Hilfen zur Erziehung – was können sie für Kinder und Familien leisten?
Prof. Dr. Katja Nowacki
1. Einleitung
Woran denken Sie, wenn Sie das Wort „Jugendamt“ hören?
Das Bild von der reinen Eingriffsbehörde, die ohne Einwilligung Kinder aus Familien holt, dürfte noch immer weit verbreitet sein. Darüber hinaus sind die vielfältigen Möglichkeiten der Erziehungshilfen oft gar nicht ausreichend bekannt. Es könnte bei den Betroffenen die Sorge bestehen, dass ihre individuelle Situation nicht genügend berücksichtigt wird und sie damit keine angemessene Unterstützung bekommen. Dies kann dazu führen, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Jugendamtes nicht frühzeitig aufgesucht werden.
Was erwartet Sie in diesem Beitrag?
- Informationen zur rechtlichen Grundlage der Hilfen zur Erziehung nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz und einige Maßnahmen
- die Rechte und Möglichkeiten der Eltern sowie der Kinder und Jugendlichen, die Unterstützung benötigen
- Überlegungen zur Gestaltung von flexiblen, individuell angepassten Hilfen, die auch die Möglichkeiten der Betroffenen und ihres sozialen Umfeldes mit einbeziehen
- zwei Praxisbeispiele, die einen Einblick in die Möglichkeiten der praktischen Umsetzung flexibler Erziehungshilfen bieten
2. Möglichkeiten der Hilfe zur Erziehung
An wen können Sie sich bei Erziehungsschwierigkeiten wenden?
Wenn der private Austausch mit Verwandten oder Bekannten über Erziehungsprobleme nicht mehr ausreicht, können zum Beispiel auch Lehrerinnen und Lehrer oder Erzieherinnen und Erzieher des Kindergartens hilfreiche Hinweise zum Umgang mit schwierigen Erziehungssituationen geben. Ein weiteres, für die Betroffenen kostenloses Angebot finden Sie in Erziehungsberatungsstellen, die es in jeder Stadt gibt. Sie können sowohl von der Kommune selber als auch von freien Trägern im Auftrag der Stadt geführt werden. Die gesetzliche Grundlage dieser Einrichtungen ist das Kinder- und Jugendhilfegesetz (Abkürzung: KJHG), das im nächsten Abschnitt genauer erläutert wird.
Darüber hinaus bieten aber auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des örtlichen Jugendamtes Beratungen in schwierigen Situationen mit dem Kind, Jugendlichen oder Heranwachsenden an. Das Jugendamt versteht sich heute nicht mehr als eine Kontrollinstanz, sondern mehr als eine moderne Dienstleistungsbehörde. Vor allem die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Allgemeinen Sozialdienstes, auch „Bezirkssozialarbeit“ oder direkt „Bereich Hilfe zur Erziehung“ genannt, können mit den Betroffenen gemeinsam überlegen, welche Hilfestellungen für ihre Familie geeignet sind. Neben der direkten Beratung können hier auch weitere Hilfeformen zur Unterstützung und Ergänzung der Erziehung durch die Eltern angeboten werden, die im Folgenden genauer ausgeführt werden.
Welche gesetzlichen Grundlagen gibt es?
Die „Hilfe zur Erziehung“ im Sinne des § 27 des Kinder- und Jugendhilfegesetzes (KJHG) unterstützt die Personensorgeberechtigten, also in der Regel die Eltern, wenn „(…) eine dem Wohl des Kindes oder des Jugendlichen entsprechende Erziehung nicht gewährleistet (…)“ ist (Absatz 1). Das bedeutet in der Praxis, dass die Eltern einen Antrag auf Hilfe zur Erziehung beim Jugendamt stellen können, wenn sie den Eindruck haben, dass sie Unterstützung im Umgang mit ihrem Kind benötigen.
Dürfen Kinder und Jugendlichen auch selber eine Hilfe zur Erziehung beantragen?
Ja! Kinder und Jugendliche können sich auch direkt an das Jugendamt wenden, wenn sie das Gefühl haben, dass die Schwierigkeiten zu Hause nicht mehr direkt mit den Eltern gelöst werden können. Sie können aber keinen Antrag im Sinne des § 27 KJHG stellen. In der Regel wird dann von Seiten des Jugendamtes versucht, mit den Erziehungsberechtigten und dem Kind bzw. Jugendlichen gemeinsam eine Lösung zu finden.
