“Schreiambulanzen” – Frühe Hilfen in den ersten Lebensmonaten und -jahren

Carolin Keller und Gabriele Koch

Viele Eltern erleben in den ersten Lebensmonaten und -jahren ihres Kindes Situationen, die sie verunsichern, besorgt machen oder überfordern. Eltern suchen das Gespräch mit anderen erfahrenen Eltern, informieren sich über Themen der kindlichen Entwicklung und versuchen, Belastungen, die der familiäre Alltag mit Säuglingen und Kleinkindern mit sich bringt, im Familien- und Freundeskreis zu lösen. Häufig entsteht jedoch auch der Wunsch nach fachlicher Beratung und Begleitung, wenn Sorgen um das Kind überhand nehmen oder die familiären Beziehungen unter einem überlasteten Alltag leiden.

Säuglinge und Kleinkinder drücken ihre Bedürfnisse, Befindlichkeiten und Konflikte häufig über “Schreien” aus. Wenn Eltern das Schreien ihres Kindes als besorgniserregend häufig, lang andauernd oder intensiv erleben, stellt sich die Frage, ob das “Schreien” die normale Ausdrucksmöglichkeit des Säuglings ist, um Hunger, Schmerz, Müdigkeit oder Langeweile kund zu tun, oder ob eine körperliche Erkrankung oder Entwicklungsstörung der Grund sein könnte. Eltern, die sich über einen längeren Zeitraum hinweg erfolglos bemühen, das Kind zu beruhigen und sich zunehmend erschöpfter und hilfloser fühlen, stellen sich die Fragen “Ist mein Kind normal/ gesund?” oder “Mache ich (machen wir) etwas falsch?” und suchen fachlichen Rat, um mögliche Gründe in Erfahrung zu bringen und Hilfestellungen zu bekommen.

Dabei helfen Einrichtungen, die landläufig “Schreiambulanzen” genannt werden. Sie bieten ratsuchenden Eltern Diagnostik und Beratung im Umgang mit ihrem Kind und der meist angespannten familiären Situation an.

Was sind so genannte “Schreiambulanzen”?

“Schreiambulanzen” sind spezielle Beratungsstellen für Eltern mit Säuglingen und Kleinkindern. In Deutschland wurde 1991 als erste dieser Einrichtungen die “Münchner Sprechstunde für Schreibabys” unter der Leitung von Frau Mechthild Papousek am Kinderzentrum München eröffnet.

Aufgrund der Erfahrungen aus Wissenschaft und Praxis auf dem damals noch neuen Fachgebiet der Eltern-Säuglings-Beratung und Therapie haben sich inzwischen deutschlandweit viele Angebote und Initiativen entwickelt. Zahlreiche Ärzte/innen, (Entwicklungs-) Psycholog/innen, Psychotherapeut/innen, Hebammen, Sozialpädagog/innen, Ergo- und Physiotherapeut/innen haben sich seitdem zusätzlich qualifiziert und Angebote der Eltern-Säuglings-Beratung in ihr Arbeitsfeld integriert. Inzwischen findet sich in Deutschland eine breite Palette von Angeboten, die Eltern auf unterschiedliche Art kompetente Hilfestellung geben, und es zeigt sich, dass ein großer und dringender Bedarf an ihnen besteht.

Diese “Schreiambulanzen” sind an Kliniken, Arztpraxen, Erziehungsberatungsstellen, Hochschulen, Nachbarschaftszentren, Jugend- und Gesundheitsämter etc. angegliedert und haben sehr unterschiedliche Namen, z.B. “Babysprechstunde” , “Elternberatung ´Vom Säugling zum Kleinkind´” , “nullbisdrei” etc., die darauf hinweisen, dass es um spezielle Angebote für Kinder im Alter von 0-3 Jahren geht. Sie finanzieren sich aus sehr unterschiedlichen Quellen. Die meisten Angebote sind kostenlos; manchmal müssen Eltern auch einen Eigenanteil bezahlen. Es ist sinnvoll, sich genau über eventuelle Kosten bzw. Wege der Kostenübernahme über Krankenkassen oder Jugendämter informieren zu lassen.

Mit welchen Anliegen kann man sich an so genannte “Schreiambulanzen” wenden?

