Wohnortnahe schulische Integration für Kinder mit besonderem Förderbedarf in der inklusiven (Grund-)Schule
Dr. Cornelia Rehle
In diesem Artikel werden Gesetzgrundlagen und Umsetzungsmöglichkeiten einer Inklusiven Schule vorgestellt. Das Ziel ist dabei, ein Stück Normalität für Kinder mit besonderem Förderbedarf zu schaffen und wiederherzustellen. Trotz Überlegungen zu finanziellen und personellen Ausstattungsmöglichkeiten sollte dabei das Wohl des Kindes immer im Mittelpunkt stehen.
Normalität für behinderte Kinder: ein Desiderat
„Mein Kind soll trotz seiner Behinderung möglichst normal aufwachsen. Es soll ganz alltägliche Kontakte zu anderen, gesunden Kindern haben und sich möglichst selbständig und selbstverständlich in der „normalen“ Welt zurecht finden lernen.“
So ähnlich formulieren viele Eltern von Kindern mit Beeinträchtigung ihr Ziel für die künftigen Jahre. Doch dieses Ansinnen ist im bundesdeutschen Schulsystem immer noch nicht leicht umzusetzen. Bundesweit stieg zwar die Inklusionsquote laut Zahlen der Kultusministerkonferenz für das Schuljahr 2011/2012 um 2,7 Prozentpunkte auf 25 Prozent, wobei die einzelnen Länder große Unterschiede aufweisen.
Der „normale“ Weg für Kinder mit Behinderungen – welcher Art auch immer – ist oft genug institutionell vorgezeichnet: er führt bereits ab der Diagnosestellung (meist kurz nach der Geburt des Kindes) von den Einrichtungen der Frühförderung zu den Kindertagesstätten an Förderzentren und von da nahtlos zu den entsprechenden Förderschulen. Damit ist eine Rundum-Versorgung der Kinder gegeben; die Familien werden durch die Ganztagsbetreuung und die angegliederten Therapien entlastet, sie müssen sich weder um den Schulweg noch um Kostenerstattung kümmern. Die Kinder sind dort „gut aufgehoben“, sie sind „unter Ihresgleichen“, sie werden von ausgebildeten Spezialkräften betreut und in kleinen Klassen gefördert.
Der Wunsch nach wohnortnaher Einzelintegration
Warum also dann ein anderes Modell? Warum eine mühsame Einzelintegration an der örtlichen Schule, die womöglich die Kinder nicht einmal optimal mit Therapien versorgen kann?
Befragt man betroffene Eltern [1] dazu, so führen sie folgende Gründe an, die sich z. T. auch durch wissenschaftliche Untersuchungen belegen lassen:
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Sonderwege abseits von der normalen Gesellschaft führen zu sozialer Isolierung: Eine Mutter berichtet – stellvertretend für viele Familien – von dieser traurigen Erfahrung: „Es ist kaum zu ertragen, den Nachbarskindern beim täglichen gemeinsamen Schulweg zuschauen zu müssen, während unser Kind ins Auto steigt, eine für Nachbarskinder nicht zu übersehende `Sonderrolle´ unseres Kindes. Wie sollte es ihnen gelingen, diesen `Sonderling´ in ihr nachmittägliches Spiel zu integrieren? Obwohl Fritz ein überaus kontaktfreudiger, interessierter und offener Junge ist, kann er weder zu den Kindern am Wohnort soziale Beziehungen aufbauen noch zu den Kindern in der 20 km vom Wohnort entfernten Schulstadt. Die schulfreie Zeit verbringt er vorwiegend ohne Kontakt zu Kindern.“ Die soziale Isolation wirkt meist profund und langfristig. Und dieser Prozess läuft gegenseitig: auch „gesunde“ Kinder und Erwachsene lernen nicht, mit sogenannten Behinderten umzugehen, sie fühlen sich hilflos, unsicher oder sogar gestört – und verstärken damit noch den Ausschluss der Behinderten aus dem gesellschaftlichen Leben.