In Fällen, in denen das Wohl des Kindes gefährdet ist, zum Beispiel bei massiven körperlichen Misshandlungen, sexuellem Missbrauch oder extremen Vernachlässigungen, kann das Jugendamt eine Hilfemaßnahme in Zusammenarbeit mit dem Familiengericht ohne das direkte Einverständnis der Eltern zum Schutz des Kindes einrichten. Insgesamt darf eine Hilfe aber nur einen so geringen Einschnitt wie möglich in das Leben des jungen Menschen verursachen, und sollte die Wünsche der Personensorgeberechtigten sowie der Kinder und Jugendlichen soweit wie möglich berücksichtigen (vgl. Schellhorn, 2000, S. 187).
Welche Hilfeformen sind im Gesetz vorgesehen?
In den §§ 28-35 des Kinder- und Jugendhilfegesetzes sind konkrete Erziehungshilfen beispielhaft benannt und in Abbildung 1 dargestellt. Erzieherische Hilfen sind über diesen Katalog hinaus möglich (Münder et al., 1999, S. 265).
Aufgeteilt sind sie nach ambulanten, teilstationären und stationären Maßnahmen. Diese sind in den nächsten Abschnitten genauer erläutert. Die Pfeile in der Abbildung 1 symbolisieren die Kombinationsmöglichkeiten zwischen den Hilfearten.
Abb. 1: Darstellung der Maßnahmen zur Hilfe zur Erziehung nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz
Ambulante Hilfen
Ambulante Hilfen bedeuten Unterstützung der Familie und des betroffenen Kindes oder Jugendlichen, die weiterhin an ihrem bisherigen Wohnort, also in der Regel dem elterlichen Haushalt verbleiben.
- In der Erziehungsbeistandschaft liegt der Schwerpunkt auf der individuellen Arbeit mit dem jeweiligen Kind oder Jugendlichen. Zusätzliche Beratungen der Eltern bzw. gemeinsame Familiengespräche sind ergänzend sinnvoll und möglich. Bei dieser Hilfe steht im Mittelpunkt, dem Kind bzw. der/ dem Jugendlichen eine Vertrauensperson an die Seite zu stellen, die versucht, die Schwierigkeiten aus ihrer/ seiner Sicht zu verstehen. Ergänzende Familiengespräche, in denen die unterschiedlichen Positionen verdeutlicht werden und Regeln zum Zusammenleben erarbeitet werden können, sind oft hilfreich. Zusätzlich finden häufig Begleitungen im Schulalltag und Hilfestellungen in der Berufsfindung statt. Was genau wie durchgeführt wird, orientiert sich an der genauen Fragestellung des jeweiligen Falles. Die Erziehungsbeistandschaft wird häufiger bei Jugendlichen als bei Kindern eingesetzt.
- Bei der Sozialpädagogischen Familienhilfe steht die Beratung der gesamten Familie stärker im Mittelpunkt. Klassischerweise werden Strukturen für das tägliche Zusammenleben mit den sorgeberechtigten Personen erarbeitet und schwierige Situationen begleitet, in denen es häufig zum Streit mit den Kindern kommt. Ein klassisches Beispiel ist die Erledigung der Hausaufgaben. Alternative Ideen für den Umgang miteinander werden zusammen erarbeitet.
Teilstationäre Hilfen
Im Gesetz ist besonders die Tagesgruppe benannt. Die Kinder oder Jugendlichen wohnen wie bei den ambulanten Maßnahmen weiterhin zu Hause, gehen aber täglich, in der Regel heißt das werktags, zu festgelegten Zeiten in eine Gruppe. Dort gibt es häufig eine gemeinsame Mahlzeit, die Hausaufgaben werden begleitet und im Spiel mit den anderen Kindern werden soziale Fertigkeiten trainiert.
Stationäre Hilfen
Diese Maßnahmen bedeuten eine Unterbringung des Kindes oder Jugendlichen außerhalb der Herkunftsfamilie. Sie werden in der Regel erst eingesetzt, wenn andere Hilfen innerhalb der Familie nicht zur gewünschten Veränderung geführt haben oder von vorneherein deutlich ist, dass sie nicht Erfolg versprechend sind. Ziel ist in der Regel die Rückführung in die Familie oder, bei Jugendlichen oder Heranwachsenden, eher die Verselbstständigung in einer eigenen Wohnung. Folgende Maßnahmen werden im KJHG benannt:
- Heimerziehung sieht heute sehr vielfältig aus. Es wird versucht, die Betreuungsangebote zu differenzieren und stärker an den Bedürfnissen der Betroffenen auszurichten (vgl. Baur, 1998). Zu nennen sind beispielsweise kleinere Wohngruppen, die in den Stadtteil integriert sind, aus dem die Kinder oder Jugendlichen kommen.
