Warum die letzten Wochen in der Tagespflege von großer Bedeutung sind: Aller Abschied ist schwer

Dr. Joachim Bensel
Bensel-223x300

Abschied nehmen fällt nicht nur Erwachsenen schwer. Besonders Kinder leiden unter dem Verlust von Bezugspersonen. Deshalb ist es wichtig, die Entwöhnungsphase richtig zu gestalten.

Manchmal geschieht es nach wenigen Monaten; manchmal erst nach einigen Jahren. Doch irgendwann ist der Zeitpunkt gekommen, an dem das Kind von der Tagespflege in eine institutionalisierte Betreuungseinrichtung, meist in den Kindergarten, seltener in die Grundschule, wechselt. Manche Eltern sind in dieser Situation vielleicht versucht zu denken: “Mein Kind kennt ja Betreuung außer Haus schon, also kein Problem!” Aber auch “alten Hasen” steht ein Abschied und eine noch unsichere, schwer einzuschätzende Zukunft bevor. Für das Kind ist dies ein mehr oder minder großer Einschnitt in seine Biografie, den es erst einmal genauso verkraften muss wie etwa den Umzug in eine andere Wohngegend.

Der Freundeskreis verändert sich und es gilt, sich in eine neue Sozialgruppe zu integrieren. Das Kind muss noch mehr als bisher auf andere Kinder zugehen, sich in bereits bestehende Gruppen mit eigenen Spielideen einbringen, um akzeptiert zu werden. Alles ist noch unbekannt, lauter, größer und voller. Wo vormals noch ein bis drei andere Kinder waren, auf die es sich einstellen und mit denen es die Bezugsperson teilen musste, können es nun mehr als 20 sein. Das Kind hat darüber hinaus eine neue Bindung zu einer erwachsenen Bezugsperson zu knüpfen, um das Getrenntsein von zu Hause zu bewältigen. Das Regelwerk des Kindergartens, das von dem in Familie und Tagesfamilie durchaus abweicht, muss gelernt werden.

Doch es ist mehr als das: Nicht nur die Gewohnheiten des Alltags und die verinnerlichte Umgebung ändern sich, Freundschaften werden beendet oder nehmen eine neue Gestalt an; darüber hinaus wird vor allem auch die Beziehung zu einer der wichtigsten Bezugspersonen der frühen Jahre, der Tagesmutter oder dem Tagesvater, abgebrochen. In diesem Sinne stehen die Abschied nehmenden Tageskinder vor einer doppelten Aufgabe. Sie müssen den Eintritt in Kindergarten bzw. Schule bewältigen und gleichzeitig den Abschied von der Tagesmutter. Eingewöhnung und Entwöhnung stehen gleichermaßen an. Für einen optimalen Übergang in die neue Lebensphase müssen alle beteiligten Gruppen von Erwachsenen – die Eltern, die Tagesfamilie, die ErzieherInnen oder LehrerInnen – möglichst gut zusammenarbeiten. Nur so kann das Kind den Eintritt in die neue Lebensphase ohne allzu große Schwierigkeiten meistern.

Die Entwöhnung

Die Trennungsphase sollte vorzugsweise in einer stressfreien Zeit stattfinden, d. h. nicht erst kurz vor Kindergarten- oder Schulbeginn, sondern bereits in den Ferienwochen davor. Für diese Zeit sollten die Eltern Urlaub nehmen. Der Vorteil liegt auf der Hand: Die Entwöhnung kann stufenweise, in der notwendigen Langsamkeit vollzogen werden – so wie auch die Eingewöhnung in die Tagespflege stattgefunden haben sollte. Tanja Kurth (1999) beschreibt die Stufen in ihrem Eltern- und Tagesmutterratgeber folgendermaßen:

  1. Am Anfang wird das Kind von der Mutter an ein oder zwei Tagen der Woche früher abgeholt.
  2. Eine Woche darauf fällt bei Halbtagskindern ein ganzer Tag, bei Ganztagskindern ein halber Tag weg.
  3. Nach einer weiteren stufenweisen Reduzierung in den folgenden ein bis zwei Wochen wird eine reine Familien- oder Urlaubswoche eingeschoben.
  4. Nach dieser intensiven Familienphase beschränkt sich der Besuch bei der Tagesmutter auf ein- bis zweimal in der Woche, vorzugsweise auf nachmittags.