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Geringe Lernherausforderungen, geringe Lernerfolge in den Förderschulen: Die Überweisung in eine Förderschule dient dem Wohl des Kindes. Sie soll „Kinder mit speziellem Förderbedarf zu mehr Lernleistung und zu mehr sozialer Akzeptanz verhelfen“[2]. Aber: sind die Förderschulen wirklich die besten Förderorte für Kinder mit besonderem Förderbedarf? Erste Zweifel daran weckten bereits 1990 Vergleichsuntersuchungen von Haeberlin: Er fand heraus, dass die Lernfortschritte „vergleichbar schulschwacher Kinder in Grundschulklassen signifikant besser als in Sonderschulklassen für Lernbehinderte“ waren. Bestätigt wurden diese Ergebnisse durch die LAUF Studie (2005) von Hans Wocken: Je länger Förderschüler an Regelschulen unterrichtet wurden, desto bessere Lernergebnisse erzielten sie. Im Vergleich dazu fielen früh selektionierte Sonderschüler leistungsmäßig stark ab. Wocken erklärt diesen Effekt mit dem reduzierten Anforderungsniveau der Förderschulen, er kennzeichnet es als „niveaureduziertes, monotones Milieu, das die Entwicklung nicht mehr bestmöglich stimuliert, sondern eher Stagnation oder Retardation zur Folge hat.“ [3] Eine betroffene Mutter machte dazu folgende Beobachtung: „Mir hat bis heute niemand überzeugend erklären können, inwiefern Cordula in der Außenklasse besser gefördert wird. Zwar sind in ihrer Klasse nur neun weitere Kinder. Aber alle haben ihre Schwierigkeiten und Probleme, sei es kognitiver oder verhaltensbedingter Art, so dass jedes einzelne von ihnen natürlich mehr Aufmerksamkeit erfordert.“
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Die Sonderschule wirkt als „Schonraumfalle“: Zunächst zeigt die Einweisung in eine Förderschule oft eine Entlastung für betroffene Kinder und Familien. Die Lehrpläne sind reduziert. Es gibt keinen Druck durch Noten und Nicht-Versetzung. Konsequenz daraus: die Förderschule führt in der Regel zu keinem Schulabschluss. 80% der Förderschüler verlassen ihre Schule ohne irgendein Diplom. Damit ist ihnen lebenslang der Weg in den ersten Arbeitsmarkt versperrt. Folglich arbeiten 90% dieser Schüler später in Reha-Programmen oder in beschützenden Werkstätten für behinderte Menschen. Eine Untersuchung von Haeberlin u. a. (1989) hat gezeigt, dass „die Sonderschule (…) ihre Schonraumfunktion – wenn überhaupt – nur in den unteren Schuljahren erfüllen“ (kann) [4].
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Beschämung und Stigmatisierung als Lebensthema: Die Kinder und Jugendlichen schämen sich oft ihrer Sonderschulzugehörigkeit (besonders in Lernbehindertenschulen) und suchen diese wie einen Makel zu verbergen. Dies belegen Interviews von Schumann (2003) mit Sonderschüler/innen der Klassen 7 bis 10. Sie erleben den Sonderschulstatus als belastend und diskriminierend. „Die beschämende Wahrnehmung, als Sonderschüler/innen defizitär, unterlegen und minderwertig zu sein in der Deutungsmacht der anderen, hat ihr Selbstwertgefühl erheblich erschüttert und beeinflusst ihr Alltagsverhalten. Es besteht die Gefahr, dass diese Wahrnehmung zu einem chronischen Bestandteil ihres Selbstkonzepts wird.“ [5] Bereits bei jüngeren Kindern „greift“ dieser Mechanismus. Vivienne, ein als schwerstbehindert eingestuftes Mädchen bringt es zum Ausdruck: „Sie glauben gar nicht, wie minderwertig man sich an einer Förderschule fühlt“.