- Die Unterbringung in einer Pflegefamilie kann vorübergehend oder dauerhaft erfolgen. Dies wird so früh wie möglich festgelegt, um den Kindern, den leiblichen Eltern und den Pflegeeltern eine klare Perspektive zu geben. In extremen Fällen, in denen zum Beispiel Kinder oder Jugendliche zu Hause schwer körperlich misshandelt wurden, kann die dauerhafte Unterbringung in einer Pflegefamilie angezeigt sein.
- In der intensiven sozialpädagogischen Einzelfallhilfe werden ältere Jugendliche oder Heranwachsende in ihrer eigenen Wohnung begleitet und darauf vorbereitet, ihr Leben selbstständig und eigenverantwortlich zu führen.
3. Flexible Erziehungshilfen
Welche theoretischen Überlegungen gibt es dazu?
Klatetzki (1995) geht in seinen Ausführungen davon aus, dass die einzelnen im Gesetz genannten sozialpädagogischen Hilfeformen nicht gegeneinander abgrenzbar sind. Er konzentriert sich auf den § 27 KJHG Absatz 1, in dem sinngemäß ausgeführt ist, dass die notwendige und geeignete Hilfe für den Einzelfall maßgeschneidert werden soll. In Absatz 2, Satz 2 heißt es weiter: „Art und Umfang der Hilfe richten sich nach dem erzieherischen Bedarf im Einzelfall, dabei soll das engere soziale Umfeld des Kindes oder des Jugendlichen einbezogen werden.“
Für die einzelne Hilfe kommt es entscheidend auf die konkrete Lebenssituation der Betroffenen an. Je genauer mit den Eltern, Kindern und Jugendlichen die gesamten Zusammenhänge ihrer Schwierigkeiten, aber auch ihrer Möglichkeiten besprochen werden, desto passgenauer kann eine Hilfe eingerichtet werden. Deshalb kommt dem Hilfeplan, der im nächsten Abschnitt erläutert wird, eine entscheidende Bedeutung zu.
Hinte (2001) betont zusätzlich zu der Notwendigkeit maßgeschneiderter Hilfen im Einzelfall, dass auch Ressourcen des Sozialraums, also des Bereiches, in dem die betroffenen Menschen leben miteinbezogen werden. Das bedeutet, dass zum Beispiel bereits bestehende Angebote in der Gemeinde mitgenutzt werden sollen, wenn eine Hilfe für den Einzelfall eingerichtet werden muss. Neben solchen bestehenden Angeboten, können auch individuell geschaffene Möglichkeiten, wie zum Beispiel eine Hilfe durch die Nachbarschaft, die professionelle Arbeit unterstützen oder sogar ersetzen.
Was ist ein Hilfeplan und was wird darin festgelegt?
Im Hilfeplan, der seine gesetzliche Grundlage im § 36 KJHG hat, wird die individuelle Hilfeform mit allen Beteiligten besprochen. Das bedeutet, dass die Sorgeberechtigten und die Kinder bzw. Jugendlichen sich mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Jugendamtes zusammensetzen und gemeinsam beraten, wie eine Hilfe am besten aussehen könnte. Dabei können noch weitere Personen beteiligt sein. Dies sind zum Beispiel Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von freien Trägern der Jugendhilfe, die Hilfen zur Erziehung durchführen dürfen. Es können auch wichtige Bezugspersonen der Familie dazukommen, wenn die Betroffenen dies ausdrücklich wünschen. So kann zum Beispiel die beste Freundin bzw. der beste Freund mitgebracht werden. Im Hilfeplan wird dann unter anderem schriftlich festgehalten:
- Wer die Hilfe bekommt (z.B. Elternberatung oder Betreuung des Jugendlichen)
- Wer die Hilfe durchführt (wie der Träger heißt, ggf. wie die konkrete Person heißt)
- Wo die Hilfe stattfindet (Treffen zu Hause, in einem Jugendzentrum o.ä.)
- Wie oft gemeinsame Treffen stattfinden (bei ambulanten Maßnahmen)
- Wie lange die Hilfe dauern soll (das heißt, wann die Hilfe endet bzw. wann der Hilfeplan fortgeschrieben werden soll)
- Was sich durch die Hilfe verändern soll (bedeutet, welche Ziele die Beteiligten erreichen wollen)
4. Praxisbeispiele
Wie kann eine flexible Hilfe konkret aussehen?
