Was steckt hinter der Diagnose “Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts- Syndrom” (ADHS)?

Stefan Royer
Royer

ADHS ist heutzutage kein unbekanntes Störungsbild mehr. In den letzten Jahren waren immer mehr Kinder davon betroffen. Studien und wissenschaftliche Untersuchungen forschen verstärkt an Ursachen und Hintergründen. Der Autor greift diese Thesen auf und erklärt zusätzlich Entwicklungsverläufe und Hilfsmöglichkeiten.

ADHS – eine Modeerscheinung oder tatsächlich die häufigste psychiatrische Störung im Kindes- und Jugendalter?

Aggressive, dissoziale und hyperkinetische Verhaltensaufälligkeiten gehören zu den häufigsten Vorstellungsgründen in therapeutischen und kinderpsychiatrischen Einrichtungen. Besonders das hyperkinetische Syndrom oder wie die englische Kurzbezeichnung lautet – ADHS (Attention Deficit Hyperactivity Disorder) – hat sich in den letzten Jahren zunehmend in das Bewusstsein der Öffentlichkeit gedrängt und auch in den Medien eine entsprechende Resonanz erfahren. Man kann bereits sagen, dass eine wahre Hysterie rund um dieses Störungsbild ausgebrochen ist und extreme Positionen und Haltungen zwischen Fachleuten ausgelöst hat.

Zahlreiche Studien weisen alarmierende Ergebnisse vor, wo eine Zunahme dieses Störungsbildes festgestellt wird, das noch vor wenigen Jahren gänzlich unbekannt war. Je nach Studie sind 3-15 Prozent einer Jahrgangsstufe bei Schulkindern von diesem Störungsbild betroffen. Was versteht man nun genau unter dieser Diagnose?

Was ist ein hyperkinetisches Syndrom?

Im wesentlichen scheinen bei Kindern und Jugendlichen mit dem Störungsbild ADHS drei Kernbereiche betroffen zu sein, nämlich:

  • Die Aufmerksamkeit: d.h. diese Kinder sind leicht ablenkbar, unkonzentriert, die Aufmerksamkeitsspanne ist kurz, sie scheinen nicht zuzuhören, vergessen Dinge, haben keine Ausdauer, etc.
  • Die Impulsivität: das Kind handelt unüberlegt, kann nicht warten, bis es an die Reihe kommt, unterbricht und stört andere häufig, hat eine geringe Frustrationstoleranz, ist unorganisiert und unordentlich, stimmungslabil, reagiert übermäßig und fühlt sich schnell angegriffen, etc.
  • Die Aktivität: ist übermäßig ausgeprägt, d.h. das Kind ist ständig in Bewegung, es zappelt, ist rastlos, motorisch exzessiv und kann nur schwer ruhig halten, hat Schwierigkeiten, ruhig zu spielen.

Die Hyperaktivität, das heißt ein Übermaß an Aktivität, kann bei einem Drittel aller betroffenen Kinder kaum oder nur sehr gering ausgeprägt sein. Das heißt jedoch nicht automatisch, dass bei Vorliegen einzelner dieser angeführten Merkmale sofort von einer hyperkinetischen Störung gesprochen werden kann, weil diese Auffälligkeiten auch bei anderen Störungsbildern oder Belastungssituationen auftreten können, wie bei:

  • Schulischer Überforderung bzw. Unterforderung.
  • Lernbehinderungen und geistige Retardation.
  • Angststörungen.
  • Depressive Verstimmungen und emotionale Belastungen (Verlust geliebter Person, Trennungssituation, Umzug, Schulwechsel, etc.).
  • Hyperkinetische Auffälligkeiten infolge schwerer psychiatrischer Erkrankungen.

