“Meins” – Kinder und Besitz

Elke Leger
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Was tun, wenn sich unser Kleinkind als egoistisches Monster entpuppt? Und wie gehen wir damit um, wenn uns das heranwachsende Kind mit seinen überzogenen Wünschen zum Wahnsinn treibt?

Mein Gott, ist uns das peinlich! So früh schon ein so ausgeprägtes Besitzdenken! Verunsichert entdecken wir an unserem Kind ein Verhalten, das wir gar nicht mögen: Sein Spielzeug hält es fest im Arm und denkt gar nicht daran, es auch mal anderen zu überlassen: “Meins!”

Dabei haben wir doch, kaum dass das Kind sprechen konnte, sozial verträgliches Verhalten eingeübt: das Buch vom Regenbogenfisch vorgelesen, der seine Schuppen herschenkt zum Wohle der Allgemeinheit, jedes Geschenk aus der Patschhand quittierten wir mit einem politisch korrekten “Danke” . Und nun sitzen wir am Sandkasten, die Sonne schickt ihre wärmenden Strahlen, alles könnte so schön sein. “Meins!” Dieses Monster-Kind! Warum will es alles für sich? Warum kann es seinen Sandeimer und die Backförmchen nicht mit anderen teilen? Schnellen Schrittes sind wir an der Sandkiste. Entwinden dem Egomanen Eimer samt Förmchen und überlassen sie dem Rivalen. Die anderen Mütter um die Szene herum nicken zufrieden, und wir fühlen uns bestätigt: Sozial verträgliches Verhalten müssen wir fördern. Aber unser Kind steht neben uns und staunt. Es versteht nicht, was es falsch gemacht haben könnte.

Jedes Kind ist ein Egoist

Ein Kleinkind hat noch keine Ahnung von Besitzen und Abgeben, von der Notwendigkeit, sich sozial zu verhalten. Es kann noch nicht wissen, wie sein Gegenüber fühlt und denkt – denn es hat genug damit zu tun, sich selbst zu erkennen und auszuprägen. In seiner ersten Lebenszeit versucht es, die Welt kennen zu lernen, und das kann es nur, indem es so tut, als gehörte sie ihm allein. Alles ist noch neu: der Geruch im Kinderzimmer und die Gesichter von Mutter und Vater, der Wind und der Regen und das Gefühl, die Hände im Sand zu vergraben. Am Anfang seines Lebens kann der kleine Mensch solche Sensationen nicht einfach nur ansehen und in seinem Gehirn speichern: Das Kind muss sie erleben, sich zu eigen machen – besitzen. Nach der ganzen Welt muss das Kind greifen, um sie zu begreifen.

Die egozentrische Phase

“Egozentristisch” nennen die Psychologen dieses besitzergreifende Empfinden am Anfang des Lebens. Das Kind und seine Welt sind eine Einheit. Und alles, alles gehört dem Kind: der Garten mitsamt all den Regenwürmern und das Kinderzimmer und die Mutter sowieso. Denn das Kind muss sich erst einmal einrichten in der Welt, es hat noch keinen Begriff für das “Du” , geschweige denn für das Teilen mit anderen. Das Kind ist die Welt, und die Welt ist für das Kind die Kulisse, in die es hinein geboren wurde und die es nun in Beschlag nimmt. Alles muss es bei sich haben, um es kennen zu lernen und sich vertraut zu machen. Sandeimerchen und Förmchen sind für die Mutter Gegenstände, die sie so nebenbei im Laden gekauft hat. Für das Kind aber sind diese Dinge sinnliche Erlebnisse: ein Geschenk der Mama; Zaubergeräte für Sand-Experimente. Sie duften nach Spielplatz-Spaziergang, nach Sand und nach Sonne. Diese Dinge sind Teil der langsam erkannten und eroberten Welt. So etwas gibt man nicht einfach her.

“Aber Sven möchte doch auch mal damit spielen!” Wie sinnlos ist ein solcher Appell! Das, was wir Erwachsenen unter “moralischem Verhalten” verstehen, und dazu gehört eben auch das Teilen mit anderen, ist dem Kind noch fremd. Das Kind ist ein Egoist, und das muss es auch sein. Es hat genug damit zu tun, sich in dieser fremden Welt einzurichten. Es hat erst vor kurzer Zeit sein “Ich” entdeckt; das “Du” ist noch kein Thema in den ersten beiden Lebensjahren.

