Kinder auf religiösen Abwegen

Dr. Angela M.T. Reinders
Reindersangela

 

 


 

Gesinnungen und weltanschauliche Gruppierungen können vereinnahmen, das Leben von Jugendlichen unangemessen oder sogar gefährlich manipulieren. Eine Liste von Anzeichen ungewöhnlichen Verhaltens von Jugendlichen, das auf den Einfluss religiös auftretender Gruppen hinweisen kann, Anregungen zur Vorbeugung, Links zu professionellen Beratungsstellen und Hilfsangeboten.

„Ich erkenne mein Kind kaum wieder.” Wenn sich Ihr Kind schon zu Beginn der Pubertät stark von Ihnen entfremdet, dann ist Aufmerksamkeit geboten. Eine ganz normale, aber sehr schwer durchlebte Pubertät kann der Grund sein. Doch sollte man auch dahinter immer noch das eigene Kind entdecken können. Bei auffälligen Charakterveränderungen ist auch an den Einfluss von Gruppen zu denken, die mit religiösem Wahrheitsanspruch auftreten.

Wie Sie vorbeugen

  • Ihr Kind sucht Akzeptanz. Nehmen Sie es ganz als Ihr Kind an und trauen Sie ihm etwas zu.
  • Ihr Kind sucht Wahrheit. Vermitteln Sie, was Sie als Ihre Wahrheit leben. Verdeutlichen Sie dabei: Wahrheiten, gar „die eine“ Wahrheit ist nicht in handlichen Sätzen zu formulieren. Die Suche nach der Wahrheit ist ein Prozess, ein Weg, den Sie mit ihm gemeinsam gehen. Beide lernen voneinander.
  • Ihr Kind sucht Orientierung. Klammern Sie die Auseinandersetzung mit dem Bösen nicht aus Ihrer Erziehung aus, stellen Sie sich von Anfang an jedem noch so schwierigen Gespräch darüber.
  • Ihr Kind sucht Maßstäbe. Setzen Sie Leben erhaltenden Werte gegen Leben vernichtende Werte, die auch in Medien, z.B. in Computerspielen, verharmlosend dargestellt werden. Setzen Sie schon dem kleinen Kind Regeln fest, die Zeichentrickfilme aus seinem Repertoire ausschließen, die Menschen und Mitgeschöpfe in unwürdiger Weise zeichnen. Begründen Sie auch schon beim kleinen Kind Ihre Entscheidung. Machen Sie deutlich, dass jeder Mensch eine Würde hat.

Hilfen zur Einschätzung: Wann und wohin hat mein Kind sich von mir entfernt?

Sekten, okkulte Gruppierungen oder politisch unter dem Deckmantel des Religiösen handelnde fundamentalistische Gruppen umwerben Kinder an der Schwelle zum Jugendalter. Sie setzen auf das Potenzial, das in ihnen steckt. Ihre Opfer finden sie meist durch persönliche Bekanntschaften, auch über mehrere Ecken. Seltener als vermutet landen psychisch labile Menschen in Sekten oder radikal-religiösen Gruppen. Denn diese Gruppierungen haben hohe Ziele und brauchen gute Leute für sich, um sie durchzusetzen. Sie erreichen junge Menschen leicht, weil sie sie gerade in der Einstiegsphase mit enormer Bestätigung sättigen. Die vermeintlich einfachen Botschaften vermitteln scheinbar ganz klare Orientierung. Junge Neue werden ernst genommen, als Gesprächs- und Aktionspartner akzeptiert – und in Wirklichkeit „eingenordet“.

Wenn Sie mit „Ja” antworten können, hat Ihr Kind möglicherweise Kontakt zu einer weltanschaulich fragwürdigen Gruppe:

  • Hat Ihr Kind in jüngerer Zeit einen neuen Termin? Ein Zeitraum von ca. einem Jahr ist hierbei bedeutsam. Die Veranstaltung ist nicht als religiöse ausgewiesen, sondern als Literatur-, Bastel-, Gesprächs-, Musikkreis… Nicht immer lässt der Name gleich vermuten, was hinter der Organisation steht, etwa die vom Verfassungsschutz beobachtete „Scientology“-Vereinigung hinter der Gruppe „Jugend für Menschenrechte“. Seien Sie selbst bei Vereinigungen vorsichtig, die im Auftrag der Kirchen zu handeln vorgeben, wenn ihr Einfluss auf Ihr Kind erkennbar nicht gut ist.
  • Hat eine Lehrerin, ein Lehrer das Gespräch mit Ihnen gesucht, weil Ihr Kind in religiöser Hinsicht oder in Weltanschauungsfragen Dinge äußert, die sich von seinen früheren Einstellungen radikal unterscheiden und Ihrem Erziehungsstil völlig zuwiderlaufen?
  • Dürfen Sie Ihr Kind zum Veranstaltungsort, den Ihr Kind besucht, begleiten, oder ist Ihnen der Zugang verwehrt? Wenn Sie selbst Kontakt zu den Veranstaltern haben: Versucht man bei Ihnen durch bestimmte Andeutungen im Gespräch Geld locker zu machen?
  • Zeichnet Ihr Kind die Welt seit Kurzem in unüblicher Weise schwarz-weiß, trennt es zwischen Gut und Böse in einer Form, die in Ihrer Familie fremd ist? Gibt Ihr Kind Meinungen wieder, die es nicht von Ihnen zu Hause kennen kann?
  • Spricht Ihr Sohn, Ihre Tochter bewundernd von einem bestimmten Menschen, der ihm eine neue Ansicht vermittelt hat? Nennt es diesen Menschen namentlich?
  • Lehnt Ihr Kind Kritik an seiner veränderten Meinung strikt ab und pocht auf den Wahrheitsgehalt der Aussagen? Wehrt es sich in Diskussionen darüber mit Sätzen, die auswendig gelernt scheinen und erkennen lassen, dass ihm die Kritik förmlich aberzogen wurde?
  • Beginnt Ihr Kind, sich zurückzuziehen, und geht dann im eigenen Zimmer bestimmten Ritualen nach, liest dort ungewöhnlich lange oder verharrt über einen unüblichen Zeitraum hinweg in Schweigen? Geht es auffallend lange religiösen Übungen nach? Zieht Ihr Kind sich nicht nur kommentarlos in sich selbst zurück, sondern signalisiert es deutlich, dass es mit Ihnen nichts (mehr) zu tun haben will?
  • Schwankt Ihr Kind in seinen Stimmungen auffallend stark zwischen Euphorie einerseits und Missmut über die eigene Unzulänglichkeit andererseits?
  • Hat Ihre Tochter, Ihr Sohn das Äußere verändert? Trägt Ihr Kind besondere Farben und die auch nur noch ausschließlich, zieht Ihre Tochter ein Kopftuch, Ihr Sohn nur noch lange Gewänder an?
  • Benutzt Ihr Kind einen anderen oder zusätzlichen Vornamen als bisher?