Für die Diagnose einer hyperkinetischen Störung müssen nun mehrere Merkmale aus den angeführten Bereichen über einen längeren Zeitraum, d.h. zumindest 6 Monate auftreten. Als Kriterium für die Diagnose gilt auch, dass die auftretenden Symptome in verschiedenen Lebensbereichen vorhanden sein müssen, die jedoch unterschiedlich stark sein können. Vor allem in Situationen, die eine hohe Aufmerksamkeits- und Konzentrationsspanne erfordern, haben Kinder und Jugendliche mit einer hyperkinetischen Störung große Schwierigkeiten, die altersadäquaten Anforderungen, die an sie gerichtet werden, zu erfüllen. Dass das vor allem im Unterricht eine große Beeinträchtigung darstellt, und nicht nur für das Kind selbst, sondern auch für die gesamte Klassengemeinschaft und die Lehrer, scheint auf der Hand zu liegen. Nicht selten werden daher die betroffenen Kinder und Jugendlichen zu Außenseitern und ins soziale Abseits gedrängt. Dies ist jedoch gerade in der Zeit der Identitätsfindung und der Autonomieentwicklung problematisch, da das Zugehörigkeitsgefühl zu einer Gruppe diese Prozesse ganz wesentlich beeinflusst und fördert.

Charakteristisch ist auch, dass die Schulleistungen im Vergleich zu den nicht betroffenen Kindern und Jugendlichen schlechter sind. Es wird häufiger eine Klasse wiederholt, die Schulnoten sind schlechter und auch die Leistungen in den Sprach-, Lese-, Rechtschreib- und Rechentests sind geringer.

Welche Ursachen sind für hyperkinetische Störungen zu finden?

Fest steht hierbei nur eins, nämlich, dass eine genaue, eindeutig zu benennende Ursache noch nicht zu finden ist. Es kann nach dem jetzigen Stand der Wissenschaft davon ausgegangen werden, dass ADHS eine multifaktorielle Erkrankung ist. Vier Bereiche können als Ursachenquelle angenommen werden:

  1. Genetische Faktoren.
  2. Neurologische Faktoren.
  3. Störungen des Immunsystems.
  4. Psychosoziale Faktoren.

Zudem haben auch Säuglinge mit einem Geburtsgewicht unter 1500 Gramm ein um bis zu 60 Prozent höheres Risiko zu einer hyperkinetischen Störung. Neuere Studien ergaben auch, dass bei Schreibabys ebenfalls ein höheres Risiko besteht. Auch Kinder von Müttern mit starkem Alkoholmissbrauch während der Schwangerschaft sind einem höheren Risiko ausgesetzt.

Ursprünglich glaubte man, dass Komplikationen während der Schwangerschaft und der Geburt, sowie in der Säuglingszeit als Auslöser für eine hyperkinetische Störung anzusehen sind, was jedoch nach jetzigem Stand der Wissenschaft nicht mehr haltbar ist.

Fest steht zur Zeit, das besonders die genetischen (erblichen) Faktoren bei der Entwicklung dieser Störung eine große Rolle spielen. In Zwillingsstudien (eineiige Zwillinge tragen die identische Erbinformation in sich) konnte gezeigt werden, dass sich die Kinder in hohem Maße in ihren hyperkinetischen Auffälligkeiten ähneln.

Ein weiterer Hinweis für eine erbliche Komponente ist, dass deutlich mehr Buben als Mädchen von einer ADHS betroffen sind. Das Verhältnis beträgt fünf zu eins.

Es wird zusätzlich auch versucht, mit Hilfe molekulargenetischer Verfahren einzelne Stellen im menschlichen Erbgut zu bestimmen, die an der Vererbung beteiligt sind.

Was geschieht im Gehirn?

Bei Kindern mit hyperkinetischem Syndrom sind die Gehirnareale, die die Aufmerksamkeit und Wahrnehmung steuern, schlechter ausgebildet als gewöhnlich. Die Aufmerksamkeit ist ein komplexes Funktionsprinzip des Gehirns, es gibt kein klar lokalisierbares Aufmerksamkeitszentrum, sondern es müssen immer mehrere Gehirnteile aktiviert werden, damit die Aufmerksamkeitsfunktion gewährleistet ist. Diese anhaltende Aktivierung ist jedoch bei Kindern mit ADHS nicht gegeben. Daher kommt es zu den bereits umschriebenen Defiziten (Hyperaktivität, Impulsivität, Störung der Aufmerksamkeit, emotionale Labilität).