Jeder Fall muss individuell betrachtet werden. Deshalb geht es bei den beiden folgenden Praxisfällen nicht um die Darstellung allgemeingültiger Ideallösungen, sondern um die Umsetzung flexibler Hilfeangebote. Die beiden geschilderten Familien sind fiktiv. Ihre Probleme und Ressourcen und die dargestellten Hilfearten setzen sich aber aus verschiedenen Praxisfällen sowie theoretischen Überlegungen zusammen.
Praxisbeispiel 1: Familie Meier mit Sohn Roland und Tochter Eva
Familie Meier lebt mit Sohn Roland, 16 Jahre und Tochter Eva, 10 Jahre in einer Mietwohnung eines Mehrfamilienhauses. Die Mutter von Frau Meier lebt in direkter Nachbarschaft der Familie. Obwohl Herr Meier beruflich sehr eingespannt ist, ist sein Verdienst nicht sehr hoch. Frau Meier, die für die Versorgung des Haushaltes und der Kinder zuständig ist geht deshalb noch einmal in der Woche einer Reinigungstätigkeit nach, wodurch sie stark belastet ist. Sie hat zurzeit wenig Kontakt zu anderen Müttern, wünscht sich aber grundsätzlich mehr Austausch mit anderen Eltern.
Sohn Roland geht zur örtlichen Hauptschule in die neunte Klasse, nachdem er eine Klasse wiederholen musste. Er hat massive Fehlzeiten, da er lieber mit seinen Freunden zusammen ist, die die Schule ebenfalls nur unregelmäßig besuchen. Aktuell liegt eine Anzeige wegen Fahren ohne Fahrerlaubnis gegen ihn vor.
In einem ersten Gespräch bei der Mitarbeiterin des örtlichen Jugendamtes, die für den Bezirk, in dem Familie Meier wohnt zuständig ist, klagt Frau Meier, an ihren Sohn nicht mehr so richtig heran zu kommen. Wenn Roland zu Hause sei, ziehe er sich oft in sein Zimmer zurück, höre ohrenbetäubend laute Musik und reagiere nicht auf Gesprächsangebote. Außerdem liege seine Wäsche überall in seinem Zimmer. Ihrem Mann würde der „Geduldsfaden“ noch schneller reißen. Zwischen ihm und Roland gäbe es hauptsächlich nur noch „Schreierei“.
Tochter Eva besucht die vierte Klasse der Grundschule und es ist die Frage, ob sie im folgenden Jahr auf die Realschule oder die Hauptschule wechselt. Ihre Leistungen seien in den letzten Monaten schlechter geworden und sie mache nicht mehr so konzentriert ihre Hausaufgaben, sagt Frau Müller im Gespräch beim Jugendamt. Außerdem sei Eva bereits zweimal unentschuldigt dem Unterricht ferngeblieben, berichtet sie weiter. Ihre Sorge sei, dass Roland einen schlechten Einfluss auf Eva habe und diese unter dem häufigen Streit in der Familie sehr leide.
In weiteren Gesprächen, die sowohl mit dem Ehepaar Meier als auch mit Roland separat durchgeführt werden, erarbeitet die Mitarbeiterin des Jugendamtes die Ressourcen der Familie. So ist die Großmutter mütterlicherseits nicht berufstätig und versteht sich mit allen Familienmitgliedern recht gut. Besonders liegt ihr Eva am Herzen. Frau Meier ist sich sicher, dass sie für bestimmte Zeiten die Betreuung der Tochter übernehmen würde. Außerdem hat die Familie guten Kontakt zu einer allein stehenden Lehrerin, die in unmittelbarer Nachbarschaft lebt. Sie hat bereits früher ihre Hilfe bei Schulfragen angeboten. Ein jüngerer Bruder der Mutter ist für Roland ein großes Vorbild. Er wohnt in der gleichen Stadt wie Familie Meier. Weiterhin hat Roland großes Interesse an Autos. Er würde gerne einmal in diesem Bereich arbeiten und hat seinem Vater bereits häufiger bei kleineren Reparaturen am Auto der Familie geholfen. Die Mitarbeiterin des Jugendamtes stellt außerdem in den Gesprächen mit Ehepaar Meier fest, dass diese offen für Gespräche und Anregungen im Umgang mit ihren Kindern sind.
Darüber hinaus prüft die Mitarbeiterin des Jugendamtes, welche Möglichkeiten im Sozialraum, also in der Nähe der Familie Meier vorhanden sind, die von dieser genutzt werden könnten. So weiß Sie, dass die örtliche Erziehungsberatungsstelle Elternkurse zu Erziehungsfragen anbietet. Außerdem kennt Sie die Frau einer nahe gelegenen Kirchengemeinde und erfährt von ihr, dass es dort eine Gruppe von Müttern gibt, die sich einmal wöchentlich vormittags zum Austausch über Erziehungsfragen treffen. Darüber hinaus nimmt sie Kontakt zu dem Mitarbeiter eines freien Trägers der Jugendhilfe auf, von dem sie weiß, dass er in der Vergangenheit guten Zugang zu Jugendlichen bekommen hat. Im ersten telefonischen Kontakt berichtet er ihr, dass er den Besitzer einer Autowerkstatt kennt, der bereit ist, Praktikanten aufzunehmen.