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Die Zusammenschau dieser Motive zeigt: betroffene Eltern fordern für ihre Kinder mit Beeinträchtigung nichts anderes, als dass die Grundsätze der Humanität auch für sie gelten: Akzeptanz der Einzigartigkeit jedes Menschen, gleiche Würde, gleiche Rechte, Gleichwertigkeit und bedingungslose Partizipation am gesellschaftlichen Leben und an gesellschaftlichen Einrichtungen. Eine Mutter formuliert das so für ihr Kind mit Down-Syndrom: „Für uns war es selbstverständlich, sie von Geburt an überall mit dabei zu haben. Sie hat alles mitgemacht, und wir wünschen uns für sie ein „normales“ Aufwachsen in unserem Wohnumfeld.“ Warum sollte das mit Schulbeginn anders werden?
Die inklusive Schule als „Schule für alle Kinder“ – auch mit Behinderung
Welche Idee steckt hinter einer „inklusiven“ Schule? Ulf Preuss-Lausitz, ein Vertreter der „Pädagogik der Vielfalt“, formuliert das Bildungskonzept der inklusiven Schule so:
„Liebe zum Leben schließt die gleichwertigen Lebenschancen aller ein. Bildung heute darf sich weder theoretisch noch real auf eine Teilgruppe beziehen. Ein Bildungsbegriff für eine Schulart ist theoretisch ebenso obsolet wie für bestimmte Ethnien/Nationen, für Religionen, Ideologien oder faktisch für soziale Schichten (…) Die Folge eines gemeinsamen Bildungsbegriffs ist die Aufnahme aller Kinder in eine Schule.“ [6]
Im Gegensatz dazu wirkt das gegenwärtige Schulsystem der BRD hoch selektiv, d. h. Kinder werden immer noch aufgrund ihrer (vermeintlichen) Fähigkeiten oder Defizite in entsprechende Schulen eingewiesen. Die Fehlerquote „falscher“ Zuweisungen ist hoch, denn das Lernpotential eines Kindes lässt sich nicht leicht einschätzen oder in Tests feststellen. Zudem tendieren Kinder dazu, Entwicklungssprünge zu machen und sich entsprechend ihrer Umgebung zu verändern. Vorhersagen über Lernentwicklungen sind also kaum möglich. Dies gilt sowohl für Übertrittsempfehlungen am Ende der Grundschule („Jede zweite Übertrittsempfehlung ist falsch“ [7]), in besonders schicksalhafter Weise aber auch für Einweisungen in Förderschulen. Diagnosen von Ärzten beruhen nicht selten auf veralteten Lehrmeinungen, die von behinderten Kindern kaum Lernerfolge erwarten. So sind erste Diagnosen u. U. schlichtweg falsch, für betroffene Eltern aber oft vernichtend, wie diese Aussage zeigt: „`Schwer geistig behindert´. So lautete der Befund eines Psychologen aus dem Kinderzentrum, dessen Urteil über meine dreijährige Tochter schon nach zwei Minuten feststand.“ Heute besucht dieses Mädchen erfolgreich die dritte Klasse der Grundschule, schreibt, liest, rechnet ohne Probleme, denkt viel analytischer als die anderen Kinder – der Arzt hatte nicht erkannt, dass sie an Autismus leidet.
