Was macht eine gute Kinderkrippe aus?

Interview mit Frau Prof. Dr. Fabienne Becker-Stoll

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Rund 500.000 zusätzliche Plätze für unter Dreijährige will Familienministerin Ursula von der Leyen schaffen. Nun wird darüber debattiert, wer den Ausbau des Betreuungssystems wie finanzieren soll. Doch genauso wichtig ist die Diskussion um die Qualität der zukünftigen Einrichtungen. Dazu die Bindungsforscherin Dr. Fabienne Becker-Stoll, Leiterin des Staatsinstituts für Frühpädagogik (ifp), München.

Was halten Sie als Wissenschaftlerin von der Diskussion um den Ausbau der Krippenplätze?

Es freut mich, dass die Politik das Thema im großen Stil angesprochen und zu einem aktuellen Thema gemacht hat. Als Wissenschaftlerin sehe ich natürlich meine Aufgabe darin, die Diskussion inhaltlich zu unterfüttern, denn die Bilder, die in vielen Köpfen über Krippen herumspuken, haben mit guten, modernen Krippen nichts zu tun.

Wie sieht denn eine gute, moderne Krippe aus?

Neben geeigneten Räumlichkeiten, zum Beispiel mit Ruheräumen und mit Zugang zu einer Freifläche, und der entsprechenden Ausstattung brauchen wir vor allem hochqualifizierte Kräfte und einen Betreuungsschlüssel, der bei drei bis vier Kindern pro Fachkraft liegt. Wir brauchen stabile Gruppen und wir brauchen Assistenzkräfte mit einer pädagogischen Grundausbildung, die den Fachkräften den Rücken frei halten für die Zuwendung zum Kind. Das alles ist teuer, aber hier zu sparen, wäre fahrlässig.

Woran erkennen Eltern eine gute Erzieherin oder einen guten Erzieher?

Eine feinfühlige, unmittelbar auf die Signale des Kindes eingehende Person ist das absolut Wichtigste. Von ihrer Fähigkeit, eine gute emotionale Beziehung zum Kind aufzubauen, hängt das Wohlergehen des Kindes in der Einrichtung ab. Sie muss aber ebenso in der Lage sein, zu den Eltern eine tragfähige Partnerschaft aufbauen zu können. Ohne die Zusammenarbeit mit den Eltern geht es nicht.

Was können Eltern und Erzieherin tun, um dem Kind den Übergang von zu Hause in die Einrichtung zu erleichtern?

Ganz wichtig ist eine lange, sensible Eingewöhnungszeit. Dafür sollte man sich ruhig einen Monat Zeit nehmen und diese Wochen sollten zusammen mit den Eltern gut geplant sein. Es geht darum, die neue, fremde Umgebung für das Kind zu einer vertrauten Umgebung mit vertrauten Menschen zu machen. Das ist zum Beispiel dafür wichtig, damit sich das Kind, wenn es nach der Eingewöhnungszeit dort ohne Eltern bleibt, von der Bezugsperson in der Einrichtung auch trösten lassen kann.

Stichwort neue Bezugsperson: An wie viele Personen kann sich ein Kind binden?

Im ersten Lebensjahr entwickeln Kinder eine oder einige wenige Bindungsbeziehungen zu den Personen, die die sich am meisten um sie kümmern, üblicherweise sind dies Mutter und Vater. Andere Personen, die sich intensiv und regelmäßig um das Kind kümmern, können hinzukommen. Allerdings ist eine Hierarchie der Beziehung zu beobachten, die biologisch angelegt ist. Es gibt also eine erste, zweite oder dritte Bezugsperson. Zum Ende des ersten Lebensjahres hat sich die Bindung des Kindes soweit entwickelt, dass unterschiedliche Bindungsqualitäten unterschieden werden können. Damit das Kind seinen Bezugspersonen gegenüber sichere Bindungsbeziehungen entwickeln kann, ist es notwendig, dass diese sich ihm gegenüber feinfühlig verhalten.

Viele Eltern befürchten, Krippen seien reine Aufbewahrungsstätten. Sind diese Ängste berechtigt?

Wenn die Qualität nicht stimmt, sind diese Ängste durchaus berechtigt. Treffen Eltern und Kinder jedoch auf einfühlsame und qualifizierte Personen in einer gut geführten Kindertagesstätte, gibt es keinen Grund zur Sorge. Die Langzeitstudien meiner Kollegin Lieselotte Ahnert haben ergeben, dass eine gute Qualität der Mutter-Kind-Bindung unabhängig davon ist, ob sich das Kind zu Hause oder in einer Einrichtung aufhält.

Wegen der individuellen Zuwendung zum Kind und wegen der kleinen Gruppen favorisieren viele Eltern für die frühkindliche Betreuung Tagesmütter. Aus Ihrer Sicht eine gute Alternative?

