Gute Schulleistungen – und schon ein “Streber”?

Prof. Dr. Klaus Boehnke & Nora Nixdorf
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Streber gibt es nicht, sie werden von ihren Mitschüler*innen, ihren Eltern, ihren Lehrer*innen und nicht zuletzt auch der Kultur, in der sie leben, dazu gemacht.

Eine Anekdote

Eine deutsche Familie hält sich für ein halbes Jahr in Kanada auf. Die jugendlichen Kinder (ein Junge, Klasse 10, ein Mädchen, Klasse 6) gehen in die kanadische Schule. Eines Tages kommt der Sohn nach Hause und erzählt, dass die Schüler am besagten Tag einen Aufsatz über ihre Eindrücke von Kanada einreichen mussten, und da hätten doch viele Mitschüler das Deckblatt bunt ausgemalt, hätten alles mit dem Computer erstellt und sich total viel Mühe gegeben, ohne dass es hierzu Anweisungen gegeben hätte. Er habe nur handschriftlich versucht, seine Eindrücke zusammenzufassen und auch kein richtiges Deckblatt gehabt. Fazit: Da muss ich mich beim nächsten Mal irgendwie mehr reinhängen. Dann nach einem halben Jahr Rückkehr nach Deutschland. Derselbe Sohn hat im Musikunterricht seiner deutschen Schule ein Referat über Bob Marley zu halten. Angebot des Vaters: Du, da habe ich noch Material über Jamaika von meiner Reise dorthin vor 17 Jahren, das könntest Du vielleicht mitnehmen. Antwort des Sohnes: Papa, ich bin doch kein Streber…

Leistung oder Freundschaft, das ist hier die Frage

Wie kommt es zu diesem Einstellungsunterschied? Was macht Schüler*innen in Deutschland so anfällig für den Strebervorwurf? Anscheinend ist es in unserem Land unter Schüler*innen verpönt, besonders gute Leistungen zu zeigen. Insbesondere zwischen dem Eintritt in die weiterführende Schule und dem Beginn der gymnasialen Oberstufe traktieren sich deutsche Schüler*innen untereinander mit dem Vorwurf des Strebertums. Immerhin etwa ein Viertel aller deutschen Mittelstufenschüler*innen sieht sich zumindest manchmal mit diesem Vorwurf konfrontiert. Zwar trifft der Vorwurf eine Minderheit, vorgebracht wird er aber von vielen. Über 80% aller deutschen Mittelstufenschüler*innen benutzen diesen Vorwurf gegenüber Mitschüler*innen zumindest gelegentlich. Es liegt nahe zu vermuten, dass die Mehrheit der nicht so guten Schüler*innen den Strebervorwurf gegen die Minderheit der guten Schüler*innen einsetzt, um diese zur Raison zu bringen, ihnen zu zeigen, dass gute Leistungen nicht zum Ansehen bei Mitschüler*innen beitragen und Freundschaftsbeziehungen stören. Und dieses Bestreben zeigt Wirkung: Etwa ein Drittel derjenigen, die schon als Streber tituliert worden sind, verspüren regelrecht Angst davor, von anderen Schüler*innen so genannt zu werden.

Deutsche Schüler*innen auf der Leistungsbremse?

Diese Angst könnte auch weitergehend Wirkung zeigen. Deutsche Schüler*innen haben in den internationalen Leistungsvergleichen in den letzten Jahrzehnten miserabel bis mittelmäßig abgeschnitten. Zuerst zeigte die zweite Internationale Vergleichsstudie Mathematik und Naturwissenschaften, die so genannte TIMS-Studie, dass Kenntnisse und Fähigkeiten deutscher Schüler*innen in Mathematik und Naturwissenschaften sowohl in der Mittelstufe als auch in der Oberstufe bestenfalls im internationalen Durchschnitt liegen und dass auch deutsche Gymnasiasten kaum das Niveau erreichen, das in manchen anderen Ländern, etwa Singapur, den Gesamtdurchschnitt aller Schüler*innen darstellt. Dann kam 2000 der PISA-Schock: Deutsche Mittelstufenschüler*innen zeigten sowohl in Mathematik als auch im muttersprachlichen Unterricht (Lesen) Kenntnisse und Fähigkeiten, die gerade noch im unteren Drittel vergleichbarer Länder lagen. In aktuellen PISA-Studien belegt Deutschland nun das obere Mittelfeld. Dennoch, während sich die deutschen Schüler zwischenzeitlich im Lesen stark verbessert hatten, liegen die Ergebnisse nun wieder etwa auf dem Niveau von 2009.

