Der “Quartiersansatz” – eine neue Strategie zur Familienförderung und Elternbildung

Ursula Carle und Heinz Metzen
UcarleHmetzen
 

Man mag es beklagen – eigentlich tun dies fast alle – aber man kann es auch begrüßen: Die „Jugendhilfe”, Familienförderung und Elternbildung in Deutschland darf so nicht weiter arbeiten. In den meisten Städten und Landkreisen wird deshalb bereits seit Jahren an der Verbesserung der Strukturen und Ressourcen der „Familienbildung” gearbeitet. Die Pessimisten sehen darin vor allem Zeichen sozialer Kälte, die Reformoptimisten die Möglichkeit zur Entwicklung zeitgemäßer Leistungsprozesse. Die Erfolge der vielfältigen Bemühungen lassen allerdings auf sich warten und geben insofern eher den Pessimisten Recht. Dies bestätigte der 12. Kinder- und Jugendbericht ebenso wie die aktuelle Neuauflage des Berichtes „Familienbildung als Angebot der Jugendhilfe”.

Dieser Bericht beschreibt die Arbeit von Optimisten. Das Modellprojekt »Bremisches Strukturkonzept Familienbildung« wurde als Vorläuferprojekt Teil einer bundesweiten Kampagne zur Bildung lokaler Bündnisse für Familie. In diesem Bündnis wirken seine Erfolge weiter. Besonders wichtig waren die Propagierung eines positiven und offenen Familienbildes in der Öffentlichkeit, die Vernetzung der Familienbildung und ihre nachfragegerechte Weiterentwicklung mit dem Ziel der Stärkung der elterlichen Kompetenz. Das Modellprojekt hat alle Teilprojekte mit Erfolg abgeschlossen. Der Einstieg in die Restrukturierung ist also insgesamt gut vorbereitet. Was erreicht wurde, was noch zu tun bleibt und was von beidem auch bei Projekten außerhalb der Grenzen Bremens beachtet werden sollte, ist Gegenstand dieses Projektberichtes.

Dabei bricht diese Evaluationsdokumentation mit einer guten Tradition, nach der diese Berichte in der Regel eine zu positive Darstellung der Projektverläufe und –ergebnisse präsentieren und sich nur den fachlich und methodisch Versierten die Ecken und Kanten in den Fußnoten, Statistiken und Nebenbemerkungen erschließen. Gut ist diese Tradition, weil sie die wenigen aktiven, innovativen und initiativen Projektverantwortlichen vor der Häme der vielen lethargischen, angepassten und risikoscheuen Neider, Skeptiker und Behinderer und vor allem vor dem Unwillen der für die unzureichende Projektausstattung politisch Verantwortlichen schützt. Diese kurzfristige Fürsorglichkeit verhindert allerdings ein auf nachhaltige Wirkung hin orientiertes, offenes, kritisches und fehlerfreundliches, sprich, ein lernbegieriges Berichten von Verlauf und Problemen, von Einsichten und Erfolgen sozial und administrativ wertvoller Entwicklungsvorhaben. Im Einverständnis mit den Beteiligten und den Projektverantwortlichen in Bremen haben wir uns auf die Seite der Lernwilligen geschlagen.

Noch eine zweite Tradition wird durch diesen Bericht verletzt: Wir beantworten nicht nur die zum Projektbeginn gestellten Wirkungsfragen, sondern haben im Kapitel »Konsequenzen« das niedergeschrieben, was wir durch dieses Vorhaben, durch ungewollte aber interessante Ergebnisse sowie durch den Austausch mit deutschen und internationalen ExpertInnen der Familienförderung und Elternbildung quasi als Antworten auf anfänglich (noch) nicht gestellte Fragen gelernt haben. Die Konsequenzen skizzieren also insgesamt eine völlig neue Sicht der strukturellen Erfordernisse, selbst wenn die Details allesamt praktisch belegt sind. Sie gehen im Ensemble weit über das »Strukturkonzept Familienbildung« hinaus, wie es auch wieder im „12. Kinder- und Jugendbericht” bzw. im Bericht zur „Familienbildung als Angebot der Jugendhilfe” aufscheint: Didaktische Verbesserungen der Angebote, institutionelle Vernetzung der Anbieter und Intensivierung der Förderung von benachteiligten Kindern und Familien. So berechtigt diese Forderungen sind, sie bleiben in der tradierten institutionellen Perspektive befangen – selbst wenn die zusätzliche Einbindung familiennaher Einrichtungen wie Arztpraxen, Kindergärten und Schulen in die Familienbildung gefordert wird.

