Gutes Benehmen will gelernt sein
Ingrid Leifgen
Höflichkeit, Rücksichtnahme, Dankbarkeit – ohne diese Tugenden funktioniert keine Gesellschaft. Ihren Ausdruck finden sie in der Art, wie wir miteinander umgehen. Für gutes Benehmen gibt es Regeln, die das Leben erleichtern. Und die müssen Kinder lernen.
Im Bus stehen Kinder für ältere Menschen nicht mehr auf, ihren Müll lassen sie überall fallen, sie sind vorlaut, dreist, grüßen nicht und spielen in unpassenden Situationen mit elektronischen Geräten – die Jugend hat kein Benehmen mehr, so das gängige Urteil der Erwachsenen.
Ganz neu ist diese Ansicht nicht, beinahe jede Generation hat über das Verhalten der Jüngeren geklagt, möglicherweise, weil sie das Fremde am Umgangston der Nachfolgenden nicht verstanden hat. In einem Punkt aber hatten die Alten immer Recht. Gutes Benehmen muss sein.
Nach Auffassung des Soziologen und Kulturphilosophen Norbert Elias sind Höflichkeit, Rücksichtnahme und Dankbarkeit unerlässliche „Schmiermittel“ der Zivilisation. Da Gesellschaften immer arbeitsteiliger würden, wären die Menschen immer mehr aufeinander angewiesen, meinte Elias. Dieser “Prozess der Zivilisation” zwinge sie zu immer rücksichtsvollerem Umgang miteinander. Lebten in früheren Zeiten wenige Menschen in kleinen Gemeinden und versorgten sich mit vielem selbst, wird heute das, was wir zum Leben brauchen, aus der ganzen Welt importiert. Und wir werden immer mehr. Damit das komplizierte System funktioniert, so Elias, mussten die Menschen lernten, spontane Bedürfnisse und Gefühlsäußerungen zu kontrollieren und sich auf Umgangsregeln zu einigen. Sich an der Wursttheke anstellen und warten, bis man dran kommt, ist zum Beispiel so eine Regel.
Respekt, Achtsamkeit und Rücksichtnahme machen das Leben leichter
Was im Großen gilt, ist auch im Kleinen richtig. In der Familie, in der Kita in Schule und Betrieb sorgt gutes Benehmen für ein angenehmes Klima und reibungslose Abläufe. Dabei geht es nicht um geziertes Zeremoniell wie früher an den Königshöfen. Auch Unterwerfungsgesten wie Knicks und Diener sind heute nicht mehr angezeigt, wohl aber Höflichkeit und Rücksichtnahme. Wer andere mit „Guten Morgen“ oder „Guten Tag“ begrüßt drückt aus: „Ich nehme dich wahr und du bist mir wichtig.“ Wer mit dem Essen erst anfängt, wenn alle versorgt sind, zeigt: „Ich kümmere mich nicht nur um mich selbst, sondern mir ist auch wichtig, dass es den anderen gut geht.“ Wer bei Tisch auf schmatzen, pupsen, in der Nase bohren verzichtet, möchte anderen den Appetit nicht verderben. „Bitte“ und „Danke“ sagen, einer mit Taschen bepackten Person die Tür aufhalten, aufstehen, wenn man einen älteren Menschen begrüßt, anderen Autofahrern das Einfädeln gewähren… als das bezeugt vor allem eins: Respekt vor dem anderen. Respekt, Achtsamkeit, Rücksichtnahme aber sind Friedensstifter, sorgen für Entspannung, machen fröhlich und das Leben leichter.