Wie Sie sich verhalten, wenn Ihr Kind in einer religiös fragwürdigen Gruppe ist

Laborieren Sie nicht alleine herum. Vertrauen Sie sich sofort der professionellen Hilfe an, die Ihnen zur Verfügung steht. Ein schneller Weg dorthin führt

Kundige Hintergrundinformation bei der Beeinflussung Ihres Kindes bei Sekten oder Gruppen mit okkulten oder satanistischen Praktiken erhalten Sie über die Beratungsstelle Sekten-Info Nordrhein-Westfalen e.V.

Direkte und fachkundige Hilfe bei einem Verdacht auf ideologische Radikalisierung Ihres Kindes bieten die „Beratungsstelle Radikalisierung“ oder die Beratungsstelle HAYAT. In einzelnen Bundesländern gibt es spezielle Angebote, etwa Vaja in Bremen oder das Präventionsprogramm Wegweiser in Nordrhein-Westfalen.

So geht es raus

Dass es Ihre Einstellung zu seiner religiösen Orientierung kennt, eröffnet Ihrem Kind womöglich seine einzige Chance herauszukommen. Sie müssen verdeutlichen, dass Sie die Organisation kritisieren und dass Sie unter der Situation leiden, dass es sich dort beheimatet fühlt. Holen Sie Ihr Kind aus der Vereinigung heraus und nehmen Sie dabei professionelle Hilfe in Anspruch. Verschaffen Sie sich Rückhalt für sich selbst z.B. beim Netzwerk Sekteninfo oder bei Sekteninfo.

Der Verein EXIT ist auf den Ausstieg aus der rechtsradikalen Szene spezialisiert, unterstützt aber auch beim Ausstieg aus anderen Vereinigungen, die radikale Ansichten gegen die menschliche Würde und Freiheit vertreten.

Auch wenn es Ihnen im Alltag widerstrebt, Dinge kommentarlos zu unternehmen: Lassen Sie sich auf kein Gespräch ein. Suchen Sie auf keinen Fall das Gespräch mit einem Führer der Sekte oder Vereinigung, mit der Ihr Kind zu tun hat – diese Menschen sind geschult und Sie kommen nicht gegen sie an. Sie müssen jetzt nichts beweisen, weder sich selbst noch den Menschen, die es auf Ihr Kind abgesehen haben. Gehen Sie einfach und gehen Sie gemeinsam – das ist das Wichtigste.

Sind Sie finanzielle oder ideelle Verpflichtungen eingegangen, dann kündigen Sie schriftlich.

Machen Sie gegebenenfalls am Telefon deutlich, dass Sie nicht damit einverstanden sind, dass man Ihrem Kind hinterhertelefoniert, und legen Sie auf. Sollte Telefonterror beginnen, beantragen Sie neue Telefonnummern, die nicht im Telefonbuch geführt werden.

Die Zeit danach

Sie müssen Ihrem Kind jetzt helfen – dies umso intensiver, je größer der Einfluss der Vereinigung war. Die Bestätigung, die es in der Gruppe gefunden hat, braucht es weiterhin –von Ihnen und von Menschen, mit denen es zu tun hat.

  • Ihr Sohn, Ihre Tochter erschrickt womöglich nachträglich über die weit reichende Macht, die die Führerinnen und Führer über seine Person erlangen konnten. Machen Sie durch Ihr Verhalten klar, dass Sie ihm selbstständige Entscheidungen zutrauen (auch, wenn Sie noch an ihm zweifeln).
  • Wer in weltanschauliche Gruppen eingebunden ist, hat fast lückenlose Beschäftigung. Helfen Sie Ihrem Kind, die Zeit neu zu füllen und auch „Langeweile” als Genuss zu erfahren.
  • Als Anlaufstelle hilft das Netzwerk Violence Prevention Network bei der gesellschaftlichen Wiedereingliederung.
  • Unterstützung und Hinweise bei Vorbeugung und Abkehr von okkulten, magischen Praktiken bieten die Parapsychologische Beratungsstelle und das Institut für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene e.V.

Literatur

Weitere Beiträge der Autorin hier in unserem Familienhandbuch

Autorin

Dr. Angela M. T. Reinders, Jahrgang 1965, Dipl.-Theologin, Redakteurin beim Bergmoser + Höller Verlag AG, Aachen

Kontakt

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Purweider Winkel 10
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Erstellt am 4. Dezember 2001, zuletzt geändert am 11. Dezember 2014