Soziales Verhalten wächst allmählich

Noch bis weit in die Kindergartenzeit hinein reicht das, was wir als Egoismus bezeichnen. Denn noch immer ist das Kind weit entfernt von der Meta-Ebene, von der aus Erwachsene die Welt betrachten und bewerten. Mitgefühl, sich einfinden in andere Menschen, sich selbst zurücknehmen – das sind Werte, die ein Kind aus sich selbst heraus noch nicht leisten kann. Es steht so unmittelbar und direkt und leidenschaftlich in seinem noch neuen Leben. Erst allmählich, durch die Reaktionen seiner Mitmenschen, lernt es sich sozial zu verhalten. Lernt, sich in andere hinein zu versetzen. Lernt, dass es ein soziales Wesen ist. Und am besten lernt es das ganz ohne unsere Kommentare und Drängeleien. Denn es wird geprägt durch seine Umgebung, mehr als durch verbale Beeinflussungsversuche.

Seine auf sich bezogene Weltsicht geht erst allmählich über in ein Beobachten und Erfahren der Außenwelt – und dann beginnt das Kind, die Reaktionen anderer Menschen in sich aufzunehmen. Es beginnt sich Gedanken zu machen über die Reaktion auf sein Verhalten. Es merkt, dass es ein anderes Kind traurig macht, wenn es dessen Lego-Bauwerk umgestoßen hat. Es sieht das andere Kind weinen. Es fühlt, dass es selbst die Fähigkeit hat zu trösten, sieht sich selbst im sozialen Austausch mit den anderen und gibt von dem ab, was es mag, um akzeptiert zu werden in seinem Umfeld.

Wenn “Besitz” wichtig wird

Einige Jahre später kommt das Kind in eine Phase, in der das Haben-Wollen, und das im tatsächlichen Sinn von “Besitz” , ungemein wichtig ist. Die aktuelle CD, die modische Hose, der Ranzen mit dem angesagten Label … In der sozialen Gemeinschaft wachsen solche Wünsche, und deren Erfüllung empfinden Kinder oft als Maßstab für die Akzeptanz in der Gruppe. Die finanziellen Möglichkeiten der Eltern scheinen in dieser Phase die Weichen zu stellen fürs Lebensglück. Für ihre Wünsche brüllen ältere Kinder nicht die Nachbarschaft zusammen, aber sie jammern und klagen und betteln zum Herzerweichen.

Auch hier, wie damals im Sandkasten, ist Geduld die beste Medizin. Eltern, die dem ohne Aufregung begegnen, dem Kind deutlich erkennbare Herzenswünsche erfüllen, aber schnelllebigen Augenblicksbedürfnissen widerstehen, geben dem Kind, zusammen mit dem eigenen Vorbild, ein gesundes Fundament mit auf den Lebensweg. In diesem Alter können Kinder schon verstehen, dass Konsumgüter diesen kurzen momentanen Lebensabschnitt angenehm machen, aber dass sie nicht geeignet sind, um dem Leben einen Sinn zu geben. Eine Alternative zum Anhäufen von Markenklamotten – sei es die Begeisterung für Bücher, für Musik, für sportliche Aktivitäten – lenkt ab vom so vergänglichen Besitz.

Der beständigste Besitz ist das Wissen, sind die Fähigkeiten und Gefühle, die ein heranwachsender Mensch in sich trägt. Das Fundament dafür findet er im Elternhaus. Denn die Atmosphäre, die das Kind in seiner nächsten Umgebung schnuppert, saugt es in sich auf: sie ist der Nährboden für alle späteren Erfahrungen. Eine liebevolle Grundstimmung und ein anregendes Umfeld, selbst wenn die Randbedingungen nicht optimal sind, schenken dem Kind das nötige Selbst-Bewusstsein und damit die Basis für eigene Urteilskraft.

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Autorin

Elke Leger, Psychologin, Journalistin, Buchautorin, Mutter von zwei Kindern, viele Jahre Redakteurin einer Familienzeitschrift

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Elke Leger
Journalistin – Autorin – Psychologin
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Erstellt am 2. Juli 2003, zuletzt geändert am 6. August 2014

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