Die Bereiche im Gehirn, die die Aufmerksamkeit steuern benutzen zu ihrer Kommunikation den Botenstoff Dopamin. Dieser transportiert die eingehenden Informationen zu den Nervenzellen. Nun gibt es Ergebnisse, die zeigen, dass die Andockstellen, die an den einzelnen Synapsen für diesen Neurotransmitter existieren, den Botenstoff bei Kindern mit ADHS nicht aufnehmen können; die Folge ist, dass das Signal nicht weitergeleitet wird.

Zudem konnten bisher auch zwei Gene isoliert werden, das Dopaminrezeptor -D4-Gen und das Transporter-Gen DAT 1, die als Ursache für die Funktionsstörung im Gehirn angesehen werden können.

Wie verläuft die Entwicklung von Kindern mit hyperkinetischen Auffälligkeiten? Wann ist eine Störung erkennbar?

Schon im Säuglingsalter können einzelne Symptome einer hyperkinetischen Störung vorhanden sein. Ein hohes Aktivitätsniveau, ein veränderter Wach-Schlaf-Rhythmus, unregelmäßiger oder zu wenig Schlaf sind neben viel Schreien und oft wenig Sprechen charakteristisch. Auch das Berührungsempfinden und der Blickkontakt ist nicht entsprechend ausgeprägt. Die Aktivität ist erhöht. Diese Merkmale sind jedoch keineswegs bei allen Kindern vorhanden, die später mal von einer ADHS betroffen sind. Die Diagnose einer hyperkinetischen Störung lässt sich jedoch nicht vor dem Alter von drei Jahren stellen und selbst dann ist eine klare Abgrenzung immer noch sehr schwierig.

Im Kindergartenalter, zwischen drei bis sechs Jahren, sind die Anzeichen von motorischer Unruhe und übermäßiger Umtriebigkeit die sichtbarsten Anzeichen. Besonders in Spielsituationen fällt es dem Kind schwer, ruhig und ausdauernd dabei zu bleiben. Auch Wutausbrüche und das Einhalten von Grenzen gehören zu jenen Faktoren, die den Kindergartenalltag oft zu einer Tortur werden lassen. Rückstände können in allen Bereichen der kindlichen Entwicklung auftreten: in der Handlungsplanung- und -steuerung, in der Grobmotorik und Feinmotorik, was sich vor allem beim Zeichnen sichtbar wird. Das Unfallrisiko ist im Vergleich zu nicht betroffenen Kindern deutlich erhöht.

Im Schulalter beginnen dann oft die wirklich “großen” Probleme. Die Anforderungen an das Kind nehmen zu, ruhig sitzen, konzentriert sein, zuhören, Aufgaben zu ende führen etc. sind nur einige Bereiche, denen das Kind nicht gewachsen ist. Die Folge sind daher oft schlechte Leistungen und die schon angeführten Probleme beim Lesen, Schreiben und Rechnen. Hinzu kommen disziplinäre Probleme und oft aggressive Verhaltensweisen. In einer Vielzahl der Fälle ist dann natürlich auch das Selbstwertgefühl am Boden. Nicht selten erleben wir in der täglichen Praxis Kinder, die schon drei bis fünf Schulwechsel in den ersten drei Schuljahren hinter sich haben.

In der Familie werden die Probleme häufig an Routinetätigkeiten sichtbar (Hausarbeiten, das eigene Zimmer aufräumen, Schultasche einpacken etc.). Die ganze Familie ist dabei oft in einem Übermaß belastet, die ganze Aufmerksamkeit wird auf das betroffene Kind gerichtet und oft erleben sich Mütter und Väter hilflos und an der Grenze ihrer Belastbarkeit.

Welche Hilfen gibt es?

Unter bestimmten Voraussetzungen, wenn die Verhaltensauffälligkeiten stark ausgeprägt sind und im Zusammenhang mit anderen Behandlungsmethoden (psychotherapeutische und pädagogische Hilfen) kann eine medikamentöse Therapie bei Kindern mit ADHS sehr hilfreich sein. Es werden so genannte Stimulanzien eingesetzt, die im Bereich der Synapsen wirken. Die Funktion der Botenstoffe, wie die des Neurotransmitters Dopamin soll normalisiert und so eine schnellere Reizleitung zwischen den Neuronen ermöglicht werden. Häufig wird in der Behandlung von Kindern mit ADHS das Medikament Ritalin eingesetzt, bei ca. 70-90 Prozent wird so die Hyperaktivität und Impulsivität reduziert, sowie die Aufmerksamkeitsspanne verlängert. Die Wirkung hält jedoch nur so lange an, wie das Medikament gegeben wird.