Nun sind diese schlechten Leistungen sicher keineswegs allein oder auch nur vorrangig damit zu erklären, dass deutsche Schüler*innen von ihren Klassenkamerad*innen sozial ausgegrenzt werden, wenn sie gute Leistungen bringen, und deshalb vielleicht selbst auf die Leistungsbremse treten, um bei Mitschüler*innen besser angesehen zu sein. Hier spielen andere Dinge, wie die starke soziale Schichtung, das Einkommen und der Bildungshintergrund der Eltern und sicher auch ein Unterricht, der nicht häufig genug darauf ausgerichtet ist, Spaß am Lernen zu wecken, eine größere Rolle. Es bleibt aber der Eindruck, dass gute Leistungen und womöglich gar Spaß an guten Leistungen bei deutschen Schüler*innen nicht besonders hoch im Kurs stehen, dass gute Leistungen sich sozial nicht lohnen, sondern zu Ausgrenzungen führen.

Dass Streber etwas Verabscheuungswürdiges sind, gehört zum Allgemeingut der deutschen Schule, ja der deutschen Kultur insgesamt, jeder meint aus seinem eigenen Schulalltag welche zu kennen. Selbst diejenigen, die selbst als Streber tituliert wurden oder werden, können meist andere benennen, die die wahren Streber waren oder sind. Die meisten Deutschen haben eine volle Charakterstudie parat, wenn sie gefragt werden, wie ein Streber denn sei. Es besteht anscheinend ein umfassender Konsens, dass das Streben nach guten Leistungen nur mit Charakterverformungen zu erreichen ist. Bevor wir diese Grundeinstellung hinterfragen, gilt es zunächst zu klären, ob die allseits berichteten Eindrücke mit der Wirklichkeit an deutschen Schulen überhaupt übereinstimmen. Ist es wirklich so, dass deutsche Schüler*innen mehr Ängste haben, von ihren Mitschülern ob guter Leistungen sozial ausgegrenzt zu werden als zum Beispiel kanadische Schüler*innen? Und lässt sich darüber hinaus wirklich belegen, dass die “Streberängste” mit Schulleistungen in Zusammenhang stehen? Darf man wirklich vermuten, dass deutsche Schüler*innen eher bereit sind, ihre ´wahren´ Leistungen zurückzunehmen als kanadische Altersgenoss*innen, um dem Strebervorwurf zu entgehen?

Eine deutsch-kanadische Vergleichsstudie

Eine in Deutschland und Kanada durchgeführte Studie gibt Anlass, diese Frage zu bejahen. Insgesamt wurden 641 14-jährige deutsche und 605 ebenso alte kanadische Schüler*innen befragt.

Zunächst ein Blick auf die kanadischen Vergleichsdaten zu der oben bereits angesprochenen Häufigkeit, mit der Schüler einander mit dem Strebervorwurf traktieren: In Kanada sehen sich etwa 15% der Schüler zumindest manchmal mit diesem Vorwurf konfrontiert. Der Vorwurf trifft in Kanada also eine etwas kleinere Minderheit als in Deutschland, die Unterschiede scheinen auf den ersten Blick allerdings nicht allzu groß. Wesentlich größer ist der Unterschied in der Anzahl der Schüler*innen, die selbst mit dem Strebervorwurf arbeiten. Waren es in Deutschland nur 19 % aller Schüler*innen, die ihre Mitschüler*innen nie mit dem Strebervorwurf belegen, so sind dies in Kanada genau doppelt so viele, nämlich 38 %.

Dieses Ergebnis macht deutlich, dass es die vorab vermuten Unterschiede zwischen deutschen und kanadischen Schüler*innen tatsächlich in der erwarteten Weise gibt. Allerdings ist festzuhalten, dass das Phänomen der sozialen Ausgrenzung in Form des Strebervorwurfs auch in Kanada existiert. Man tituliert sie dort als ´nerd´, oder auch als ´geek´.