Auch nach Kindergarten- oder Schuleintritt empfiehlt es sich, den Kontakt noch regelmäßig aufrechtzuerhalten. Je nach Befindlichkeit des Kindergarten- oder Schulkindes sollte für ein paar Wochen, an einem Wochentag, noch einmal “Tagesmutterzeit” sein. Bei Kindergartenkindern ist dies relativ leicht zu bewerkstelligen, die aufregende neue Startsituation wird hierdurch sogar etwas abgemildert. Bei Schulanfängern bietet sich ein Nachmittag zum Tanken alter “Nestwärme” an.

Auch wenn die ersten Wochen der neuen Lebensphase vorbei sind, besteht auf Seiten der Kinder häufig noch das Bedürfnis, die ehemals so wichtige Bezugsperson wiederzusehen. Wenn irgend möglich sollte diesem Wunsch entsprochen werden. Ist die Distanz nach einem Umzug zu groß oder sprechen andere Dinge gegen einen direkten Besuch, besteht zumindest die Möglichkeit, hin und wieder zu telefonieren oder einen kleinen Briefwechsel mit Worten und Bildern zu führen. Bevor noch weitere Tipps genannt werden, die den Übergang für das Kind leichter machen können, soll dargestellt werden, warum dieser “Aufwand” eigentlich nötig ist.

Verlusterfahrung ohne Fangnetz

John Bowlby, der herausragende schottische Bindungs- und Trennungsforscher, hat drei Stufen beschrieben, in denen ein Kind auf die dauerhafte Trennung von seiner Hauptbezugsperson reagiert. Zuerst kommt es zu heftigem Protest von Seiten des Kindes. Führt der Protest nicht zur Wiedererlangung der geliebten Person, kommt es zu einer Phase der apathischen Verzweiflung und schließlich zur Entfremdung und Ablösung von der vermissten Bezugsperson. Nun ist die Situation von Kindern, die sich plötzlich von ihren Eltern trennen müssen, sicher einfach mit dem Abschied von der Tagesmutter zu vergleichen. Schließlich bleibt die Hauptbezugsperson, meist die Mutter, erhalten. Auch ist das Kind an den täglichen Abschied von der Tagesmutter gewöhnt, hat also bereits kleindosierte Trennungserfahrungen gemacht (Haug-Schnabel und Bensel 1998). Zudem ist es von Bedeutung, wie lange das Kind am Tag bzw. insgesamt schon betreut wurde, das heißt welche Rolle die Tagesmutter als weiterer Bindungspartner eingenommen hat.

Mit welchen Reaktionen auf Seiten des Kindes müssen wir rechnen, wenn das Kind seine Tagesmutter von heute auf morgen nicht mehr wiedersieht? Je nach vorhandener Bindungsstärke können diese Reaktionen heftig ausfallen. Das menschliche Verhalten ist nicht “eindeutig” auf eine bestimmte Reaktion festgelegt. Wenn es uns Erwachsenen schlecht geht, kann sich das auf vielerlei Arten äußern: Vielleicht sind wir besonders aggressiv; vielleicht ziehen wir uns in ein Mauseloch zurück und wollen niemanden mehr sehen und hören. Ähnlich ist es auch bei Kindern. Auf Trennungen reagieren sie unterschiedlich, das Unglücklichsein kann sich vielfältig äußern. Heftigen Protest und Weinattacken sieht man zwar selten. Aber stillere Reaktionen können genauso aufschlussreich sein. “Hanna spielt seit kurzem weniger; lustlos und unkonzentriert lässt sie den Sand durch die Finger rinnen, oft läuft sie ziellos umher und bleibt unvermittelt stehen und schaut mit glasigem Blick durch alles hindurch.” Mit dem Begriff des Abseits-Verhaltens werden diese und noch einige weitere Verhaltensweisen zusammengefasst. Jedes Kind hat solche Phasen. Häufen sich allerdings diese Auffälligkeiten im Anschluss an ein abruptes Betreuungsende, sollten die Alarmlämpchen angehen (Haug-Schnabel et al. 1997).