Im Hilfeplangespräch, an dem Frau und Herr Müller, Roland, Eva, die Großmutter mütterlicherseits, die Mitarbeiterin des Jugendamtes und der Mitarbeiter des freien Trägers teilnehmen, werden folgende Absprachen getroffen:
Roland kann sich vorstellen, zweimal in der Woche den Mitarbeiter des freien Trägers als Betreuer für jeweils zwei Stunden zu treffen. Festgelegte Ziele im Hilfeplan zu dieser Maßnahme sind zum einen die Situation der Familie aus Sicht des Jugendlichen zu erkennen und in gemeinsamen Familiengesprächen Regeln für das Zusammenleben auszuhandeln. Zum anderen soll die schulische und berufliche Perspektive von Roland erarbeitet werden. Roland selber äußert den Wunsch, die Schule nach der neunten Klasse verlassen zu wollen, um lieber eine praktische Tätigkeit aufzunehmen. Er erklärt sich bereit, die Schule wieder regelmäßig zu besuchen um den erfolgreichen Abschluss der Klasse neun anzustreben. Dies würde er machen mit der Absicht, im Anschluss in eine Berufsfindungsmaßnahme, durchgeführt von einem Träger der Jugendberufshilfe, zu wechseln.
Der Mitarbeiter des freien Trägers berichtet, dass in diesem Rahmen ein mehrmonatiges Praktikum in einer Autowerkstatt durchgeführt werden kann und parallel ebenfalls der Hauptschulabschluss nach Klasse 10 zu erreichen sei. Der Betreuer verspricht, Kontakt zu der ihm bekannten Autowerkstatt-Firma herzustellen. Roland findet die Idee, dass er mit seinem Onkel ebenfalls Kontakt aufnehmen könnte sehr gut. Die Eltern versprechen, ebenfalls mit diesem über eine mögliche Unterstützung von Roland zu sprechen, besonders wenn sich die Familiensituation stabilisiert hat und eine Zukunftsperspektive für Roland entwickelt worden ist. Dann könnte die Betreuung durch den Mitarbeiter des freien Trägers wieder reduziert und nach einem festgelegten Zeitraum wieder beendet werden.
Die Eltern erklären sich ebenfalls bereit, an dem Kurs der Erziehungsberatungsstelle teilzunehmen. Dieser wird einmal wöchentlich abends stattfinden und sich mit Grundfragen der Erziehung beschäftigen. Die Mitarbeiterin des Jugendamtes kennt die Psychologin und den Sozialpädagogen, die den Kurs anbieten. Die Großmutter bietet an, in dieser Zeit sich mit Eva zu beschäftigen. Trotz ihrer großen Belastung findet Frau Meier den Gedanken, ab und zu vormittags ungezwungen mit anderen Frauen in ähnlichen Situationen zu sprechen sehr reizvoll. Sie kann sich vorstellen, einmal probeweise dorthin zu gehen. Frau Meier kann sich vorstellen, dass die Nachbarin Eva evtl. einmal in der Woche bei den Hausaufgaben unterstützen könnte. Dies könne eine Motivation für Eva sein, um den Übergang auf die Realschule zu schaffen.
Im Hilfeplan wird weiter festgelegt, dass die nächste Überprüfung nach Ablauf von sechs Monaten erfolgen wird. Dann wird erneut mit allen Beteiligten gesprochen und das Erreichen der festgelegten Ziele überprüft. Sollten diese noch nicht zufrieden stellend erreicht sein, kann über eine Weiterführung oder Veränderung der bestehenden Hilfe gesprochen werden.
Praxisbeispiel 2: Familie Müller mit Tochter Ilka und Sohn Stefan
Das Ehepaar Müller lebt mit dem gemeinsamen Sohn Stefan, 5 Jahre in einem Einfamilienhaus. Weiterhin wohnt dort aus der ersten Ehe von Frau Müller ihre fünfzehnjährige Tochter Ilka. Die Eltern von Herrn Müller wohnen im gleichen Ort, die Mutter von Frau Müller wohnt in der Nachbarstadt. Der leibliche Vater von Ilka ist inzwischen auch wieder verheiratet und lebt mit seiner Frau ca. 300 km weit entfernt. Zwischen Ilka und ihm besteht sporadisch telefonischer Kontakt.