Wenn also in einem ersten Vergleich zwischen Deutschland und Kanada die erwarteten Befunde zu Tage treten (deutsche Schüler*innen arbeiten stärker mit dem Strebervorwurf als ihre kanadischen Altersgenoss*innen), diese aber weniger deutlich ausfallen als zu vermuten war, so stellt sich die Frage, wie es denn mit den Folgen des Strebervorwurfs bei den betroffenen Schüler*innen aussieht. Hat die Angst vor dem Strebervorwurf in Deutschland und Kanada überhaupt etwas mit der Schulleistung zu tun? Schüler*innen titulieren einander häufig mit Schimpf jedweder Art. Deswegen wird man noch nicht vermuten, dies wirke sich irgendwie auf ihre Leistung aus. Beim Strebervorwurf aber ist dies in der Tat der Fall, jedoch nahezu ausschließlich in Deutschland.
Zwei Drittel der deutschen Einser-Schüler*innen berichten von zumindest gelegentlicher Angst vor dem Strebervorwurf. In Kanada hat die Mehrheit der besten Schüler*innen nie Angst davor, als ´nerd´ oder ´teacher`s pet´ (Lehrers Liebling) tituliert zu werden.

Anders als in Deutschland wird in Kanada nicht gute Leistung diffamiert, sondern – wie weitergehende Analysen zeigen – allenfalls erwartungswidrige Leistungen, nach dem Motto, wer schlecht in der Schule ist, kann gelegentliche gute Leistungen eigentlich nur durch Unredlichkeit (“Einschleimen”) erreicht haben. Auch kanadische Schüler*innen haben durchaus Angst vor dem Strebervorwurf. Anders als in Deutschland trifft es aber nicht die wirklich guten Schüler*innen. Die machen sich ausschließlich in Deutschland besondere Sorgen, sozial ausgegrenzt zu werden.

Auch Vergleichsstudien zwischen den USA und Deutschland zum Thema Mobbing gegenüber Strebern kommen zu ähnlichen Ergebnissen. Zudem werden Schüler*innen mit sehr guten Schulleistungen in den USA von ihren Mitschüler*innen sogar oftmals als „leaders“ betrachtet und erhalten Komplimente von ihren Mitschüler*innen für die erbrachte Leistung.

Fazit der deutsch-kanadischen Vergleichsstudie zum Thema ´Strebervorwurf´: In Deutschland operieren Schüler*innen gegenüber Mitschüler*innen häufiger als in Kanada zwecks sozialer Ausgrenzung mit dem Strebervorwurf. In Kanada wird dieser Vorwurf unter Mittelstufenschüler*innen durchaus auch gebraucht, auch kanadische Schüler*innen haben davor Angst. Anders als in Deutschland hat der Vorwurf in Kanada allerdings sehr wenig mit guter Leistung zu tun. Eine gezielte Abwertung guter Schulleistungen gibt es – im Vergleich mit Nordamerika – offenbar nur in Deutschland.

Einspruch, wird man hören, es gibt sie doch, die Kofferträger, die servil unterwürfigen “schleimigen” Charaktere. Ja schon, lautet die Antwort, aber nur in Deutschland werden als solche – zumindest im Vergleich zu Nordamerika – besonders viele hoch leistungsfähige Schüler*innen identifiziert. Das kann kein Zufall sein.

Es lässt sich jedoch vermuten, dass gute Schulleistungen auch in Deutschland in den letzten Jahren mehr Akzeptanz finden. In einer Studie von Fraij et. al. (2015) wurden über 400 Schüler*innen zwischen 13 und 18 Jahren befragt. Während 2001 noch 81,5% angaben, Sie hätten nichts gegen gute Noten, gaben 2012 92,8% an, dass Sie gute Noten zu bekommen sogar gut finden. Dies gibt Anlass zur Vermutung, dass eine gewisse epochale Veränderung in Werteorientierungen und Einstellung gegenüber Mitschüler*innen geben könnte, die gute Noten bekommen, was auch die Häufigkeit des Vorwurfs von Strebertum beeinflussen könnte. Doch trotz positiver Tendenzen, scheint die Grundhaltung tief im Allgemeingut des deutschen Schulsystems verankert.

Wo liegen die Ursachen?