Vor allem im Kleinkindalter scheint das Kind in seinem Verhalten nur gedämpfter; es schaut bedrückter aus, als man es sonst kennt. Das ältere Kind wird jedoch sicherlich irgendwann nach seiner ehemaligen Tagesmutter fragen, wann es wieder hingehen darf und warum jetzt alles plötzlich anders geworden ist. Fragen, die nach einem plötzlichen Betreuungsende schwerer glaubhaft zu beantworten sind als nach einer vorbereiteten und schrittweisen Veränderung der Betreuungssituation. Der Kummer der so plötzlich einer wichtigen Bezugsperson beraubten Kinder kann sich auch in vermehrten Wutausbrüchen äußern. Je nach vorhandenem Bewältigungsmuster können bei dem verlassenen Kind aber auch Schuldgefühle auftauchen. So glaubt es eventuell, dass der Verlust der Bezugsperson auf sein Verhalten zurückzuführen sei, dass es sich “blöd” benommen oder sich nicht genug um die Tagesmutter gekümmert habe. Das sind Reaktionen, die man in ihrer stärksten Ausprägung bei Kindern findet, deren Eltern plötzlich und unerwartet gestorben sind.

Eine weitere unangenehme Konsequenz, die ein abrupter Betreuungsabbruch haben kann, ist das Gefühl der erlernten Hilflosigkeit (Seligman 1999). Dieses Gefühl stellt sich ein, wenn wichtige Ereignisse und Situationen sich der Kontrolle entziehen. Es kann dazu führen, dass sich allgemein die Motivation verringert, die Umwelt zu beeinflussen, aus Furcht, erneut ein Verlusterlebnis zu provozieren. Passivität schützt in dieser Logik des Vermeidens vor erneuter Verletzung. Besonders Kinder, die bis zum Kindergarten- oder Schuleintritt bereits mehrfache Betreuungswechsel hinter sich gebracht haben, schlimmstenfalls ohne Entwöhnung, sind gefährdet, das Verhaltensmuster der erlernten Hilflosigkeit in ihre Persönlichkeitsstruktur zu integrieren. Sie werden es damit auch in Zukunft schwerer haben, sich frei und aktiv zu entfalten.

Die Brückenfunktion der Tagesmutter

Nachdem deutlich geworden sein sollte, wie wichtig ein langsamer und angemessener Übergang zwischen altem und neuem Betreuungsnetz für das Kind ist, führt dies zwangsläufig zur Frage, was die Tagesmutter tun kann, um den Wechsel zu erleichtern. Zuerst einmal sollte der eigentliche Abschied vom alten Lebensumfeld “Tagesfamilie” gebührend gefeiert werden, wenn möglich zusammen mit den Eltern, der Tagesfamilie, den anderen Kindern der Tagesmutter, mit denen das Kind sich verbunden fühlt. Das Fest ist ein Übergangsritual, das dem Kind klar macht, dass es nun in eine neue Lebensphase eintritt, etwas zurücklassen muss, gleichzeitig aber merkt, meine “Ersatzfamilie” verstößt mich nicht, sondern freut sich mit mir auf etwas ganz Neues. Ein kleines Geschenk der Tagesmutter für den Kindergarten oder Schulbeginn kann gewissermaßen als Übergangsobjekt mit hinüber genommen werden. Das Kind kann so erleben, dass der Abschied nicht nur traurig ist, sondern auch ein Grund sich zu freuen, weil es einen Entwicklungsschritt nach vorne macht, “groß” wird.

