Empfehlungen für pädagogische Fachkräfte in Kindertagesstätten zum Umgang mit der Corona-Schließzeit
Prof. Dr. Marjan Alemzadeh
Die ersten Schließwochen sind nun vorüber und weitere Schließwochen sind angekündigt. Was würden Sie den Kitas für diese Zeit empfehlen? Worauf sollten Kitas in den nächsten Wochen Ihrer Meinung nach den Fokus legen? Ein Interview mit Frau Dr. Marjan Alemzadeh, Professorin für Pädagogik mit dem Schwerpunkt Frühkindliche Bildung im Studiengang Kindheitspädagogik B. A. an der Hochschule Rhein Waal.
Hier ist das Interview zum Anhören:
oder zum selber Lesen:
Es gibt jetzt zwei Dinge, die sehr wichtig sind: Am 15.4. wurden auf Bundesebene einige Entscheidungen getroffen, die in der jetzigen Situation eine schrittweise, vorsichtige Lockerung der Kontaktbeschränkungen einleiten. Das bedeutet, dass nun notwendige Vorbereitungsmaßnahmen für die kommenden Wochen in den Kitas zu treffen sind.
Es wird eine große Herausforderung, die Hygienevorschriften und die notwendigen pädagogischen Maßnahmen – orientiert an den kindlichen Bedürfnissen – unter einen Hut zu bekommen, da die unterschiedlichen Ansprüche in einem spannungsvollen Verhältnis stehen werden.
So könnte ich mir gut vorstellen, dass es die Regelung geben wird, dass die Kinder an der Tür „abgegeben“ werden müssen und die Eltern die Kita nicht betreten dürfen. Pädagogisch ist das eine sehr große Herausforderung und ein echtes Dilemma, da viele Kinder nach der langen Zeit zu Hause wahrscheinlich sogar eine zweite Eingewöhnung benötigen würden1.
Eine Lösung könnte sein, dass der Tagesbeginn im Außengelände der Kindertagesstätte stattfindet und die Eltern ihre Kinder an der freien Luft in die Kita begleiten und ein individuelles Ankommensritual mit der jeweiligen pädagogischen Fachkraft vereinbaren. Es ist wichtig Konzepte auszuarbeiten, wie eine schrittweise Öffnung der öffentlichen Bildung, Erziehung und Betreuung von Kindern in Kindertageseinrichtungen und Kindertagespflege unter Beachtung des notwendigen Gesundheitsschutzes zeitnah realisiert werden kann2.
Das führt mich zum zweiten Punkt. Es ist enorm wichtig, dass die pädagogischen Fachkräfte während der Zeit, in der die Kinder nicht in der Kita sind, den Kontakt zu den Familien aufrechterhalten. Viele Kitas schicken ihren Kindern kleine Filmchen, um sich präsent zu halten. Das ist ein guter erster Schritt in die richtige Richtung. Damit die Kinder aber ihre Beziehung zu den pädagogischen Fachkräften aufrechterhalten können, ist ein Kontakt durch echten Austausch besonders wichtig (als Dialog, nicht nur einseitig).
Wie kann es aussehen, den Kontakt zu den Kindern und ihren Familien zu halten?3
- Kinder werden alle paar Tage von den pädagogischen Fachkräften (Bezugsperson/en) telefonisch oder über Videochats angerufen (altersabhängig).
- Eine kleine Zoom-Einheit per Video ist eine Möglichkeit, an der die älteren Kita-Kinder sicher Spaß haben werden. Die Eltern werden es zu schätzen wissen, dass sie sich für diese Zeit auf andere Dinge konzentrieren können.
- Das Wichtigste dabei ist aber der Kontakt zwischen Ihnen und den Kindern, der so erhalten bleibt und es allen nach der langen Pause erleichtert, wieder zu starten.
- Es könnte ein gemeinsamer virtueller Morgenkreis zu einer festgelegten Zeit stattfinden, mit gemeinsamem Singen, dem Vorlesen eines Buches oder einem kleinen Theaterspiel (natürlich auf freiwilliger Basis).
