Für welche Kinder und Jugendliche kann Heimerziehung sinnvoll sein?

Prof. Dr. Richard Günder
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Heimerziehung und die sozialpädagogische Betreuung in sonstigen Wohnformen haben die Aufgabe, positive Lebensorte für Kinder und Jugendliche zu bilden, wenn diese vorübergehend, mittelfristig oder auf Dauer nicht in ihrer Familie leben können. Es handelt sich in der Regel um Familien, in denen sich die Kinder und Jugendlichen aufgrund der familiären oder anderer Lebensbedingungen momentan oder auf längere Sicht nicht ausreichend entwickeln können. Sehr oft sind erhebliche Erziehungsschwierigkeiten und Auffälligkeiten vorhanden, welche die Eltern vor kaum lösbare Probleme stellen. Manche Kinder oder Jugendliche kommen auch in Heime, weil zu Hause ihre Lebensbedingungen sehr ungünstig sind, weil sie beispielsweise misshandelt wurden.

Heimerziehung im Sozialgesetzbuch VIII (Kinder- und Jugendhilfegesetz)

Die Erziehung in Heimen oder in sonstigen betreuten Wohnformen ist in § 34 des Sozialgesetzbuches VIII (Kinder- und Jugendhilfegesetz – KJHG)) verankert:

  • „Hilfe zur Erziehung in einer Einrichtung über Tag und Nacht (Heimerziehung) oder in einer sonstigen betreuten Wohnform soll Kinder und Jugendliche durch eine Verbindung von Alltagserleben mit pädagogischen und therapeutischen Angeboten in ihrer Entwicklung fördern. Sie soll entsprechend dem Alter und Entwicklungsstand des Kindes oder des Jugendlichen sowie den Möglichkeiten der Verbesserung der Erziehungsbedingungen in der Herkunftsfamilie
  • 1. eine Rückkehr in die Familie zu erreichen versuchen oder
  • 2. die Erziehung in einer anderen Familie vorbereiten oder
  • 3. eine auf längere Zeit angelegte Lebensform bieten und auf ein selbständiges Leben vorbereiten.

Jugendliche sollen in Fragen der Ausbildung und Beschäftigung sowie der allgemeinen Lebensführung beraten und unterstützt werden.“

Wie sieht die heutige Heimerziehung aus?

Heimerziehung spielt sich heute in kleinen überschaubaren Gruppen ab. Etwa sieben bis zehn Kinder werden von durchschnittlich vier bis fünf pädagogischen Fachkräften betreut. Heimerziehung wird in sehr unterschiedlichen Formen praktiziert:

Kinderheime

Das Leben läuft in familienähnlichen Gruppen ab. Hier wird gekocht, gegessen, gespielt und gelernt. Die Kinder und Jugendlichen haben häufig ein Zimmer für sich alleine, manche teilen sich zu zweit ein Zimmer.

Außenwohngruppen und Wohngruppen

Viele Heime haben Außenwohngruppen gegründet. Fünf bis acht junge Menschen leben dann in einem Einfamilienhaus oder in größeren Etagenwohnungen zusammen. Sie werden dort von pädagogischen Fachkräften betreut. Es sind auch selbständige Wohngemeinschaften vorhanden, die ebenso wie die Außenwohngruppen im normalen Wohnumfeld integriert sind. Vor allem Jugendliche bevorzugen Außenwohngruppen oder Wohngruppen. Hier können sie auch lernen, sich zunehmend selbst zu versorgen.

Betreutes Wohnen

Das Betreute Wohnen kann als Betreuungsangebot für die folgenden Jugendlichen und jungen Volljährigen verwirklicht werden:

Für solche Jugendlichen und junge Volljährige, die bislang in einem Heim oder in einer Wohngruppe der Jugendhilfe lebten und dort bereits ein hohes Maß an Selbständigkeit und Eigenverantwortlichkeit unter Beweis stellen konnten. Diese jungen Menschen können sich nun in einer eigenen Wohnung, in der sie alleine oder mit anderen zusammenleben, weiter verselbständigen. Sie werden bei diesem Prozeß, vor allem in Fragen der Ausbildung und Lebensführung, durch sozialpädagogische Fachkräfte beraten und unterstützt.
Für Jugendliche und junge Volljährige, die in der Heimerziehung nicht zurechtkommen, weil sie nicht in der Gruppengemeinschaft leben wollen oder können und weil sie diese Form der Unterbringung total ablehnen. Für solche Menschen in zumeist sehr schwierigen Lebenssituationen bietet das Betreute Wohnen eine Alternative.

Wie kommt ein Kind in ein Heim?