Was also kann die deutsche Schule gegen diese kulturelle Gewordenheit tun? Auch hier bietet die berichtete Studie einen ersten Hinweis. Einen Anhaltspunkt liefert der Vergleich der deutschen mit der kanadischen Notenvergabepraxis. Dazu ein Blick auf die nachfolgende Abbildung.

Graphik Gute Schulleistungen

Die Abbildung macht deutlich, dass in Kanada sehr viel häufiger sehr gute Mathematiknoten vergeben werden. Zwischenbemerkung: Dies ist bei gleichen, wenn nicht in den hier untersuchten Stichproben in Kanada sogar schlechteren objektiven Leistungen der Fall; in den ebenfalls gestellten Mathematikaufgaben schneiden die befragten deutschen Schüler etwas besser ab. Der Eindruck einer deutlich häufigeren Vergabe sehr guter Noten hat auch dann Bestand, wenn man einwirft, ein kanadisches A- (kanadische Noten werden in Prozenten vergeben, mit 100 % als optimaler Leistung, lassen sich aber in klassische Noten von A bis E umrechnen) sei eben in Deutschland keine 1 mehr: Selbst wenn man aus den kanadischen Einsen (As) ein Drittel der Schüler*innen ausklammert, sind es in Kanada immer noch 20 % der Schüler*innen, denen sehr gute Leistungen attestiert werden, in Deutschland hingegen gut 2 %. Was für Folgen hat die unterschiedliche Notenvergabepraxis? In Kanada ist es sehr viel weiter verbreitet, dass Schüler*innen jedenfalls gelegentlich eine sehr gute Leistung attestiert bekommen. In Deutschland gehen Hunderttausende von Schüler*innen durch die Schule, ohne jemals ein ´sehr gut´ bekommen zu haben. Das macht es natürlich leichter, sehr gute Schüler*innen – es sind ja nur sehr wenige – als Streber abzuqualifizieren. Hätte man selbst auch mal ein ´sehr gut´ bekommen, wäre es vermutlich schwieriger, jemanden wegen hervorragender Leistungen sozial auszugrenzen. Vielleicht ist es so, dass Noten in Deutschland nach wie vor zu sehr als Disziplinierungsinstrument genutzt werden und nicht als Ansporn, als Hilfsmittel, Schüler*innen zu vermitteln, dass Lernen und Leistung Spaß macht.

Was tun?

Wie sind nun die vorgetragenen Befunde gesellschafts- und bildungspolitisch zu bewerten? Was muss sich ändern? Wer hat Schuld? Zu letzterer Frage hört man in Diskussionen zum Thema regelmäßig einen ´Schnellschuss´: Die “68er” waren´s. Die Studentenbewegung mit ihrer Kritik am Leistungsgedanken und an Eliten wird ohne viel Federlesens für das schlechte Ansehen von Leistung bei deutschen Schüler*innen verantwortlich gemacht. Vor dem Hintergrund der berichteten Forschung macht dieser Vorwurf wenig Sinn. Man bedenke, dass die hier vorgelegten deutschen Daten aus Sachsen stammen, und zwar von Kindern, die etwa 1986 in Karl-Marx-Stadt geboren wurden. Der Einfluss eines von der bundesdeutschen Studentenbewegung erzeugten Meinungsklimas auf diese Schüler dürfte herzlich gering sein.

Fast möchte man sagen, dass umgekehrt ein Schuh daraus wird: Die ideologischen Festschreibungen der bundesdeutschen Studentenbewegung waren in sich selbst bereits sehr deutsch. Während man anderenorts daran arbeitete, alternative Eliten aufzubauen, schüttete die Mehrheitsströmung der bundesdeutschen Studentenbewegung das Kind Leistung und Elite ohne Umschweife mit dem Bade aus. Doch warum ist Leistung als solche in Deutschland sozial so unbeliebt? Man kann hierüber natürlich nur spekulieren; die vorgelegten Daten geben dazu kaum Hinweise. Einige Überlegungen scheinen allerdings durchaus plausibel. Durch Leistung ragt man aus der Masse der anderen heraus. Dies war in Deutschland spätestens seit dem Erstarken Preußens nicht beliebt. Hoch im Kurs stand der loyale Untertan. Dies galt auch für die ´roten Preußen´ der DDR.