Herr Müller ist selbstständig und hat sein Büro im Keller des Einfamilienhauses. Nach seiner Einschätzung verwöhnt seine Frau die beiden Kinder sehr, besonders bezüglich Ilka gibt es darüber immer wieder Auseinandersetzungen zwischen den Eheleuten. Frau Müller ist vormittags in einem Büro tätig. Sie möchte ihren Kindern gerne viel bieten, da sie selber in eher einfachen Verhältnissen aufgewachsen ist. Außerdem befürchtet sie, dass ihre Tochter Ilka stark unter der Trennung zu ihrem ersten Lebensgefährten gelitten hat, da Ilka immer sehr an ihrem leiblichen Vater gehangen habe.
Tochter Ilka besucht die Gesamtschule der Nachbarstadt, in der auch ihre Großmutter lebt. Zu dieser hat sie ein gutes Verhältnis. Sie ist bisher immer eine unauffällige Schülerin gewesen. Allerdings hat es im letzten Halbjahr eine deutliche Verschlechterung ihrer Leistungen gegeben, da sie mehrfach dem Unterricht ferngeblieben ist. Sie hat mehrere gute Freundinnen, bei denen sie viel Zeit verbringt. In den letzten Monaten war sie zweimal jeweils ohne Absprache mit den Eltern bei verschiedenen dieser Freundinnen. In beiden Fällen wurde eine Vermisstenanzeige durch die Eltern bei der Polizei gestellt. Ilka meldete sich am folgenden Tag aber in beiden Fällen von selber wieder zu Hause. In beiden Fällen erfolgte das Fernbleiben immer nach starken Auseinandersetzungen mit ihrem Stiefvater, mit dem es insgesamt große Schwierigkeiten gibt. Häufig schreien sich beide nur noch an. Er wirft ihr vor, die Mutter zu wenig zu unterstützen und nur „Flausen im Kopf“ zu haben. Ilka meint, dass sie in der Familie ja sowieso nicht erwünscht sei. Außerhalb der Streitsituationen spricht sie mit ihrem Stiefvater nur noch das Allernötigste. Außerdem hat sich ihr Essverhalten bedenklich verändert. Sie nimmt nur noch sehr unregelmäßig kleine Mengen zu sich. Gegenüber der Mutter hat sie dazu gesagt, sie könne wegen des häufigen Ärgers „nichts mehr herunter bekommen“.
Sohn Stefan geht in den Kindergarten. Er liebt seine Schwester Ilka über alles und fragt viel nach ihr, wenn sie nicht da ist. Er ist insgesamt sehr unruhig und kann sich schlecht auf eine Sache konzentrieren. Frau Müller ist in großer Sorge, ob er im nächsten Jahr bereits eingeschult werden kann. Ihr Kinderarzt hat ihr geraten, ein Medikament gegen Hyperaktivität für Stefan einzusetzen.
Eine Lehrerin von Ilka hat Frau Müller wegen des Fehlens von Ilka in der Schule angerufen. Sie hat in dem Telefonat auch geäußert, dass sie Ilka inzwischen bedenklich dünn findet und Frau Müller geraten, sich doch einmal mit dem Jugendamt in Verbindung zu setzen. Die zuständige Mitarbeiterin ist Frau Müller noch aus der Trennungs- und Scheidungsberatung bekannt. Also setzt sie sich mit ihr in Verbindung.
Es folgen mehrere Gespräche im Jugendamt, an denen Frau Müller und Ilka, teilweise getrennt teilnehmen. In einem Einzelgespräch mit der Mitarbeiterin äußert Ilka, dass sie es zu Hause nicht mehr aushalte. Der ständige Streit mit dem Stiefvater würde sie „fertig machen“. Gegenüber ihrer Mutter habe sie ein schlechtes Gewissen. Sie äußert den Wunsch, woanders wohnen zu wollen.
Die Mitarbeiterin des Jugendamtes hält nach den Gesprächen trotz der Schwierigkeiten auch folgende Ressourcen der Familie für sich fest:
Die Mutter ist gesprächsbereit und freut sich über Hilfen. Herr Müller ist bereit die Maßnahmen zu akzeptieren, die seine Frau für richtig hält. Ilka hat einen größeren Freundeskreis und kommt mit anderen Mädchen gut zurecht. Herr Müller ist durch seine Tätigkeit häufiger zu Hause und kommt mit seinem Sohn gut zurecht. Er könnte evtl. gelegentlich eine zusätzliche Betreuung von Stefan übernehmen.
