Wie lernt mein Kind, mit anderen Kindern zu spielen?

Dr. Joachim Bensel
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Der Grundstein für das Sozialverhalten eines Menschen wird bereits mit der Geburt gelegt. Erst lernen Babys von Erwachsenen, mit zunehmendem Alter immer mehr von anderen Kindern, mit denen sie zusammen sind. Dann beginnen sie, andere Kinder nachzuahmen, miteinander zu lautieren oder zu sprechen, sich anzulächeln und sich gegenseitig Spielzeuge anzubieten oder wegzunehmen. Auch wenn die Kinder im frühen Alter eher parallel nebeneinander spielen, wird hier viel gelernt, worauf im Kindergartenalter aufgebaut werden kann. Kinder lernen am besten und am meisten von anderen Kindern, weshalb es die Altersmischung für Kinder einfacher und verlockender macht, immer wieder neue Entwicklungsschritte zu gehen.

Der entscheidende Grundstein für ein positives Sozialverhalten wird viel früher gelegt, als man oft annimmt. Vom ersten Tag an lernt das Kind, stabile Beziehungen aufzubauen. Dies zu ermöglichen und zu unterstützen ist eine wichtige Aufgabe für uns Erwachsene. Wie alles beginnt und soziale Kompetenz entsteht, beschreibt Joachim Bensel.

Zwei oder mehr Kinder bei einem harmonischen, aufeinanderbezogenen Spiel beobachten zu können, ist ein schöner Anblick. Ein gelungenes Spiel zwischen zwei oder mehr Kindern ist jedoch genauso wenig eine Selbstverständlichkeit wie ein so genanntes gutes Gespräch zwischen Erwachsenen. Verschiedenste Entwicklungsvoraussetzungen müssen gegeben sein, die Kinder müssen ein bestimmtes Alter erreicht haben, über eine Grundausstattung an sozialer Kompetenz verfügen, und die Umgebungsfaktoren müssen derart gestaltet sein, dass sie ein solches harmonisches Spiel zulassen.

Nach der Geburt: Die Grundlagen werden gelegt

Schauen wir uns doch einmal die frühen Anfänge des kindlichen Sozialverhaltens an. Die ersten wichtigen Sozialpartner für das Kind sind in der Regel die Eltern. Bereits kurz nach der Geburt sind sie diejenigen, die zuerst den Blickkontakt mit dem Neugeborenen aufnehmen, eine Kontaktchance, die der Säugling begierig wahrnimmt. Mit Blickaufforderung und Blickabwendung vermag schon der junge Säugling zu zeigen, nach wie viel Sozialkontakt ihm gerade zumute ist – auch ohne Worte, allein mit seinen Händen, seinem Körper und seiner Mimik. Einfühlsame Bezugspersonen können diese Signale entsprechend interpretieren und darauf reagieren. Diese Einfühlsamkeit ist übrigens der Grundbaustein für eine spätere sichere Bindung zwischen Mutter bzw. Vater und Kind. Am Anfang ist das Lächeln noch sehr unspezifisch und wird jedem Gesicht entgegengebracht, das im kindlichen Blickfeld auftaucht. Dieses so genannte Engelslächeln verschwindet aber sehr bald, und spätestens mit 6 Wochen tritt an seine Stelle ein echtes Lächeln, das denjenigen geschenkt wird, die auf kindgemäße Weise mit dem Säugling interagieren: Den richtigen Abstand zu ihm einhalten, die Augenbrauen hochziehen, die Stimme anheben und anderes mehr. Dieses intuitive Elternverhalten kann auch von älteren Geschwistern oder anderen Bezugspersonen gezeigt werden. Der Säugling nimmt sehr schnell Unterschiede wahr. Er merkt zum Beispiel, dass sein Vater körperlich stürmischer mit ihm umgeht als das die Mutter tut, die meist zärtlicher und vorsichtiger ist. Hier beginnen bereits die ersten Unterteilungen in Lieblingspartner für verschiedene Aktivitäten; so wird beispielsweise der Vater beim “Herumtollen” und die Mutter beim Schmusen bevorzugt.