Man muss sich daher im Klaren sein, dass eine medikamentöse Therapie nur dann erfolgreich ist, wenn sie erstens längerfristig, d.h. über mehrere Jahre und zweitens in Kombination mit anderen Therapieformen erfolgt. Das Medikament ist kein Wundermittel, es vermindert lediglich die Auftretenswahrscheinlichkeit problematischer Verhaltensweisen und schafft bessere Lernmöglichkeiten.

Das Medikament, warnen Kritiker, wird jedoch so häufig verschrieben, dass man davon ausgehen muss, dass viele Kinder mit einer nicht entsprechenden Diagnose eingestellt werden. Zudem sind mögliche Spätfolgen noch viel zu wenig erforscht. Als Nebenwirkungen können Durchschlafstörungen, Appetitminderungen, Bauch- und Kopfschmerzen, Tics, Weinerlichkeit, Depressivität, Blutdrucksteigerung, Wachstumsverzögerungen u.a. auftreten.

Wie schon angesprochen ist die medikamentöse Therapie nur im Zusammenhang mit zusätzlichen Therapieangeboten sinnvoll. Eine Familientherapie soll den Eltern Hilfen im Umgang mit dem schwierigen Kind geben und sie vor allem auch darin unterstützen, mit ihren eigenen Schwierigkeiten im Umgang mit dem Kind fertig zu werden, und zudem sollen Maßnahmen erarbeitet werden, damit die Familie nicht an diesem Problem zerbricht. In der Kinderpsychotherapie werden Grundfertigkeiten zur Aufmerksamkeit eingeübt, wie genaues hinschauen und hören, nacherzählen und Erlebtes wiedergeben. Soziales Kompetenztraining soll zur Verminderung von aggressivem Verhalten und zum Aufbau von kompetentem Sozialverhalten beitragen. Zudem wird an der Verminderung emotionaler Probleme gearbeitet und schließlich sind alle Aktivitäten, die das Selbstvertrauen des Kindes fördern von großer Bedeutung.

Wer kann abklären, ob es sich bei meinem Kind tatsächlich um eine hyperkinetische Störung handelt?

Da es sich bei einem hyperkinetischen Syndrom um eine sehr schwierig zu diagnostizierende Störung handelt, wird empfohlen, wenn Anzeichen hierfür vorliegen, unbedingt einen Experten aufzusuchen. Das sind in der Regel spezialisierte Kinderpsychologen und besonders geschulte Kinder- und Jugendpsychiater. Auch ist es ratsam, die Meinung von zumindest zwei unabhängigen Experten einzuholen. Bei schweren Beeinträchtigungen ist ein stationärer Aufenthalt in einer Klinik für Kinder und Jugendpsychiatrie ratsam, weil so eine optimale Medikamenteneinstellung möglich ist und anbahnende Therapiemaßnahmen getroffen werden können.

Die medikamentöse Therapie sollte streng kontrolliert von einem Kinder- und Jugendpsychiater durchgeführt werden; ein praktischer, nicht spezialisierter Arzt hat zumeist nicht die nötige Erfahrung.

In unserer Praxis erlebe ich immer wieder, wie sich Eltern nach anfänglichen medikamentösen Behandlungserfolgen vorschnell dazu verleiten lassen, die so notwendige Kombinationstherapie mit Psychotherapie abzubrechen. Die Therapie des Kindes mit einem hyperkinetischen Syndrom ist jedoch nur dann erfolgreich, wenn eine Fülle von Maßnahmen getroffen werden, die das ganze Umfeld in dem das Kind lebt und sich aufhält miteinbezogen wird.

Autor

Mag. Stefan Royer
Praxis für Psychotherapie (Verhaltenstherapie)
Antonigasse 39 Tür 4
A-1180 Wien

Tel.: +43 (0) 699 153 36 23

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Erstellt am 20. Februar 2002, zuletzt geändert am 24. Mai 2011

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