Verkleiden: Die Lust, neue Rollen auszuprobieren

Elke Leger
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Kinder lieben es, sich zu verkleiden. Sie schlüpfen in andere Persönlichkeiten, probieren sich und ihre Wirkung auf andere aus. Durch das Verkleiden lernen sie, andere Sichtweisen einzunehmen – eine wichtige Voraussetzung für das Sich-Einfühlen in andere Menschen.

Kein Kind, das sich nicht gern verkleidet, in eine andere Rolle schlüpft, und das nicht nur zur Faschingszeit. Schon die Kleinsten schieben ihre dicken Füßchen, kaum dass sie laufen können, in Mutters Schuhe oder wickeln sich Papas Krawatte um den Hals: Kuck mal, ich bin schon groß! Die gesamte Kindheit besteht zum großen Teil aus dem Ausprobieren ungewohnter Rollen: Der schüchterne Sven funktioniert jedes Stöckchen und sogar mittags den Löffel zur Pistole um. “Lass das” , sagen die friedliebenden Eltern, wenn er damit die Besucher bedroht. Aber Sven möchte stark und mächtig sein; nur in seiner Phantasie gelingt ihm das. Für sein Selbstwertgefühl ist das eine wichtige Phase. Und erfahrene Eltern wissen: Solche Drohgebärden sind kein Anzeichen für späteres Macho-Gehabe. Irgendwann werden sie überflüssig und verschwinden ganz von selbst.

Kinder in anderen Rollen

Wenn Kinder in eine andere Rolle schlüpfen, schaffen sie sich eine Gegenwelt, in der sie großartig sind und autonom; sie verwandeln sich am liebsten in Personen aus der Erwachsenenwelt, denn zu ihnen sehen sie auf. “Vater, Mutter, Kind” – das liebste Spiel im Vorschulalter. “Du wärst jetzt mal der Vater und kommst nach Hause und wir bringen dann das Kind ins Bett und dann gehen wir ins Konzert…” Stundenlang können Kinder ihre Impressionen aus der Welt der Erwachsenen wiedergeben. Und manche Mutter, mancher Vater mag sich ertappt fühlen, wenn er sich in einem solchen Spiel gespiegelt sieht: “Wenn du jetzt nicht den Teller leer isst, setzt es was…” Aufmerksame Erwachsene erkennen in solchen Spielen ihr eigenes Verhalten und ein Stück der Seelenlandschaft ihrer Kinder.

Glücklich die Kinder, denen Raum gegeben wird für diese Art des Ausprobierens. Denn mit dem Rollenwechsel bewältigen sie die Defizite und Ängste, die sie spüren: Wer Angst vor Gespenstern hat, wird gern für eine Weile selbst zum Gespenst und erschreckt zur Abwechslung mal die anderen.

Schätze aus der Klamottenkiste

Ein wichtiges Requisit im Kinderzimmer ist eine Kiste mit ausrangierten Kleidungsstücken. Hüte, alte Schuhe, Handtaschen, abgelegte Kleider. Einige Stücke Stoff, die ehemalige Gardine. Schon kann es losgehen mit der Maskerade und dem Sich-Ausprobieren in den unterschiedlichsten Rollen. Eine Handtasche, Mutters alte Pumps, ein Brillengestell, ein Kissen unterm Blümchenkleid und die Haare zum Dutt gesteckt: fertig ist die Lady. Dann die Probe vor dem Spiegel, sich drehen und begutachten, die passende Mimik und Gestik, vielleicht ein Dialog mit der Dame, die aus dem Spiegel lächelt… Oder Vaters altes Hemd samt Weste, ein aufgemalter Schnurrbart, ein Stöckchen mit einem Bindfaden dran – dieser Dompteur hat die wild fauchenden Sofakissen mit seiner Peitsche gut im Griff.

Viele Kinder mögen bei diesen Rollenstudien nicht gestört werden und werden verlegen, wenn ein Erwachsener Zeuge ihrer Verwandlung wird. Es ist keine Show, die sie inszenieren, sondern sie probieren sich aus, versetzen sich in die unterschiedlichsten Rollen. Eine wichtige Voraussetzung, um Toleranz entwickeln zu können, ist die Empathie, das Sich-Einfühlen in andere Menschen, das Verständnis für deren Denk- und Handlungsweisen. Wie könnte ein Kind das besser lernen als durch den spielerischen Wandel der Identität! Darum sind diese Spiele, wie alle, die aus der Seele kommen, wichtig für die Entwicklung der Persönlichkeit. Sie bieten einen Freiraum, in dem moralische Anforderungen für eine Weile außer Kraft gesetzt werden. Warum verkleidet sich Marie so gern als Hexe? “Weil Hexen so schön böse sind!”

Passform für die Seele

Das Verkleiden beim Faschingsfest hat andere Qualität als das Rollenspiel daheim. Hier geht es um das Sich-Zeigen, um die Reaktionen der anderen. Und doch wird sich ein Kind auch hier nur in einem Kostüm wohl fühlen, das ihm entspricht. Ein Kind, das Tiere über alles liebt, wird lieber das zauselige, notdürftig zusammengenähte Bärenkostüm tragen als das teure Torero-Outfit aus dem Kaufhaus. Ein Mädchen, das gern so unabhängig, wild und stark wie Pippi Langstrumpf wäre, wird sich wohl nicht als Fee präsentieren wollen. Und manche Kinder möchten sich einfach nur bunt und lustig zeigen, ohne eine bestimmte Rolle zur Schau zu stellen: grell gefärbte Haare, viel Farbe im Gesicht, ein schlabberiges Ichweißnichtwas um den Körper geschlungen und ein fröhliches Lachen im Gesicht. “Als was gehst du denn?” “Als gar nix!” Viel wichtiger als die Konfektionsgröße ist die richtige Passform für die Seelenlage.
Es soll allerdings Kinder geben, die ihre Mütter zur Verzweiflung bringen mit Verkleidungswünschen, die weder der Ästhetik-Norm entsprechen noch leicht herzustellen sind. Max zum Beispiel isst leidenschaftlich gern Würstchen. Keine Frage, als was er zum Fasching erscheinen wollte. Als Bockwurst nämlich. Arme Mutter. Sie setzte sich an die Nähmaschine und brachte in ein paar Nachtschichten ein präsentables Kostüm zustande. Es gab an diesem Rosenmontag im Kindergarten ein überglückliches Bockwürstchen. Es hieß Max.

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Autorin

Elke Leger

Psychologin, Journalistin, Buchautorin, Mutter von zwei Kindern, viele Jahre Redakteurin einer Familienzeitschrift

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Elke Leger
Journalistin – Autorin – Psychologin
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Erstellt am 2. Juli 2003, zuletzt geändert am 6. August 2014

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