Häufig wird der Begriff “Schreiambulanz” mit den so genannten “Schreibabys” in Verbindung gebracht. Behandelt werden aber auch andere Symptome, die als “Frühe Regulationsstörungen” bezeichnet werden. Dazu gehören Probleme in der Regulierung der Schlaf-Wach-Phasen (Ein- und Durchschlafprobleme), Fütterstörungen, motorische Unruhe und Spielunlust. Bei Kleinkindern äußern sich diese Regulationsstörungen auch in Form von exzessivem Klammern und Trotzen und aggressivem Verhalten.

Es ist sinnvoll, gerade bei Säuglingen sehr früh Rat einzuholen. Wartet man ab, bis sich z.B. 3-Monats-Koliken von selbst wieder geben, kann es sein, dass das Miteinander zwischen Eltern und Kind durch diese Belastung schon in den ersten Wochen so enttäuschend ist, dass die Eltern-Kind-Beziehung “besonderer Pflege” bedarf. Diese können Eltern und Kind durch die Beratungsarbeit erfahren. Probleme der “kindlichen Selbstregulationskompetenzen” lösen sich sehr rasch; Eltern profitieren davon, ihre intuitiven elterlichen Kompetenzen dem Kind gegenüber entsprechend zu entfalten. Eltern, Kinder und Berater/innen arbeiten gemeinsam daran, aktuelle Schwierigkeiten zu meistern und damit spätere Probleme der emotionalen Regulation und Verhaltensauffälligkeiten zu vermeiden.

Was sind die Ursachen für “Frühe Regulationsstörungen”?

Häufig sind frühe Regulationsstörungen nicht darin begründet, dass entweder mit dem Kind “etwas nicht stimmt” oder die Eltern “alles falsch machen” . Vielmehr stellt sich heraus, dass eine Vielzahl unterschiedlicher Bedingungen dazu beiträgt, dass das Beziehungsgefüge zwischen Eltern und Kind so stark belastet wird, dass ein Kind seine Bedürfnisse nicht deutlich genug äußern kann bzw. dass eine Mutter ihr Kind nicht hilfreich unterstützen kann, dass also ein harmonisches Miteinander erschwert wird.

Mögliche Ursachen dafür liegen z.B. in einer verzögerten Reifung nach der Geburt (z.B. bei “3-Monats-Koliken” ), in einem “schwierigen Temperament” des Kindes, in Störungen der neurophysiologischen Erregungssteuerung (z.B. durch Stress vor, während oder nach der Geburt), in Wahrnehmungsstörungen des Kindes (Störungen der sensorischen Integration), in Störungen der sozialen Kommunikation zwischen Eltern und Kind (Über- oder Unterforderung) oder in allgemeinen psychosozialen Belastungen in der Familie (Erkrankung eines Elternteils, Partnerschaftskonflikte etc.).

Gerade weil die Ursachen so vielfältig sein können, sind in der Regel keine allgemein gültigen Lösungen für Probleme verfügbar, sondern es gilt immer, einen vollständigen Blick auf die biologischen und psychosozialen Belastungen innerhalb der Familie zu werfen, um frühkindliche Verhaltensauffälligkeiten oder Störungen der Eltern-Kind-Beziehung zu verstehen.

Wie wird in den so genannten “Schreiambulanzen” gearbeitet?

Die Behandlungsansätze in den “Schreiambulanzen” können vielfältig sein. Wichtiger Bestandteil ist eine eingehende diagnostische Abklärung, um die Ursachen der Probleme zu erfassen. Die Eltern werden meist gebeten, ein “Schreitagebuch” bzw. “Tagesablaufprotokolle” zu führen und/oder Fragebögen auszufüllen. Sie dokumentieren damit den kindlichen Tagesrhythmus, kindliche Verhaltensweisen und die eigene Befindlichkeit.

Um ein vollständiges Bild von der Lebenswelt des Säuglings zu bekommen, werden Eltern im Anamnesegespräch auch zu Schwangerschaft und Geburt sowie zu ihren Vorstellungen, Erwartungen und Ängsten befragt. Je nachdem, worin die Problematik des Kindes begründet ist, kann es wichtig sein, außerdem die aktuelle Atmosphäre innerhalb der Familie, die Zufriedenheit in der Partnerbeziehung der Eltern, die soziale Sicherheit der Familie und eventuelle psychische Belastungen in der Familie mit in Betracht zu ziehen.