Unsere Konsequenzen gehen einen entscheidenden Schritt weiter, indem sie sich die Kinder- und Familienperspektive zu Eigen machen: „Quartiersansatz” nennen wir diese neue Familienförderungs- und Elternbildungsstrategie. Hier zur Übersicht stichwortartig die zentralen Bestandteile dieses Wirkungsrahmens: Im Kern des Projektes stehen die Kinder – sie sind der wichtigste Partner. Neu sind zwei Professionalisierungsinstrumente, die ´Lokale Zielgruppenservice-Segmentierung´ und die ´Überregionale Zielgruppenkompetenz-Segmentierung´. Hiermit erst kann der Kernansatz, die Aufladung des nahen Umfeldes mit professionellem Familien-Know-how gelingen. Weitere, z. T. altbekannte Erfolgsfaktoren sind:

  • Vernetzung der professionellen Familienförderung
  • Kontaktkette und Angebotsleitsystem
  • Schnittstellemanagement in einem breiten Projektbündnis
  • niedrigschwellige Angebote
  • professionelle Werbung und
  • Nobilisierung von Familienarbeit
  • Familienbildung als Selbstverständlichkeit
  • moderne Didaktik
  • Kinderbetreuung
  • Qualitätssicherung
  • Kenntnis der Situation vor Ort und schließlich die
  • unumgängliche „Nachhaltigkeit“ der Reorganisationsbemühungen.

Bis auf die ersten vier, sind die meisten dieser Rahmenbedingungen für Familienförderung und Elternbildung wahrscheinlich unbestritten. Ihrem Wirksamwerden stehen allerdings drei Engpässe im Wege: Erstens werden immer nur Teilstrukturen realisiert, nie das Ensemble. Es kommt so nie zu einer kritischen familiennahen Wirkungsenergie. Zweitens wird diese Realisierung auf einem organisatorischen Niveau betrieben, das die meisten Ideen und Energien der Projektbeteiligten absorbiert bevor sie wirksam werden können. Wir stehen also auch vor einem organisatorischen Perspektivenwechsel. Die für große soziale Projekte notwendige organisatorische Professionalität haben wir in einem „Oktogon der Reformerfolgsfaktoren” zusammengefasst. Von den erfolgskritischen acht Momenten finden sich in sozialen (Modell-) Projekten in Bremen wie in Deutschland allenfalls drei Projektbedingungen. Bleibt der dritte Engpass: die Familienbildungsthemen, die Familien wollen. Hierzu bietet der Bericht die Ergebnisse von Elternbefragungen und teilnehmender Kursbeobachtungen.

Wer also wissen will, wie zielgruppengerechte Familienförderung und Elternbildung aussehen könnte und vor allem, wie man dorthin gelangt, der sollte diesen Bericht lesen. Aber Vorsicht: Gefragt nach den Lernergebnissen, die sie als Teilprojekt-Verantwortliche im Verlaufe der Projektdurchführung gewannen, fiel der Satz „Das Schwierigste war das Rausgehen”!

Literatur

  • Carle, Ursula / Metzen, Heinz (2005): Vorbeischauen oder Rausgehen. Familienförderung und Elternbildung vor dem anstehenden und (un)gewollten Perspektivenwechsel.
  • Abschlussbericht der wissenschaftlichen Begleitung zum Modellprojekt »Bremisches Strukturkonzept Familienbildung«, September 2003 – Mai 2005. Berlin: Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ).

Hier finden Sie weitere Informationen zur Studie und zum Evaluationsansatz:

Evaluation-Abschlussbericht

Erstellt und zuletzt geändert am 15. März 2006
 

Staatsinstitut für Frühpädagogik und Medienkompetenz
Logo: Staatsinstitut für Frühpädagogik und Medienkompetenz