Neuere lern- und entwicklungspsychologische Annahmen widersprechen der Selektion in unserem Schulsystem. Man erkennt, dass gleichartig zusammengesetzte Gruppen nicht besonders lernförderlich sind. Denn: von wem sollten diese „gleichen“ Kinder denn etwas lernen? Woher sollten Impulse kommen, die ihnen die „Zone der nächsthöheren Entwicklung“ aufzeigen? Die „Pädagogik der Vielfalt“ geht davon aus, dass gerade in der Unterschiedlichkeit der Kinder einer Klasse effektive Lernanreize liegen, sofern es gelingt, diese Verschiedenheit produktiv zu nutzen. Unterrichtsmuster einer solchen „inklusiven“ Didaktik [8] werden zunehmend auch in Regelklassen umgesetzt. Solche Unterrichtskonzepte ermöglichen es grundsätzlich, alle Kinder – auch behinderte – gemeinsam zu fördern, vorausgesetzt, dass jedes Kind individuelle Aufgaben und Hilfen bekommt. Vorbilder dazu gibt es schon seit der Reformpädagogik: Maria Montessori z. B. sprach von den „intellektuellen Wanderungen“, der Kinder untereinander. Nimmt man diese entwicklungspsychologischen Erkenntnisse ernst, so kann man in einer reichen Mischung von Verschiedenheiten viele Lernanreize und entwicklungsfördernde Faktoren erkennen. Eine Schulleiterin bestätigt dies: „Das Zusammenleben mit einem behinderten Kind prägt das soziale Miteinander aller in der Gemeinschaft Lebender. Rücksicht ist an der Tagesordnung. Die Kinder lernen zu warten. Sie gehen langsamer im Flur, drehen sich immer wieder nach Niko um, laufen vorsichtiger auf der Treppe, achten aufeinander, helfen sich gegenseitig mit Materialien aus, bringen Geduld füreinander auf. Ein Auslachen gibt es nicht. Wie kann man Kinder besser auf das Leben vorbereiten? Ich will jeder Lehrkraft Mut machen, dieses Wagnis einzugehen.“
Eine inklusive Schule unterscheidet demnach nicht, ob ein Kind Schädigungen im Sehen, Hören oder Verhalten, in der geistigen Entwicklung oder in der Sprache hat, ob es autistisch oder mehrfachbehindert ist, hochbegabt oder unauffällig – vielmehr sucht man nach den besonderen Fähigkeiten des Kindes und bemüht sich, mit dem vorhandenen Lernpotential zu arbeiten. Der Unterricht erfolgt zieldifferent, d. h. nicht alle Kinder müssen zur gleichen Zeit dasselbe können, sondern bekommen ausreichend Lernzeit und Lernhilfen, um auf ihrem Niveau lernen zu können. Dieser „entwicklungsorientierte“ Unterricht geht von der individuellen Ausgangslage eines Kindes aus und versucht, Lernangebote für alle Kinder und besondere Entwicklungsangebote für Kinder mit besonderen Lernbedürfnissen bereit zu stellen.
Kinder mit besonderem Förderbedarf benötigen dabei besondere Hilfen, um am gemeinsamen Unterricht teilnehmen zu können. Auf personelle Unterstützung (Schulbegleitung, zusätzliche Therapeuten, ausreichende sonderpädagogische Betreuung) darf hier nicht verzichtet werden, ebenso wenig wie auf bauliche Maßnahmen (z. B. eine rollstuhlgerechte Einrichtung), die auf lange Sicht allen Kindern zugute kommt.
Zur Gesetzeslage in der BRD
Das Grundgesetz der BRD gewährleistet das Recht eines jeden Menschen auf Bildung und freie Entfaltung (Art. 2) und untersagt jede Benachteiligung bestimmter Gruppen, auch der behinderten Menschen. Die UN-Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderungen von 2006 verpflichtet die Unterzeichnerstaaten, ein in Bezug auf Schüler mit Behinderungen inklusives Schulsystem zu errichten, in dem der gemeinsame Unterricht von Schülern mit und ohne Behinderung der Regelfall ist. Seit Dezember 2008 ist dieser Vertrag für die BRD verbindlich.
Inhalte des Gesetzes sind – neben der Verpflichtung zu einem inklusiven Schulsystem – folgende Vorgaben:
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Der Grundschulunterricht ist unentgeltlich. Er beginnt frühestens mit 5 Jahren und spätestens im Alter von 7 Jahren; eine Verschiebung der Einschulung aufgrund körperlicher oder geistiger Entwicklungsverzögerungen ist grundsätzlich mit dem Inklusionszweck nicht vertretbar (Art. 24 Abs. 2 lit. a und Art. 24 Abs. 2 lit. b BRK)
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Der Zugang behinderter Kinder zur Schule soll innerhalb zumutbarer Entfernung sicher gestellt werden; das beinhaltet auch die Beseitigung ökonomischer und räumlicher Hindernisse (Art.24 Abs.2 lit. b BRK).
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Der Zugang für Schüler mit Behinderung muss gleichberechtigt mit anderen in der Gemeinschaft, in der sie leben, erfolgen (Art.24 Abs.2 lit. b BRK).