Soweit es organisatorisch möglich ist, kann den Eltern auch ein Hausbesuch angeboten werden, was meist eine Erleichterung darstellt und zugleich eine Möglichkeit ist, das reale Lebensumfeld des Kindes kennen zu lernen. Um medizinische Ursachen wie z.B. Koliken oder Eiweißunverträglichkeit und andere rein körperliche Erkrankungen ausschließen zu können, sollte immer die Einschätzung eines Kinderarztes hinzugezogen werden.

Behandlungsansätze in “Schreiambulanzen”

Im Mittelpunkt der Behandlung stehen einerseits der Aufbau und die Unterstützung der Fähigkeit des Kindes zur Selbstregulation und Selbstberuhigung, z.B. durch Entspannung, Selbstberuhigung (Hand in den Mund stecken, saugen) oder Vermeidung von Reizüberflutung (einschlafen, wegschauen). Neben der Beobachtung der kindlichen Verhaltensweisen, der Vermittlung von entwicklungspsychologischem Wissen und Hinweisen zum” Handling “sowie den begleitenden beratenden/ therapeutischen Gesprächen, arbeiten viele Schreiambulanzen mittlerweile mit Videoaufnahmen. Es werden Situationen aus unterschiedlichen Alltagskontexten (Spielen, Füttern, Wickeln) aufgezeichnet, wodurch die Eltern die Möglichkeit haben, spezielle Kompetenzen des Kindes zu erkennen und Möglichkeiten zu erarbeiten, diese zu unterstützen. Manche Beratungsansätze integrieren auch körpertherapeutische Möglichkeiten der Unterstützung, z.B. Babymassage, Bobath-Therapie und andere Formen der Berührung und Beruhigung.

Die Arbeit mit Kindern und mit Eltern ist immer aufs Engste miteinander verknüpft. So können Eltern auch Themen einbringen, die oft scheinbar nicht” unmittelbar “mit dem Problem des Kindes zu tun haben, und erhalten Partnerberatung oder Hilfen zur Konfliktbewältigung und Ressourcenmobilisierung. Bei psychischen Belastungen steht den Eltern somit ein Raum zur Verfügung, in dem Ängste, Erwartungen und Erfahrungen bewusst und besprechbar werden, die sich im Erleben des Kindes oft unbewusst und ungewollt auswirken.

Abschließende Empfehlung

Die zunehmende Zahl an Angeboten der Eltern-Säuglings-Beratung zeigt, dass Schwierigkeiten zu Beginn dieser für alle Beteiligten wichtigen Lebensphase weit verbreitet, normal und legitim sind. Es ist ermutigend, dass immer mehr Eltern rechtzeitig den Weg in so genannte” Schreiambulanzen “finden und ihrer Familie damit einen Weg ebnen, der angesichts der oft schwierigen Entwicklungsaufgaben immer auch” steinig “oder” holprig “sein kann.

Es ist zu hoffen, dass die beschriebenen Angebote künftig weitere Verbreitung finden und möglichst gut – ohne lange (Such- und Anfahrts-) Wege – für Eltern mit Säuglingen erreichbar sind. Die Beratungsansätze sind erfolgversprechend, tragen zur Prävention späterer Verhaltensauffälligkeiten von Kindern bei und stabilisieren Familien, die zu einem Zeitpunkt in eine Krise geraten, der eigentlich zu den” glücklichsten Zeiten “zählen könnte. Daher: Suchen Sie frühzeitig das Gespräch mit einer vertrauensvollen, kompetenten Person über Ihr Kind, über Sie selbst in Ihrer neuen Rolle und Ihre Familie!

Weitere Informationen

Adressen von Schreiambulanzen erfahren Sie über das zuständige Jugendamt bzw. Erziehungsberatungsstellen, Kinderkliniken, Kinderärzt/innen oder die Listen der GAIMH (German Speaking Association for Infant Mental Health).

Autorinnen

Dipl. Psych. Carolin Keller und Dipl.-Psych. Gabriele Koch sind Mitarbeiterinnen der Elternberatung  "Vom Säugling und Kleinkind“ an der Fachhochschule Potsdam.

Adresse

Dipl. Psych. Carolin Keller/ Dipl.-Psych. Gabriele Koch
Fachhochschule Potsdam
Elternberatung” Vom Säugling und Kleinkind ”
Friedrich-Ebert-Str. 4
14469 Potsdam

E-Mail
 

Erstellt am 8. September 2003, zuletzt geändert am 6. August 2014