Die Möglichkeiten bzw. Ressourcen im Sozialraum sieht die Mitarbeiterin des Jugendamtes an folgenden Stellen:
In einer örtlichen Familienberatungsstelle werden verschiedene Informationsabende zum Thema Hyperaktivität angeboten. Außerdem hat die Mitarbeiterin des Jugendamtes Kontakt zu einem Kinderarzt, der sich auf das Thema Hyperaktivität spezialisiert hat. Ein freier Träger der Jugendhilfe betreut mehrere jugendliche Mädchen in der gleichen Stadt. Eine der Mitarbeiterinnen hat Kapazitäten für eine weitere Betreuung. Familie Müller hat eine Hausärztin, zu der Ilka nach ihren eigenen Aussagen Vertrauen hat.
Im Hilfeplangespräch, an dem das Ehepaar Müller, Ilka, die Mitarbeiterin des Jugendamtes und die Mitarbeiterin des freien Trägers teilnehmen, wird folgendes festgelegt:
Ilka kann sich vorstellen, sich ein bis zweimal in der Woche mit der Mitarbeiterin des freien Trägers, als ihre Betreuerin, für jeweils zwei Stunden zu treffen. Außerdem ist sie bereit, ihren gesundheitlichen Zustand und ihr Gewicht regelmäßig bei der Hausärztin überprüfen zu lassen. Sie selber hat die Hoffnung, dass sie durch eine Unterbringung außerhalb der Familie nicht mehr so viel Stress habe und dadurch wieder besser essen könne.
Die Mitarbeiterin des Jugendamtes wird einmal in der Woche Gespräche mit dem Ehepaar Müller führen, um neue Lösungen im Umgang mit Ilka, aber auch mit Stefan zu finden.
Herr Müller erklärt sich bereit, Stefan einmal in der Woche vom Kindergarten abzuholen und im Anschluss mit ihm zu spielen. In dieser Zeit kann Frau Müller Ilka unabhängig von ihrem Wohnort das Angebot machen, gemeinsam etwas zu unternehmen. Ilka wünscht sich sehr mit ihrer Mutter mal wieder einen Einkaufsbummel zu zweit machen zu können.
Die Eltern erklären sich bereit, an den Informationsveranstaltungen der Familienberatungsstelle zum Thema Hyperaktivität teilzunehmen. Frau Müller wird Kontakt zu dem neuen Kinderarzt aufnehmen.
Parallel zum Einsatz der ambulanten Hilfe wird über eine passende Unterbringung von Ilka außerhalb von Familie Müller beraten. Die Mitarbeiterin des Jugendamtes wird die Möglichkeiten bei dem leiblichen Vater und der Großmutter mütterlicherseits prüfen. Sollten diese Optionen nicht in Frage kommen, wird über eine stationäre Hilfe für Ilka nachgedacht. Der freie Träger, der bereits die ambulante Hilfe durchführen wird, überlegt auch, eine betreute Wohngemeinschaft für junge Mädchen im Wohnort von Familie Müller einzurichten. Ilka kann sich vorstellen, einige der anderen Mädchen kennen zu lernen, die evtl. auch in die Wohngemeinschaft einziehen werden. Die Betreuerin von Ilka kann sich vorstellen, in einer solchen Wohngemeinschaft zu arbeiten und damit den Aufbau einer Beziehung zu Ilka zu erhalten. Die Mutter findet eine ortsnahe Unterbringung sehr gut, da sie in jedem Fall regelmäßigen Kontakt zu Ilka haben möchte. Sie kann sich durch die räumliche Trennung eine Verbesserung der Beziehung zu ihrer Tochter vorstellen. Ilka selber möchte weiterhin nah an ihrer Schule wohnen. Außerdem seien ihr regelmäßige Treffen mit ihrem kleinen Bruder sehr wichtig. Dies seien auch die Gründe, warum sie nicht zu ihrem leiblichen Vater ziehen wolle. Mit ihrer Großmutter verstehe sie sich ganz gut. Sie wolle aber lieber mit Gleichaltrigen zusammen wohnen, die nicht so altmodische Ansichten hätten und mit denen sie viel unternehmen könne.
Worauf war bei dem Einsatz der flexiblen Hilfen zu achten?
In beiden Fällen gab es besondere Schwierigkeiten mit den Jugendlichen, die beginnen, sich von der Herkunftsfamilie abzulösen.