Es verwundert nicht, wenn man in etymologischen Wörterbüchern liest, dass der Begriff ´Streber´ bis in das 16. Jahrhundert zurückverfolgt werden kann, zunächst nur für den ´Widersacher´ stand, im 18. Jahrhundert dann aber den karrieresüchtigen Beamten bezeichnete. Der Strebervorwurf lässt sich womöglich als Ausdruck von „Neid “ der unteren Schichten gegenüber der Beamtenschaft interpretieren. Diese gehörten damals als einzige Berufsgruppe, zusammen mit der Aristokratie und Monarchie, zur herrschenden Schicht. Erst von dort fand der Begriff Eingang zunächst in die Sprache von Studierenden und später von Schüler*innen. Man hatte im preußischen Beamtenstaat nicht herauszuragen, sondern man hat das zu tun, was von einem verlangt wird. Das Mitläufertum war die Norm und ist, Studentenbewegung hin, Modernisierung her, wohl immer noch die unter deutschen Schüler*innen erwünschte Geisteshaltung. Es geht um die Ausgrenzung von Eliten. Und wohl nicht nur an der Schule. Eine Repräsentativerhebung von Arant et al. (2019) zeigte jüngst, dass Eliten in Deutschland deutlich mehr von Ausgrenzung betroffen sind als andere Gruppen, für die Ausgrenzung ein Thema ist, wie etwa Arme, Mitglieder der LGBTQ* Community, ethnische Minderheiten oder Menschen mit Behinderung.

In Nordamerika gab es diese Tradition nie. Mit all seinen auch negativen Konsequenzen (s. Trump) galt: Der Pionier, der sich gegen widrige Umweltbedingungen gegebenenfalls rücksichtslos durchsetzt und damit auch noch gottgefällig ist, steht seit der europäischen Besiedelung des nordamerikanischen Kontinents dort hoch im Kurs. Europäische Außenseiter hatten einen bestimmenden Einfluss auf die Formierung nordamerikanischer Gesellschaften, Menschen also, die in irgendeiner Weise aus ihrer Umgebung herausragten.

Was kann in Bildungspolitik, Pädagogik und Lehrerausbildung nun getan werden, um der deutschen Malaise Herr zu werden? Kann etwas getan werden? Ein Klima mit mehrhundertjähriger Tradition umzudrehen, ist gewiss kein leichtes Unterfangen. Es geht keineswegs darum, von unseren Schüler*innen einfach mehr Leistung zu fordern, den Leistungsdruck zu erhöhen, ein neoliberales Jeder-gegen-jeden in der Schule zu fördern, in dem Glauben, dieses mache fit für den globalisierten Arbeitsmarkt. Das Gegenteil ist der Fall. Deutsche Schüler*innen müssen lernen, dass Leistung allen Spaß machen kann.

Ein alltagsnaher Ansatzpunkt, dies zu vermitteln, wurde oben bereits aufgezeigt. Lehrer*innen müssen lernen, Noten in Zukunft stärker als Belohnungs- denn als Disziplinierungs- und Bestrafungsinstrument zu benutzen: ´Jedem Schüler und jeder Schülerin eine Eins´, muss das Motto lauten. Ein wohlfeiler Rat aus dem Elfenbeinturm? Mitnichten! Jede Schülerin und jeder Schüler gibt auch richtige Antworten. Je kleinteiliger man Leistung bewertet, desto leichter fällt es, Teilleistungen als perfekt zu beurteilen und je häufiger Schüler*innen sehr gute Leistungen attestiert bekommen, desto mehr dürfte sich ihnen der Eindruck vermitteln, dass Leistung Spaß macht. Gleichzeitig wird die Erfahrung, eine sehr gute Leistung attestiert bekommen zu haben, es ihnen – nach dem Motto ´Wer im Glashaus sitzt…´ – schwerer machen, andere, die ebenfalls sehr gute Leistungen attestiert bekommen, (weiter) als Streber zu diffamieren. Zugegeben ein sehr kleinteiliger Vorschlag, aber Umsteuern gegen einen jahrhundertealten Trend kommt vermutlich nur nach dem Prinzip ´Steter Tropfen höhlt den Stein´ voran. Und eine Veränderung der Notenvergabepraxis an deutschen Schulen könnte – wenn man die Forschungsergebnisse aus dem deutsch-kanadischen Vergleich für die Formulierung bildungspolitischer Vorschläge heranzieht – ein solcher Tropfen sein.