Benimmvorstellungen können unterschiedlich sein
Was gutes Benehmen ist, darüber herrscht im Groben hier zu Lande Einigkeit, im Einzelnen können die Meinungen aber weit auseinander liegen. So gilt es in manchen Familien als undenkbar, dass man ungekämmt und im Schlafanzug zum Frühstück erscheint, während andere das locker sehen. Bei Familie A. läuft während der Mahlzeiten regelmäßig der Fernseher im Hintergrund, bei den B.s hingegen ist jede Ablenkung vom Essen verpönt. Herr C. hält es für selbstverständlich, dass seine pubertierenden Söhne den Gästen der Eltern die Hand reichen und ein paar freundliche Worte mit ihnen wechseln. Seine Frau erscheint es ausreichend, dass die Jungs ein „Hallo“ ins Wohnzimmer werfen und wieder verschwinden. Viele Paare bringen, wie Herr und Frau C., aus ihren Herkunftsfamilien unterschiedliche Ideen davon mit, was sich gehört und was nicht. Sie sollten sich über ihre Erziehungsvorstellungen austauschen, meint Familientherapeutin Paula Honkanen-Schobert, und nach Möglichkeiten einen gemeinsamen Benimmkanon entwickelt, der für die eigene Familie passt. Sollte bei einzelnen Punkten Einigkeit nicht möglich sein, heißt es, die Unterschiede zu akzeptieren und sich nicht gegeneinander ausspielen zu lassen, so Honkanen-Schobert, die den Elternkurs Starke Eltern – Starke Kinder® entwickelte.
Aber nicht nur zwischen Eltern und Familien können die Ansichten über gutes Benehmen verschieden sein, sondern auch zwischen den Generationen. Dabei ist nicht alles, was die Älteren als ungehobelt empfinden, auch wirklich so gemeint. Wenn zwölfjährigen Jungen sich zum Beispiel mit einem deftigen „Hey Alter“ begrüßen, dann ist das durchaus freundschaftlich. Umgangsweisen werden durch andere Kulturen beeinflusst und durch andere Umstände. Ob es unhöflich ist, im Beisein anderer ständig mit dem Handy zu hantieren, war zum Beispiel vor Jahren keine Frage – weil es keine Handys gab. Wenn sich die Gegebenheiten ändern, etwa durch neue Kommunikationsformen via Internet und Smartphone, dann müssen die Benimmregeln im Einzelfall neu ausgehandelt werden.
Am meisten bewirkt das Vorbild
Wie aber lernen Kinder gutes Benehmen? Zunächst und vor allem durch das Vorbild der Erwachsenen. „Von dem, was wir sind, was wir tun, denken und fühlen wird ein Kind am meisten beeinflusst“, erklärt Paula Honkanen-Schobert. Eine Mutter, die sich selbst zum Beispiel schwer damit tut, Ordnung zu halten, wird ihr Kind auch durch noch so viele Ermahnungen kaum dazu bringen, sein Spielzeug nach Gebrauch wegzuräumen. Ob Kinder elterliche Werte übernehmen, hängt außerdem von ihrer Beziehung zu den Erwachsenen ab. Fühlen sie sich selbst achtungsvoll behandelt, sind sie eher bereit, Hinweise zum Benehmen zu akzeptieren. Massiver Druck bewirkt jedoch meist das Gegenteil. Beschimpfung, Herabsetzung, Strafe führen dazu, dass Kinder nach und nach ihre Kooperationsbereitschaft verlieren. Dabei sind sie von ihrem ersten Tag an dazu bereit, mit den Erwachsenen zusammenzuarbeiten und sich an ihnen zu orientieren, wie der dänische Pädagoge Jesper Juul hervorhebt. Was sie brauchen, ist liebevolle Anleitung, auch in Benimmfragen.
Lesetipps
- Nandine Meyden: Jedes Kind kann sich benehmen. Humboldt Verlag 2012
- Ingrid Leifgen, Sabine Schleiden Hecking: „Das tut man nicht!“. Kinder lernen, sich zu benehmen. Herder Verlag 2008 (antiquarisch, Internet)
Weitere Beiträge der Autorin hier in unserem Familienhandbuch
- Mädchen in der Pubertät
- Vom Umgang mit der Langeweile
- Paten als wichtige Begleiter für Kinder - nicht nur in religöser Hinsicht
- Oma weiß alles besser
- HipHop, House und Pop: Wie Kinder ihren Musikgeschmack entwickeln
- Keine Angst vor Rat und Hilfe
Autorin
Ingrid Leifgen ist freie Journalistin mit dem Schwerpunkt Familie und Erziehung. Sie hat drei Kinder.
Kontakt
erstellt am 25. Juli 2013