- Pädagogische Fachkräfte können den Kindern persönliche Briefe oder E-Mails schreiben, z. B. „Liebe Lea, gerade erinnere ich mich daran, wie gerne du immer im Rollenspielraum die Sachen sortierst und freue mich schon darauf, wenn du das bald wieder machen kannst. Weißt du noch, wie du einmal einen ganz tollen Laden aufgebaut hattest, wo dann Paul, Hassan und Milena eingekauft haben? Wir haben noch ein Schild gebastelt und…“
- Sie können die Zeit nutzen, die Portfolios oder Ich-als-Kind-Bücher der Kinder zu aktualisieren und diese den Kindern per Post nach Hause schicken, sodass die Portfolios oder Ich-als-Kind-Bücher als Brücken zwischen Zuhause und Kita fungieren.
- Überlegen Sie sich ein Ritual, z. B. das tägliche Verschicken eines kleinen Videos an alle Kinder. Im besten Fall variieren dabei die pädagogischen Fachkräfte, sodass alle den Kindern präsent bleiben.
- Bei Bedarf kann Spiel- und Bastelmaterial verliehen werden (vorher desinfizieren). Eine Erzieherin einer SOAL-Einrichtung packt kleine Boxen mit Spiel- und Bastelmaterial für die Kinder und übergibt sie an der Tür (mit ausreichend Abstand). Bei ihrer Auswahl berücksichtigt sie die individuellen Interessen und Vorlieben der Kinder. Wenn die Familien die Boxen entgegennehmen, entstehen häufig Gespräche – und die Familien spüren, dass sie nicht allein sind.
- Kleine Aktionen für die Kinder halten den Kontakt zur Kita lebendig. So könnten Sie z. B. eine Tüte mit Zubehör, um etwas einzupflanzen (Samen, ein kleines Töpfchen, ein bisschen Erde), und dazu eine Videoanleitung verschicken, in der die Pädagogin parallel etwas pflanzt, das Tag für Tag beobachtet und die Kinder auffordert, ebenfalls zu beobachten und ihre Beobachtungen mit ihr zu teilen.
- Je besser der Kontakt während der kita-freien Zeit erhalten bleibt, desto besser wird der Kita-Start nach den Schließwochen gelingen.
- Ganz wichtig dabei ist: Es sollten sich nur Fachkräfte involvieren, denen es selbst gut geht (auch psychisch), die sich in dieser neuen Situation zurechtfinden und sich nicht belastet fühlen. In diesen Zeiten müssen wir solidarisch denken. Es geht nicht darum zu urteilen, ob es gerecht ist, wenn einige etwas beitragen und andere nicht. Jede*r, der/die kann, trägt etwas für die Gesamtheit bei. Die anderen tragen am meisten zu der Situation bei, indem sie dafür sorgen, sich selbst wieder ins Gleichgewicht zu bringen.
Außerdem können die pädagogischen Fachkräfte Kontakt zu den Eltern halten und sie dabei sehr unterstützen.
Hier ein paar Tipps, wie dies gestaltet werden könnte:
- Eine telefonische Sprechstunde von pädagogischen Fachkräften für Eltern. Ein offenes Ohr, Empathie und der eine oder andere Hinweis können schon viel Entlastung bringen.
- Aktuelle Informationen für die Eltern zur Verfügung stellen.
- Es ist wichtig, den Eltern mitzuteilen, dass sie erst einmal dafür sorgen sollen, selbst im Gleichgewicht zu bleiben (Selbstfürsorge), damit sie besser für ihre Kinder da sein können. Jeder hat dafür seine eigenen Rituale zum Stressabbau, z. B. joggen, spazieren gehen, Mindfulness-Übungen, bewusstes Atmen, Musik hören etc. Nutzen Sie Unterstützungsnetzwerke in Krisensituationen, indem Sie mit Freunden telefonieren, sich austauschen, telefonische Beratungen über Einrichtungen des Kinderschutzbundes oder die Erziehungsberatung in Anspruch nehmen.
- Es ist außerdem wichtig, den Eltern zu vermitteln, für die Bedürfnisse ihrer Kinder ansprechbar zu sein. Erklären Sie ihnen, wie wichtig es ist, die kindlichen Gefühle zu begleiten, ihnen Raum zu geben und wahrzunehmen, was Kinder bspw. in ihrem Spiel zum Ausdruck bringen (eine Puppe hat den Corona- Virus, darf die andere Puppe nicht mehr berühren und muss Abstand halten).