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Bestmögliche individuelle Unterstützung innerhalb des allgemeinen Schulsystems soll den Schülern mit Behinderung angeboten werden, um ihnen eine wirksame Bildung zu erleichtern mit dem „Ziel der vollständigen Inklusion“ (Art. 24 Abs. 2 lit. c, d und e BRK). Das beinhaltet das Erlernen behindertengerechter Kommunikation sowie das Einbeziehen behindertengerechter Vermittlungsmedien.
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Die Einstellung qualifizierter Lehrkräfte schließt auch Lehrkräfte mit Behinderung ein, die in Gebärdensprache und Brailleschrift geschult sind. (Art 24 Abs. 4 S. 1 Hs. 1 BRK)
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Fortbildungen der Lehrkräfte und sonstiger Mitarbeiter sollen der Sensibilisierung für Behinderungen dienen, der Vermittlung behindertengerechter Kommunikationsformen und der pädagogischen Unterstützung von Menschen mit Behinderungen (Art. 24 Abs. 4 S. 1 Hs. 2 BRK und Art 24 Abs. 4 S. 2 BRK)
Diese Verpflichtungen sind – als kulturelle Rechte – grundsätzlich zur schrittweisen Umsetzung vorgesehen (nach Art. 24 Abs. 2 a.A. BRK). Wer letztlich über den Bildungsweg von Schülern mit Behinderung entscheidet, wird vom BRK nicht festgelegt; allerdings kommt den Eltern ein maßgeblicher Einfluss auf die Schulwahl zu.
In den Ländern hat sich die Rechtslage durch die Aufnahme des Diskriminierungsverbots (Art 3 Abs. 3 S. 2 GG) in die Verfassung deutlich verändert: Nicht mehr die „Sonderschulbedürftigkeit“ des Schülers steht im Mittelpunkt, sondern sein „sonderpädagogischer Förderbedarf“ und die Frage, wo und wie diesem Bedarf am besten entsprochen werden kann.
Im neuen BayEUG steht seit 2011 unter dem angegebenen Art. 41:
1 Schulpflichtige mit sonderpädagogischem Förderbedarf erfüllen ihre Schulpflicht durch den Besuch der allgemeinen Schule oder der Förderschule.
2 Die Förderschule kann besucht werden, sofern die Schülerin oder der Schüler einer besonderen sonderpädagogischen Förderung bedarf, ansonsten nur im Rahmen der offenen Klassen nach Art. 30a Abs. 7
3 Die Erziehungsberechtigten entscheiden, an welchem der im Einzelfall rechtlich und tatsächlich zur Verfügung stehenden schulischen Lernorte ihr Kind unterrichtet werden soll; bei Volljährigkeit und Vorliegen der notwendigen Einsichtsfähigkeit entscheiden die Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf selbst.”
Unter Art. 30 steht dort:
„(3) 1 Schülerinnen und Schüler mit und ohne sonderpädagogischem Förderbedarf können gemeinsam in Schulen aller Schularten unterrichtet werden.
Einzelbeispiele, die Mut machen
Einzelintegrationen von Kindern an der wohnortnahen (Grund-)Schule, die erfolgreich verlaufen, können Mut machen. In dem Buch von Thoma/Rehle: „Inklusive Schule – Leben und Lernen mittendrin“ werden u. a. zehn Fallstudien vorgestellt: Kinder und ihre Familien, die vom „Forum für Inklusive Strukturen an Schulen (FISS)“ an der Universität Augsburg bezüglich ihrer Schulkarriere jahrelang unterstützt und begleitet wurden. Einige dieser Kinder sind mittlerweile an Regelschulen ganz selbstverständlich integriert, bei anderen ist dieser Prozess leider gescheitert. Beispielhaft sei hier ein Text eines schwerstbehinderten Mädchens vorgestellt, das weder sprechen noch greifen oder laufen kann. Da sie ihren Körper nicht koordinieren kann, wurde ihr zunächst eine „Intelligenz von Null“ bescheinigt. Glücklicherweise glaubten ihre Eltern dieser Diagnose nicht; Vivienne lernte, sich über gestützte Kommunikation zu verständigen, sie lernte lesen und über ein Stützsystem schreiben – alles vor und außerhalb der Förderschule. Dies befähigte sie dazu, in die dritte Klasse einer Grundschule zu wechseln, wo sie erfolgreich lernte und alle Prüfungen mitschrieb. Nach der vierten Klasse besuchte sie ein Gymnasium, aktuell studiert sie als Gasthörerin Theologie und Deutsche Literatur an der Universität Augsburg.