Streber werden von ihrer Umgebung zu dem gemacht, was sie dann vielleicht später auch darstellen. Nicht ´mehr Streber´ zu haben, ist wünschenswert, sondern mehr Spaß an guter Leistung. Nicht das neo-liberale ´Leistung muss sich wieder lohnen´ vertreibt die latent leistungsfeindliche Mentalität unter deutschen Mittelstufenschüler*innen, sondern die Überzeugung, dass Leistung allen Schüler*innen Spaß machen kann.

Literatur zum Thema ‚Streber‘

  • Arant, R., Dragolov, G. Gernig, B. & Boehnke, K. (2019). Zusammenhalt in Vielfalt – Das Vielfaltsbarometer 2019 der Robert Bosch Stiftung. Stuttgart: Robert Bosch Stiftung GmbH.
  • Boehnke, K. (2003). Plädoyer für eine Kultur des Lobens. In Die Hessische Landesregierung (Hg.), Von nix kommt nix, oder: Brauchen wir eine neue Kultur der Anstrengung? (S. 59). Wiesbaden: Hessische Staatskanzlei.
  • Boehnke, K., Pelkner, A. K., & Kurman, J. (2004). On the interrelation of peer climate and school performance in mathematics: A German-Canadian-Israeli comparison of 14-year-old school students. In B.N. Setiadi, A. Supratiknya, W. Lonner & Y.P. Poortinga (Eds.), Ongoing themes in psychology and culture (pp. 415-432). Yogyakarta: IACCP.
  • Boehnke, K. (2004). Werden unsere Kinder wie wir? Intergenerationale Wertetransmission und gesellschaftlicher Wertewandel – zwei unverbundene soziologische Konzepte. In D. Hoffmann & H. Merkens (Hg.), Jugendsoziologische Sozialisationstheorie – Impulse für die Jugendforschung (S. 109-127). Weinheim: Juventa.
  • Fraij, A., Maschke, S., & Stecher, L. (2015). Die Scholarisierung der Jugendphase – ein Zeitvergleich, Diskurs Kindheits- und Jugendforschung, 2, 167-182.
  • Gaida, C. (2011). Mobbing gegen Streber: Streber-Mobbing in Deutschland und den USA. Marburg: Tectum.
  • Pelkner, A. K., & Boehnke, K. (2003). Streber als Leistungsverweigerer? Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 6(1), 106-125.
  • Pelkner, A-K., Günther, R. & Boehnke, K. (2002). Die Angst vor sozialer Ausgrenzung als leistungshemmender Faktor: Zum Stellenwert guter mathematischer Schulleistungen unter Gleichaltrigen. Zeitschrift für Pädagogik, 45. Beiheft, 326-340.

Quelle

Der Text basiert in Teilen auf einer unter dem Titel “Du Streber!” in der Zeitschrift Psychologie heute, Jg. 31, Heft 2, S. 34-37 veröffentlichten Beitrag.

Autor*innen

Klaus Boehnke, geb. 1951, Dr. phil., Dipl.-Psych., Professor für Social Science Methodology an der Jacobs University Bremen, Forschungsschwerpunkte in der sozialwissenschaftlichen Jugendforschung und deren Methoden, von 1993-2002 Professor für Sozialisationsforschung und Empirische Sozialforschung am Institut für Soziologie der TU Chemnitz, seit 2002 an der Jacobs University Bremen, von 2007-2017 Vice Dean der in der Exzelleninitiative geförderten Bremen International Graduate School of Social Sciences (BIGSSS), seit 2017 auch stellvertretender Leiter des Center for Sociocultural Research an der Higher School of Economics ins Moskau, 500 Buch- und Zeitschriftenpublikationen zum Forschungsschwerpunkt und angrenzenden Themen.

Nora Nixdorf, geb. 1993, MSc Psychologie, BA International Relations, studentische Forschungsassistentin (2018-2020) am Department Psychology & Methods der Jacobs University Bremen, Forschungsinteressen im Bereich Sozialpsychologie und klinische Psychologie, mehrmonatiger Forschungsaufenthalt in Tansania in Kooperation mit der Leuphana Universität Lüneburg (2017).

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Zuerst erstellt am 6. Oktober 2004, zuletzt geändert am 18. Juni 2020

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