Die Schwierigkeiten bei Ilka waren durch die „Patchwork-Familiensituation“ stark beeinflusst. Da Ilka bereits Jugendliche ist und in der Vergangenheit in der Schule zuverlässig war, kann durch die Unterbringung in einer kleineren Wohngruppe, in der sie bereits stärkere Eigenverantwortung hat, gegenüber einem größeren Kinderheim ihre bisherige Entwicklung besser berücksichtigt werden. Eine wohnortnahe Unterbringung würde den Erhalt ihrer Bezüge zur Familie und zu ihrer Schule ermöglichen.
Bei Roland wird versucht, über einen männlichen Ansprechpartner Kontakt aufzubauen, um einerseits das Zusammenleben in der Familie besser absprechen zu können und andererseits eine berufliche Perspektive zu entwickeln. Der Gedanke, familiäre Ressourcen zu nutzen, wird über die Einbeziehung des Onkels deutlich.
Aber auch die kleineren Kinder sollten bei Hilfeangeboten im Auge behalten werden. Im Fall von Stefan liegt ja bereits eine besondere Schwierigkeit vor. Gerade bei jüngeren Kindern sind Beratungen der Eltern in Erziehungsfragen oft sehr hilfreich und entlastend.
Erziehungsberatungsstellen, Schulen, Kirchengemeinden oder auch das Jugendamt selber bieten immer wieder Kurse oder Vorträge zu Themen der Erziehung an.
Fazit
Die beiden geschilderten Fälle verdeutlichten die Arbeit des Jugendamtes zusammen mit freien Trägern der Jugendhilfe. Intensive Gespräche mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Jugendamtes gehen in der Regel einem Hilfeplangespräch voraus, das erst stattfindet, wenn ein Antrag auf Hilfe zur Erziehung vorliegt. Oft reichen die Beratungsgespräche der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bereits aus, um die Probleme zu lösen. Oder sie haben Ideen, welche anderen Hilfen, zum Beispiel in der Nachbarschaft, zur Verfügung stehen. Wenn dies nicht der Fall ist, werden zusätzliche Maßnahmen der Hilfe zur Erziehung eingeleitet, die die Möglichkeiten der Einzelnen und des sozialen Umfeldes mit einbeziehen sollten.
In diesem Artikel wurden die Möglichkeiten von flexibel einsetzbaren Hilfen zur Erziehung unter besonderer Berücksichtigung der Besonderheiten von jeder Familie, jedem Kind und jedem Jugendlichen dargestellt. Absicht war es, Familien zu ermutigen, sich bei Erziehungsproblemen Unterstützung auch beim Jugendamt oder freien Trägern der Jugendhilfe zu suchen.
Literatur
- Baur, D. et al.(1998): Leistungen und Grenzen von Heimerziehung. (Hrsg. Bundesministerium für Familie, Frauen, Senioren und Jugend). 1. Auflg., Stuttgart (u.a.): Kohlhammer.
- Hinte, W.(2001): Sozialraum: Fall im Feld. Social Management, Heft 6, S. 10-13.
- Klatetzki, T. (Hrsg.)(1995): Flexible Erziehungshilfen. Ein Organisationskonzept in der Diskussion. 2. überarb. Aufl., Münster: Votum.
- Münder, J. et al.(1999): Frankfurter Lehr- und Praxiskomentar zum KHJG/SGB VIII, 3. vollst. überarb. Aufl., Münster: Votum.
- Schellhorn, W. (Hrsg.): SGB VIII/ KJHG. Sozialgesetzbuch. 2. Aufl., Neuwied: Luchterhand. 2000
- Nowacki, K. (2012) (Hrsg): Pflegekinder: Vorerfahrungen, Vermittlungsansätze und Konsequenzen. Freiburg im Breisgau
- Nowacki, K. (2011):Bindungsentwicklung von Pflegekindern – Theoretische Grundlagen und praktische Implikationen. In: Bundesarbeitsgemeinschaft der Kinderschutzzentren (Hrsg). Zwischen Traumkind und Trauma: Vorraussetzungen für gelingende Beziehungen in Pflege- und Adoptivfamilien.(S. 38 – 52). Köln: Eigendruck.
- Nowacki, K. & Schölmerich, A. (2010): Growing up in foster families or institutions: Attachment representations and psychological adjustment of young adults. In: Attachment & Human Development.12:6,551-566.
- Nowacki, K. (2007): Aufwachsen in Pflegefamilie oder Heim: Bindungsrepräsentation, psychische Befindlichkeit und Selbstbild bei jungen Erwachsenen. Hamburg.
Autorin
Katja Nowacki, Prof. Dr., ist Dipl.-Psychologin, Dipl. Sozialpädagogin und Therapeutin
Erstellt am 22. November 2005, zuletzt geändert am 10. Juni 2013