„Manchmal ist es sehr hilfreich,
möglichst wenig über ein Krankheitsbild zu wissen,
weil man dann gezwungen ist, sich den Menschen anzuschauen,
und sich mit ihm auseinanderzusetzen.
Dies ist gut so, weil ein behinderter Mensch zuallererst Mensch ist,
und dann folgt lange nichts,
und dann kommt erst die Behinderung zum Tragen.
Ich wünsche es jedem anderen behinderten Kind,
dass es auf normale Schulen gehen kann,
denn jeder hat das Recht,
zuerst als Mensch angesehen zu werden.“
Internetadressen und weiterführende Literatur
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Forum für inklusive Strukturen an Schulen und anderen Bildungseinrichtungen
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Boban, I./ Hinz, A.: Index für Inklusion. Lernen und Teilhabe in der Schule der Vielfalt entwickeln. Halle-Wittenberg 2003
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Eberwein, H./ Knauer, S. (Hrsg.) (62002): Integrationspädagogik. Weinheim und Basel
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Schöler, J. (1996): Methodisch-Didaktische Aspekte integrativen Unterrichts. FernUniversität Hagen
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Schumann, B. (2007): „Ich schäme mich ja so!“ Die Sonderschule für Lernbehinderte als Schonraumfalle. Bad Heilbrunn
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Stengel-Rutkowski, S. (2004): Vom Defekt zur Vielfalt. Ein Beitrag der Humangenetik zu
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gesellschaftlichen Wandlungsprozessen. In: Feyerer, E./ Prammer, W. (Hrsg.): Qualität und Integration, Beiträge zum 8. PraktikerInnenforum. Schriften der Pädagogischen Akademie des Bundes Oberösterreich. B. 16. Linz
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Thoma, P./Rehle, C. (Hrsg.) 2009: Inklusive Schule – Leben und Lernen mittendrin. Bad Heilbrunn
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Wocken , H.(2005): Andere Länder, andere Schüler? Vergleichende Untersuchungen von Förderschülern in den Bundesländern Brandenburg, Hamburg und Niedersachsen (Forschungsbericht)
Anmerkungen
[1] Alle folgenden Äußerungen von Eltern sind authentisch; die Namen der Kinder wurden geändert
[2] Speck, O. (1996): System Heilpädagogik. Eine ökologisch reflektierte Grundlegung. 3. Aufl. München/Basel, S. 103
[3] Wocken , H.(2005): Andere Länder, andere Schüler? Vergleichende Untersuchungen von Förderschülern in den Bundesländern Brandenburg, Hamburg und Niedersachsen (Forschungsbericht) S. 62
[4] Haeberlin, U./Moser, U./Klaghofer, R (1989): Integration in die Schulklasse. Fragebogen zur Erfassung von Dimensionen der Integration von Schülern. FDI 4.-6. Bern/Stuttgart/Wien
[5] Schumann, B. (2007): „Ich schäme mich ja so!“ Die Sonderschule für Lernbehinderte als Schonraumfalle. Bad Heilbrunn, S. 124
[6] Preuss-Lausitz, U.(1993): Die Kinder des Jahrhunderts. Zur Pädagogik der Vielfalt im Jahr 2000. Weinheim, Basel, S.32/33
[7] Süddeutsche Zeitung vom 14. Januar 2008, S. 53
[8] Vgl. Thoma, P./Rehle, C. (Hrsg.) 2009: Inklusive Schule – Leben und Lernen mittendrin. Bad Heilbrunn
Autorin
Dr. Cornelia Rehle M.A.
Akademische Rätin am Lehrstuhl für Pädagogik mit Schwerpunkt Grundschuldidaktik der Universität Augsburg
Universitätsstr. 2
86135 Augsburg
Erstellt am 28. Juni 2013, zuletzt geändert am 28. Juni 2013