Wenn ein Kind oder Jugendlicher in ein Heim oder in eine sonstige betreute Wohnform untergebracht werden soll, dann ist dieser Weg immer nur über das zuständige Jugendamt am Wohnort möglich. In vielen Fällen hatten die betroffenen Familien auch schon früher Kontakte mit dem Jugendamt. Bisweilen, wenn unmittelbare Gefahr droht, muss ein junger Mensch im Rahmen einer Inobhutnahme sehr schnell in einem Heim untergebracht werden.

Wie alle Hilfen zur Erziehung orientiert sich auch die Heimerziehung an der Lebenswelt des Kindes oder Jugendlichen. Es wird deshalb in der Regel eine ortsnahe Unterbringung realisiert. So können die bisherigen Lebensbezüge des Kindes zu seiner Familie und dem sonstigen sozialen Umfeld erhalten bleiben.

Was geschieht mit den Kindern und Jugendlichen in der Heimerziehung?

Die Gruppen sind in der Regel alters- und geschlechtsgemischt. Aspekte der Gruppenpädagogik sowie die Beachtung der Gruppendynamik spielen in der Alltagsgestaltung und innerhalb der Erziehung eine wichtige Rolle. In vielen Fällen hat sich das BezugserzieherInnensystem bewährt. Jeweils eine Erziehungsperson ist für einen bestimmten jungen Menschen in der Gruppe hauptverantwortlich zuständig.

Kinder und Jugendliche, die heute in den stationären Institutionen der Erziehungshilfe leben, weisen mehr oder weniger stark ausgeprägte Schwierigkeiten, Störungen, Auffälligkeiten und Abweichungen auf, die sich auf ihren Verhaltens- und Erlebensbereich erstrecken. Diese Schwierigkeiten resultieren in der Regel aus den besonderen Biographien der jungen Menschen. In zahlreichen Institutionen der Heimerziehung stehen spezielle TherapeutInnen, PsychologInnen und HeilpädagogInnen zur Verfügung. Je nach Spezialisierung und Schwerpunkt einer Institution sind beispielsweise die folgenden therapeutischen/ pädagogischen Angebote vorhanden:

  • Heilpädagogisches Turnen, Bewegungsübungen,
  • Verhaltenspädagogik, Verhaltenstherapie,
  • Kinderspieltherapie,
  • Sprachheilpädagogik,
  • heilpädagogisches Reiten,
  • erlebnispädagogische Elemente,
  • familientherapeutische Verfahren.

Neben dem Wohnen, der Unterstützung in Schule und Ausbildung sowie der Freizeitgestaltung bemüht sich die Erziehung in Heimen um die allgemeine Entwicklungsförderung der jungen Menschen. Bestehende Schwierigkeiten und Auffälligkeiten sollen so verringert, die Kinder und Jugendlichen sollen zukünftige Probleme besser meistern können. Die Förderung des Selbstbewusstseins, der adäquate Umgang mit Konflikten sowie die zunehmende Verselbständigung sind beispielsweise wichtige Ziele der Heimerziehung. Methodische Vorgehensweisen innerhalb der Heimerziehung bauen auf den Ressourcen der Betroffenen auf. Sie müssen Selbstdeutungsprozesse und eigene Lösungswege der jungen Menschen zulassen, fördern und berücksichtigen.

Eltern- und Familienarbeit in der Heimerziehung

Die Zusammenarbeit des Heimes mit den Familien von Heimkindern wird durch das und SGB VIII verbindlich vorgeschrieben. Sie wird primär begründet mit der anzustrebenden Rückkehr des Kindes oder Jugendlichen in die Herkunftsfamilie. Doch auch, wenn eine Rückkehr in die Herkunftsfamilie nicht realisiert werden kann, soll mit den beteiligten Eltern bzw. mit weiteren Angehörigen gemeinsam gearbeitet werden, vor allem, wenn es um wesentliche Entscheidungen und um die Lebensperspektive des jungen Menschen geht. Die Eltern- und Familienarbeit innerhalb der Heimerziehung wird dann effektiv, wenn Eltern und andere Familienangehörige planmäßig und kontinuierlich in den Heimalltag und das Erziehungsgeschehen integriert werden und Interessen für ihr Kind wahrzunehmen in der Lage sind.

Eltern- und Familienarbeit kann dazu beitragen, dass das Heimkind von seinem Herkunftsmilieu nicht entfremdet wird, wenn die pädagogischen und beratenden Handlungen sich an den Lebenswelten von Heimkindern und Eltern orientieren.

Was können Eltern tun, wenn sich ihr Kind im Heim befindet?