- Achten Sie auf kindgerechte Erklärungen, geben Sie nicht zu viele (ungefragte) Informationen und lassen Sie sie erst recht keine Nachrichten schauen (das ist für die Kinder schwer verdaulich).
- Auch kann man Eltern mitteilen, dass sie authentisch sein und zeigen dürfen, dass sie selbst nicht genau wissen, wie es weitergeht und dass die Situation für sie auch nicht immer leicht ist. Sehr gut wäre es, wenn die Eltern es schaffen können, eine Haltung der Zuversicht aufzubauen.
- Geben Sie den Eltern Tipps, was sie nun mit ihren Kindern machen können, z. B. eine Schatzsuche für den besten Freund oder die beste Freundin austüfteln, Spiele aus der eigenen Kindheit mit den Kindern spielen, mit den Kindern Höhlen und Buden bauen (symbolische Orte des Schutzes und der Geborgenheit) etc.
- Geben Sie den Eltern Tipps für Hörbücher und gute Ratgeber, denn wenn man auf so engem Raum interagiert, kommen auch viele Themen aus der eigenen Kindheit hoch. Wenn man die Ressourcen hat, ist jetzt ein guter Moment, Biografie-Arbeit zu leisten und sein eigenes Verhalten als Elternteil zu reflektieren. Geeignete Bücher hierfür sind z. B.:
- „Das Kind in Dir muss Heimat finden“ (Stefanie Stahl),
- „Nestwärme, die Flügel verleiht“ (Stefanie Stahl & Julia Tomuschat),
- „Geschwister als Team“ (Nicole Schmidt),
- „Das gewünschteste Wunschkind aller Zeiten treibt mich in den Wahnsinn“ (Danielle Graf & Katja Seide),
- Ratgeber von Jesper Juul (Familientherapeut).
Noch besser wäre es, Sie als Familienbegleiterin lesen diese Bücher auch und haben gute Hinweise auf Fragen parat. Viele Eltern werden jetzt nicht die Zeit zum Lesen finden, aber viele Fragen haben.
- Viele Familienberatungsstellen stehen auch telefonisch oder über Social Media zur Verfügung.
- Wenn Sie im Kontakt merken, dass eine Familie besonders belastet ist, können Sie ihr bspw. anbieten, das Kind für 1-2 Stunden für einen Spaziergang aus der Familie herauszuholen, damit die Eltern neue Kräfte tanken können. Diese Idee stammt aus einer SOAL-Einrichtung in Hamburg und sollte nur dann umgesetzt werden, wenn es die geltenden Bestimmungen in Ihrer Region zulassen.
Bietet die Corona-Krise Ihrer Meinung nach auch eine Chance für pädagogische Teams?
Ja, definitiv! Jetzt ist die Zeit für Selbstreflexion gegeben, für die Vergewisserung des pädagogischen Selbstverständnisses und für die Überprüfung der eigenen Arbeit und pädagogischer Konzepte.
- Nutzen Sie die Zeit für konzeptionelle Arbeit.
- Führen Sie Teamgespräche über digitale Medien.
- Überdenken Sie Ihre Raumgestaltung, planen Sie Neues, nutzen Sie die Zeit für Bestellungen und andere Dinge, denen Sie sich schon lange widmen wollten, aber die Zeit dafür im Alltagstrubel nicht finden konnten.
- Schreiben Sie Beobachtungen, arbeiten Sie an Bildungsdokumentationen, pflegen Sie die Portfolios der Kinder.
- Nutzen Sie digitale Weiterbildungen.
Fußnoten
1 Zum Thema Eingewöhnung siehe meinen Text: Die Bedeutung des Wahrnehmenden Beobachtens in einem partizipatorischen Eingewöhnungsmodell.
2 Siehe Positionspapier der Vorsitzenden der Kommission Pädagogik der frühen Kindheit in der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGfE) „Kindertageseinrichtungen – keine Orte der Notbetreuung“
3 Einige der hier vorgestellten Ideen sind im Austausch mit Praxiseinrichtungen entstanden, die großartige Arbeit leisten. An dieser Stelle gilt mein herzlicher Dank dem alternativen Wohlfahrtsverband SOAL in Hamburg für das Teilen seiner Ideen.
Quelle
eingestellt am 28. April 2020