Verschiedene Kontakte

Erwachsene sind bis zum Kindergartenalter die klaren Favoriten bei allen Aktivitäten, jedoch zeigt sich schon bei 6 bis 12 Monate alten Kindern durchaus Interesse an Gleichaltrigen. Mit Blickkontakten, Lächeln, Vokalisieren, nebeneinander Herspielen und wechselseitigem Nachahmen stehen bereits recht früh einige Bausteine zur Verfügung, mit denen Interesse am Kontakt mit Gleichaltrigen ausgedrückt werden kann. Sind die Säuglinge in der Lage, sich durch Drehen, Wälzen, Kriechen oder Krabbeln in die Nähe der Gleichaltrigen zu bewegen, unternehmen sie auch schon erste Berührungsversuche. Die ersten richtigen Interaktionen finden statt, indem z.B. ein Gegenstand, mit dem ein anderes Kind spielt, erobert wird; für Säuglinge und Kleinstkinder verbindet sich damit noch kein moralisch verwerfliches Verhalten. Besitzansprüche, Regeln, die eingehalten werden müssen – all das lernen sie erst später. Aber es gibt nicht nur Streitigkeiten um Besitz. Geben und Nehmen ist bereits bei 10 bis 12 Monate alten Kindern eine erfolgreiche Strategie zur freundlichen Kontaktaufnahme. Ja, es kann sogar sein, dass ein Baby einen “Konflikt” zu beseitigen versucht, indem es seinem Spielpartner seinen Besitz anbietet.

Immer mehr Fähigkeiten

Kleinkinder in Gruppen lernen schnell die so genannte Regel der Priorität, d. h. wer sich zuerst mit einem bestimmten Gegenstand beschäftigt, erwirbt damit automatisch einen vorübergehenden Besitzanspruch. Das Wegnehmen dieses Besitzes führt beim “Dieb” zu Unsicherheit und Stress, auch verliert er den gestohlenen Gegenstand in den meisten Fällen schnell wieder. Mit zunehmendem Ich-Bewusstsein ist ein Kleinstkind auch in der Lage, sich in die Situation einer anderen Person hineinzuversetzen und nachzuempfinden, was diese gerade fühlt. Es weiß dann, wie es ist, wenn einem etwas weggenommen oder man auf irgendeine Weise ausgeschlossen wird. Um Mitleid mit dem anderen Kind empfinden zu können und die Welt mit dessen Augen zu sehen, muss ein Kind allerdings selbst Einfühlungsvermögen erfahren haben: Wurden von seinen Bezugspersonen seine eigenen Hilfe suchenden oder freudigen Appelle nicht bemerkt oder gar bestraft, lernt das Kind diese Gefühlsäußerungen zu unterdrücken; es wird sie auch bei anderen nicht bemerken und nicht reagieren. Im Normalfall zeigen sich jedoch bereits im zweiten Lebensjahr die ersten Tröstungsversuche, Gleichaltrige werden beispielsweise mit Geschenken wieder aufgemuntert.

Frühe Gruppen helfen dem Kind

Generell gibt es in Kleinstkindergruppen bedeutend mehr positive soziale Verhaltensweisen als negative: Bei unseren Krippen-Beobachtungen zum Beispiel trafen wir auf viel mehr soziales als aggressives Verhalten. Dennoch sind Sozialkontakte zwischen Kindern unter drei Jahren noch relativ selten. Die meiste Zeit verbringen sie mit Alleinspiel und – wenn sich die Gelegenheit dazu bietet – im Spiel mit erwachsenen Sozialpartnern. Häufig ist auch das so genannte Parallelspiel, d. h. das Spielen mit dem gleichen Spielzeug ohne Versuch, die Nachbarspieler zu beeinflussen. Jedoch wird das Geschehen von allen Seiten aufmerksam beobachtet, und so kann das Parallelspiel auch eine Strategie sein, um mit anderen Kindern Kontakt aufzunehmen. Dann beginnen die Kinder miteinander zu sprechen, sich anzulächeln und sich gegenseitig Spielzeug anzubieten. Hieraus entwickelt sich im 2. Lebensjahr das aufeinander bezogene und wechselseitige Spiel – man beginnt sich abzusprechen und aufeinander einzugehen, wie z. B. beim Fangen oder Verstecken. Es scheint so, als wüssten die Kinder zunehmend mehr miteinander anzufangen. Die Dauer einzelner Spielszenen nimmt zu wie die gesamte mit anderen Kindern verbrachte Zeit.