Die Eltern können und sollen den Heimaufenthalt ihres Kindes auf mannigfaltige Weise unterstützen. Da die meisten Eltern auch weiterhin das Sorgerecht haben, können sie auch weiterhin verantwortlich am Erziehungsgeschehen mitwirken. Dies beginnt schon bei der Hilfeplanung und bei der Erörterung, welches Heim in Frage kommen kann. Während des Heimaufenthaltes sollten die Eltern zu ihrem Kind kontinuierliche Kontakte unterhalten. In der Regel sind gegenseitige Besuche, je nach Ausgangslage auch mit Übernachtung, möglich. Weitere Kontaktmöglichkeiten sind Briefe, Telefonate, Teilnahme an Festen und Feiern und dergleichen. Mit den pädagogischen MitarbeiterInnen sollte ein permanenter Austausch gepflegt, in gemeinsamen Gesprächen anstehende Probleme und Entwicklungen erörtert werden. In den regelmäßig stattfindenden Hilfeplangesprächen können Eltern dann als kompetente Partner ihre Meinung einbringen und mitbestimmen, welche pädagogischen Schritte weiterhin zu unternehmen sind und wie lange die Heimerziehung noch fortgesetzt werden soll.

Partizipation

Im Gegensatz zum alten Jugendwohlfahrtsgesetz, in dem Jugendhilfemaßnahmen überwiegend als Eingriffsmaßnahmen galten, die mehr oder weniger „von oben“ angeordnet wurden, geht das SGB VIII von Leistungen aus, welche in partnerschaftlicher Kooperation mit den Betroffenen zu klären, abzuwägen und abzustimmen sind. Für die Betroffenenbeteiligung im Rahmen der Heimerziehung sind beispielsweise die folgenden Aspekte wesentlich: Nach § 5 SGB VIII haben die Leistungsberechtigten, in der Regel also die Eltern, ein Wunsch und Wahlrecht hinsichtlich der Einrichtungen und Dienste verschiedener Träger und bezüglich der Gestaltung der Hilfe. Auf dieses Recht müssen die Betroffenen ausdrücklich hingewiesen werden. In § 8 wird geregelt, dass Kinder und Jugendliche an allen sie betreffenden Entscheidungen der öffentlichen Jugendhilfe zu beteiligen sind

Nach § 36 sind die Personensorgeberechtigten und das Kind oder der Jugendliche vor der Entscheidung über die Inanspruchnahme einer Hilfe zu beraten, wobei auf mögliche Folgen für die Entwicklung des Kindes oder Jugendlichen hinzuweisen ist.

Wenn Hilfe für einen voraussichtlich längeren Zeitraum zu leisten ist, soll in Zusammenarbeit mit den Personensorgeberechtigten und im Zusammenwirken mehrerer Fachkräfte (also im Team) über die im Einzelfall angezeigte Hilfe entschieden werden. Dies gilt insbesondere bei Erziehungshilfen, die außerhalb der eigenen Familie stattfinden, so vor allem auch bei der Heimerziehung.

Wie lange dauert der Aufenthalt in der Heimerziehung?

Die Erziehungshilfe in einem Heim wird durchweg für mindestens ein Jahr gewährt, mit der Möglichkeit der Verlängerung. So verbleiben viele Kinder und Jugendliche für zwei oder auch drei Jahre in einem Heim oder in einer Wohngruppe, manche noch länger, möglicherweise bis zu ihrer Verselbständigung.

Die Kosten der Heimerziehung

Heimerziehung ist eine sehr kostenintensive Hilfe zur Erziehung. Heute kostet ein Platz für ein Kind durchschnittlich zwischen 3.500 – 4.500 EUR pro Monat. Die Eltern werden im Rahmen der Zumutbarkeit zu diesen Kosten herangezogen, wenn sie entsprechende Einkünfte oder Vermögen haben. Da viele Eltern in eher bescheidenen finanziellen Verhältnissen leben, können diese nicht zu den Unterbringungskosten herangezogen werden.

Welche Fachkräfte arbeiten in der Heimerziehung?

Innerhalb des Gruppendienstes arbeiten hauptsächlich ErzieherInnen. Daneben finden wir SozialpädagogInnen, SozialarbeiterInnen und HeilpädagogInnen. Diese Berufsgruppen arbeiten oft in gruppenübergreifenden Diensten oder in der Heimleitung. In vielen Heimen sind auch PsychologInnen (manchmal auf Honorarbasis) tätig.

Literatur

Günder, R.(2011): Praxis und Methoden der Heimerziehung. Lambertus-Verlag. 4. Aufl. Freiburg.

Autor

Prof. Dr. Richard Günder
Fachhochschule Dortmund
Fachbereich Sozialarbeit
Postfach 105018
44047 Dortmund

Tel.: 0231/7554988

Erstellt am 31. Mai 2001, zuletzt geändert am 10. Juni 2013