Auch hier kommt es natürlich auf die Qualität der Tagesmutter an. Eltern sollten aber auch bedenken, dass Kinder mit zunehmenden Lebensmonaten komplexere Bildungsbedürfnisse haben, die Tagesmütter, wenn sie zum Beispiel nebenbei ihren eigenen Haushalt versorgen, nur schwer befriedigen können. Bei der Qualifizierung von Tagesmüttern haben wir einen großen Nachholbedarf.

Stichwort Qualifikation: Sollten Erzieherinnen und Erzieher an einer Hochschule ausgebildet werden?

Ein Hochschulabschluss in Frühpädagogik wäre aus mehreren Gründen sinnvoll. Zum einen würden wir so auch junge Männer für den Beruf interessieren und männliche Erzieher brauchen wir unbedingt. Zum anderen müssen wir die frühkindliche Pädagogik auf ein europäisches Niveau anheben, um die deutlichen Bildungsdefizite abbauen zu können. Und außerdem haben es die Erzieherinnen heute mit einer steigenden Zahl sehr interessierter und pädagogisch informierter Eltern zu tun, mit denen sich aber manche nur unzulänglich auseinandersetzen können.

Befürworter des Ausbaus von Krippenplätzen führen die Bedeutung anderer Kinder für das Aufwachsen von Kindern als Argument an. Was sagt die Wissenschaft dazu?

Dem ist unbedingt zuzustimmen. Wir beobachten, dass schon die Kleinsten an anderen Kindern höchst interessiert sind. Das zeigt sich zum Beispiel durch die Blickrichtung, das Drehen des Kopfes und später durch das aufeinander zu krabbeln. Soziale Kompetenz lernt man nun einmal in der Gruppe und am besten von Anfang an. Aber auch hier gilt, dass die Dynamik selbst in einer kleinen Gruppe professionell moderiert sein muss, um den Charakteren und Wesensmerkmalen der Kinder entsprechen zu können.

Seit PISA sind wir auch für die frühkindlichen Bildungssysteme in anderen Ländern sensibilisiert. Gibt es einen Zusammenhang zwischen den guten Ergebnissen in Skandinavien und der frühen Familien ergänzenden Erziehung dort?

Ja, ganz eindeutig, und zwar durch die frühe Sprachkompetenz. Es geht ja nicht nur darum, sich in der Umgangssprache verständlich machen zu können. Wir entwickeln über Sprache auch Schrift- und Lesekompetenz, eine unbedingte Voraussetzung für Bildungserfolg. Reime, Lieder, frühes Vorlesen, und was man so alles mit den Kleinsten macht, wirken in einer entspannten und empathischen Umgebung mit anderen Kindern anregend. So entstehen Lernfreude und Neugier. Hiermit kann unsere Gesellschaft gar nicht früh genug anfangen.

Nun könnte man einwenden, wenn Eltern singen und vorlesen, dann brauchen deren Kinder vor dem Kindergarten keine öffentliche Einrichtung…

Nach meinen Vorstellungen sind Erzieherinnen so qualifiziert, dass sie sowohl fördern als auch kompensieren. Das heißt, Kinder aus einem anregungsreichen Elternhaus bekommen zusätzliche Impulse für ihre Entwicklung. Kinder aus bildungsfernen Elternhäusern erfahren Anregungen, die sie von zu Hause nicht kennen. Alle Kinder haben Kompetenzen und können sie in gegenseitiger Wertschätzung füreinander entwickeln. Eltern können vieles, sie sind aber in der Regel keine frühkindlichen Pädagogen. Trotzdem gilt: Wir können Kinder nicht an den Eltern vorbei bilden. Wir brauchen deren Mitarbeit.

Das Interview führte Inge Michels, Journalistin, Bonn.

Quelle

Familienpolitische Informationen der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Familienfragen e. V. (eaf), Nr. 3, Juni 2007, S. 6 – 7

Fachbuchempfehlung

Becker-Stoll, F., Niesel R., Wertfein, M. (2014). Handbuch Kinderkrippe. So gelingt Qualität in der Tagesbetreuung. Freiburg im Breisgau: Herder.

Weitere Beiträge der Autorin hier in unserem Familienhandbuch

Autorin

Prof. Dr. Fabienne Becker-Stoll, Dipl.-Psychologin, seit 2006 Leiterin des Staatsinstitutes für Frühpädagogik (IFP). Studium der Psychologie und Pädagogik an der Universität Regensburg. Promotion 1997 bei Klaus Grossmann im Bereich der Bindungsforschung. Anschließend wissenschaftliche Mitarbeit am Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München. 2005 Habilitation an der Ludwig-Maximilians-Universität München, seit 2012 APL Professur an der LMU München. Forschungsschwerpunkte: Bindungsentwicklung von der Kindheit bis zum Jugendalter, frühkindliche Bildungsprozesse, Qualitätsbedingungen frühkindlicher Bildung, Erziehung und Betreuung

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Erstellt am 20. Juli 2007, zuletzt geändert am 17. Juli 2015