Die Basis ist geschaffen: Im Kindergarten wird aufgebaut

Nach Eintritt in den Kindergarten spielen die Kinder schließlich mehr miteinander als allein oder mit den Erwachsenen. Damit die Interaktion mit den Kindern gelingen kann, haben sie bis dahin sehr viel an sozialer Kompetenz hinzugewinnen müssen. Es ist ein entscheidender Entwicklungsschritt, in diesem Alter mit anderen Kindern zurechtzukommen: Deren Vorstellungen vom Spielablauf und andere Eigenheiten tolerieren, offen sein für die Ideen der anderen, um sie ins Spiel integrieren zu können, und in der Lage sein, Konflikte so auszuhandeln. Stabile Freundschaften sind bereits im 2. Lebensjahr möglich, wenn sich Spielpartner finden, die gut zueinander passen.

Soziale Kompetenz ist auch die Fähigkeit, in eine bereits bestehende Spielgruppe einsteigen zu können. Eine Erfolg versprechende Strategie ist übrigens folgende: Nach anfänglichem abwartendem Beobachten des Gruppengeschehens beginnt der Neuankömmling, die Gruppenaktivität nachzuahmen, sich dadurch in das Spiel einzubringen und die Gruppe auf sich aufmerksam zu machen. Gelungen ist der Spieleintritt in dem Moment, in dem das neue Kind eine Idee liefert, die das Spiel beeinflusst und von den anderen Kindern positiv aufgenommen wird.

Auch im Spiel mit Gleichaltrigen bevorzugen die Kinder das Spiel mit einem Partner. Dies scheint den idealen Weg für die Entwicklung sozialen Zusammen-Spielens darzustellen. Vom 3. bis zum 7. Lebensjahr nimmt das Gruppenspiel dann zu, wenn die Kinder besser in der Lage sind, ihre Aufmerksamkeit auf die verschiedenen Gruppenmitglieder zu verteilen und komplexere Aktionsfolgen zu handhaben. Wichtig sind dafür auch entsprechende sprachliche Fähigkeiten. Erwachsene Spielpartner sind für Kinder unter 3 Jahren wahrscheinlich auch aus diesem Grunde so interessant. Sie sind in der Lage zu erkennen, an welchem Punkt seiner Entwicklung das Kind momentan ist, was es möchte, wie viel Anregung es braucht. Komplexere Interaktionen finden deshalb in diesem Alter vorwiegend mit Erwachsenen statt. Aber wir hatten ja schon gesehen, dass Kinder schon sehr früh ihre Favoriten für bestimmte Tätigkeiten haben. Während sie Erwachsene z.B. beim Vorlesen bevorzugen, sind Gleichaltrige die idealen Spielpartner zum Herumtoben und zum Austesten des eigenen Geräuschrepertoires. Wenn man Trost braucht oder sich auch nur nach einer gewissen Zeit rückversichern will, wendet man sich natürlich nicht anderen Kindern zu, sondern einer erwachsenen Bezugsperson. Auch in kniffligen und neuartigen Situationen sind die Erwachsenen die Ersten, die man anschaut, um aus ihrem Verhalten eine Einschätzung der Sachlage abzulesen und zu schauen, wie man sich selbst zu verhalten hat.

Für gute Rahmenbedingungen sorgen

Das Interesse an anderen Kindern ist überhaupt stark von den Begleitumständen der Kontaktaufnahme abhängig. Ist der Ort vertraut, eine Sicherheitsbasis vorhanden, die Spielpartner bekannt, der Raum groß genug, die Gruppe klein genug, entstehen Sozialkontakte viel leichter und beständiger. Der Einfluss der Erwachsenen auch auf das Verhalten der Kinder untereinander ist nicht zu unterschätzen. Kinder, die eine unsichere Bindung zu ihrer Mutter haben, sind sozial weniger kompetent. Auch einfühlsame Tagesmütter können das Sozialverhalten der Kinder positiv beeinflussen. So können sie das Abgeben und Teilen fördern, die Hilfsbereitschaft gegenüber anderen Kindern, das Wartenkönnen und andere Dinge mehr. Bei Tagesmüttern, die weniger einfühlsam sind, zeigen sich diese Verhaltensweisen seltener, auch ist das Spiel der Kinder untereinander weniger komplex: Es gibt beispielsweise weniger Rollenspiele. Das Rollenspiel tritt besonders in der 2. Hälfte des 3. Lebensjahres in den Vordergrund. Die Kinder beginnen miteinander Eltern und Kind zu spielen, Operationen durchzuführen oder auf Safari zu gehen. Dieses Fantasiespiel nimmt im Kindergartenalter immer weiter zu und ist ein gutes Zeichen gewachsener Sozialkompetenz.

