln, und Kinder, die sich lieber großräumig bewegen.“ So gilt es, „die Kinder in ihrer individuellen Vielfalt wahrzunehmen, sie in ihren Stärken weiter zu fördern und sie überall da zu unterstützen, wo sie Entwicklungsbedarf zeigen.“ (Wagner 2013, S. 268) Hier bietet der Weg hin zu einer inklusiven Bildungslandschaft die große Chance, mit neuen und kreativen didaktischen Mitteln, allen Kindern die Möglichkeit zu geben, ihre eigenen Talente zu entdecken und auszubauen.

Mit Sicherheit braucht es hierfür mehr finanzielle Mittel, Personal und besser ausgestattete Räume. Ein Kind als Individuum und Bereicherung wahrzunehmen – mit all seinen Ideen, Interessen und Leidenschaften – braucht allerdings keine äußeren Veränderungen. Es ist eine Haltung, die es sich anzueignen lohnen würde. Nina wird die Grundschule mit dem Gefühl verlassen, nichts wirklich gut zu können. Mittelmäßig zu sein. Ihre Begeisterung für Sport – jenseits des Unterrichts – wurde nicht wertgeschätzt. Pauls Faible für Zahlen fand keine Begeisterung bei der Lehrerin. Sein besonderes Talent wurde nicht gefördert. Beide – Paul und Nina – haben die Grundschule „erfolgreich“ absolviert. Gerecht wurde sie ihnen und ihren Talenten, Begabungen und ihrer Individualität allerdings nicht. Das sehen die Strukturen eben (noch) nicht vor. Die vorherrschende normierende didaktische Umsetzung des Unterrichts lässt eine Entfaltung von Kreativität und Begabungen nur wenig zu. Dabei hatte schon Vincent van Gogh erkannt: „Die Normalität ist eine gepflasterte Straße; man kann gut darauf gehen – doch es wachsen keine Blumen auf ihr.“ Und wenn auch jede einzelne Blume unterschiedlicher Voraussetzungen und Pflege bedarf – ohne genau sie wäre die Landschaft weniger bunt.

Literatur

  • Wagner, Petra (2013): Handbuch Inklusion. Grundlagen vorurteilsbewusster Bildung und Erziehung. Freiburg

Autorin

Manuela Fischer-Rollbühler, geb. 1973, lebt in Köln, ist verheiratet und hat drei Kinder (6, 9, 11 Jahre). Sie studiert im 7. Semester Pädagogik der Kindheit und Familienbildung an der FH Köln.

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Erstellt am 21. Oktober 2014, zuletzt geändert am 21. Oktober 2014