Vielversprechend ist es auch, wenn die Tagesmutter als Brückenglied zwischen altem und neuem Lebensumfeld auftritt. Möglichkeiten dazu gibt es viele. Auch einige Kindergartenerzieherinnen helfen bereits bei der Eingewöhnung im Übergang zur Grundschule. Tagesmütter könnten diese Funktion noch besser ausfüllen: Sie stehen dem Kind meist näher als eine von mehreren Erzieherinnen einer großen Kindergartengruppe und sind eventuell zeitlich flexibler. Wenn dies nicht möglich ist, sollte die Tagesmutter das Kind zumindest einmal in seinem neuen Wirkungskreis besuchen oder ein paar Mal von Kindergarten oder Schule abholen.

Nichts spricht dagegen, auch nach Beendigung der Tagespflegezeit eine freundschaftliche Beziehung zwischen Kind und Tagesmutter aufrecht zu erhalten. Diese Beziehung orientiert sich an der Intensität und Länge der gemeinsam erlebten Vorgeschichte. So wird es beiden, Tagesmutter und Kind, leichter fallen, einen neuen Abschnitt in ihrem Leben mit positivem Vorzeichen zu beginnen.

Quelle

Aus: ZeT – Zeitschrift für Tagesmütter und -väter 2000, Jg. 3, S. 8-11

Literatur

  • Bensel, J. (1999) Wie eine gute Eingewöhnung gelingen kann. ZeT – Zeitschrift für Tagesmütter und -väter 1, 8-10.
  • Haug-Schnabel, G., Bensel, J. (1998) Trennung in kleinen Häppchen. Wie erleben Kinder das Getrenntsein? Unterwegs 18, 4-6.
  • Haug-Schnabel, G., Bensel, J., Kirkilionis, E. (1997) Mein Kind in guten Händen. Freiburg, Herder.
  • Kurth, T. (1999) Tagesmutter. Kinderbetreuung mit Familienanschluss. München, Kösel.
  • Seligman, M. E. P. (1999) Erlernte Hilflosigkeit. Weinheim, Beltz.

Weitere Beiträge des Autors hier in unserem Familienhandbuch

Autor

Dr. rer. nat. Joachim Bensel, Humanethologe, Mitinhaber der Forschungsgruppe Verhaltensbiologie des Menschen (FVM). Forschungsprojekte zur Fremdbetreuung, zur Verhaltensentwicklung und chronischen Unruhe im Säuglingsalter und zu Ursachen von Gewalt und Destruktivität im Kindes- und Jugendalter. Seit 1993 Forschungen auf dem Gebiet des Säuglingsschreiens, Leiter der “Freiburger Säuglingsstudie” .

Angebote der FVM

Die FVM ist eine private Forschungsgesellschaft, die praxisrelevante Problemstellungen der menschlichen Verhaltensentwicklung unter psychobiologischen Gesichtspunkten bearbeitet und Lösungsansätze erprobt. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse werden im Auftrag von Universitäten, Wohlfahrtsverbänden, Ausbildungsinstituten, staatlichen Einrichtungen sowie Wirtschaftsunternehmen in Form von Gutachten, Projektplanungen und -begleitungen, Multiplikatorfortbildungen, Medieninformationen und Publikationen anwendungsbereit zur Verfügung gestellt. Darüber hinaus wird eine Spezialberatung für Entwicklungs- und Erziehungsfragen angeboten.

Kontakt

Dr. rer. nat. Joachim Bensel

Forschungsgruppe Verhaltensbiologie des Menschen (FVM)

Obere Dorfstr. 7

79400 Kandern

Tel.: 07626/970212

Website

E-Mail

Erstellt am 26. August 2003, zuletzt geändert am 10. Januar 2012

Staatsinstitut für Frühpädagogik und Medienkompetenz
Logo: Staatsinstitut für Frühpädagogik und Medienkompetenz