Vieles spricht dafür: Altersmischung

Kinder sind von Anfang sehr aufmerksam anderen Kindern gegenüber. Kinder lernen von Kindern, die Beziehungen zu ihnen leisten einen eigenständigen Beitrag zur Entwicklung. Je jünger, umso geringer ist das Interesse an Kindern, die genauso alt sind wie das Kind selbst; umso größer ist das Interesse an Kindern, die älter sind.

Dieses Prinzip macht man sich in so genannten altersgemischten Gruppen zunutze. Während früher beispielsweise in Kinderheimen oder Kinderkrippen die Kinder jeweils in Altersjahrgängen betreut wurden, arbeitet man heute mit möglichst altersgemischten Gruppen, d. h. unter familienähnlichen Bedingungen. Dies hat in Nordrhein-Westfalen dazu geführt, dass es dort keine eigenständigen Kinderkrippen mehr gibt. Kinder unter 3 Jahren sind vollkommen integriert in altersgemischte Gruppen der Kindertagesstätten. Breite Altersmischungen von 0 bis 6 oder sogar 0 bis 12 Jahren in einer Art Kinderhaus sind keine Seltenheit mehr. Ältere Kinder sind attraktive Vorbilder für die jüngeren. Für die Älteren ist dies nicht nur schmeichelhaft, sondern es fördert zudem ihr Verantwortungsbewusstsein Jüngeren gegenüber; sie helfen den Jüngeren, trösten sie bei Bedarf, zeigen ihnen, was sie bereits selbst wissen oder können und freuen sich mit ihnen über ihre Lernfortschritte. Auch üben und festigen sie dabei ihre eigenen Kenntnisse und Fähigkeiten.

Eine wichtige Entwicklungschance für das Kind in der altersgemischten Gruppe besteht auch darin, dass es im Laufe seiner Zugehörigkeit zur Gruppe verschiedene Rollen einnimmt. Es gehört zunächst zu den Jüngsten und besonders umsorgten Kindern, wächst dann zunehmend aus der Kleinkindrolle heraus und erhält immer mehr Rechte, aber auch Pflichten und kann mehr Verantwortung übernehmen. Man geht ebenfalls davon aus, dass die Rollenstruktur in altersgemischten Gruppen variabler bleibt und es seltener zu rigiden Rangordnungen oder verfestigten Außenseiterpositionen kommt.

Verschiedene Untersuchungen belegen, dass Kinder in altersgemischten Gruppen mehr soziales Verhalten zeigen, d. h. Teilen und Abgeben, Toleranz und kooperatives Verhalten, eine bessere Entwicklung des Selbstvertrauens. Auch waren Freundschaften unter Kindern in altersgemischten Gruppen dauerhafter als in altersgleichen Gruppen. Eine amerikanische Studie von Carole Howes kommt zu dem Ergebnis, dass Kinder im Alter von 16 bis 23 Monaten durch ältere Kinder deutlich im Sprachverhalten sowie im Rollenspiel angeregt wurden. Die älteren Kinder waren für die jüngeren viel attraktiver als die gleichaltrigen.

Voraussetzung für diese Entwicklungschance bleibt natürlich eine geringe Gruppengröße und eine ausreichende Anzahl von erwachsenen Betreuungspersonen. Gerade eine kleine familiäre Gruppe unter Leitung einer Tagesmutter bietet sich also aus diesem Grund besonders an. Neben einer abwechslungsreicheren Tätigkeit bietet die breite Altersmischung eine wichtige pädagogische Chance, die auch von Tagesmüttern genutzt werden sollte.

Quelle

Aus: ZeT – Zeitschrift für Tagesmütter und -väter 1999, Jg. 6, S. 8-11.

Weitere Beiträge des Autors hier in unserem Familienhandbuch

Autor

Dr. rer. nat. Joachim Bensel, Humanethologe, Mitinhaber der Forschungsgruppe Verhaltensbiologie des Menschen (FVM). Forschungsprojekte zur Fremdbetreuung, zur Verhaltensentwicklung und chronischen Unruhe im Säuglingsalter und zu Ursachen von Gewalt und Destruktivität im Kindes- und Jugendalter. Seit 1993 Forschungen auf dem Gebiet des Säuglingsschreiens, Leiter der “Freiburger Säuglingsstudie” .

Kontakt

Dr. rer. nat. Joachim Bensel
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Erstellt am 7. Oktober 2003, zuletzt geändert am 17. März 2015