Wenn Kinder trotzen. Hilfe, das ICH meines Kindes erwacht!
Mag. Dr. Manfred Hofferer
Kennen Sie das? Bis vor Kurzem war zwischen Ihnen und Ihrem Kind alles in bester Ordnung, doch plötzlich – ohne große Vorankündigung – scheint alles aus dem Ruder zu laufen. Das Verhalten des Kindes ändert sich und es wird zunehmend schwierig, und es ist wirklich stressig, mit ihm auszukommen und umzugehen. Wenn die Beziehung zum Kind nicht mehr ganz so reibungsfrei abläuft, hat das in der Regel einen ganz speziellen Grund: Entwicklung von Autonomie!
Ich hoffe, dass dieser Artikel dazu beiträgt, dass Eltern besser verstehen, was in ihren Kindern im Trotzalter an Veränderungen geschieht, und dass dieses Verständnis dabei hilft, in den schwierigen Alltagssituationen mit mehr Geduld, Gelassenheit und innerer Distanz zurecht zu kommen. Vielleicht gelingt es sogar, dass in Ihnen der Humor wächst, wenn Sie mit ein paar Minuten des Abstands Ihr Kind, ein Bündel von Wut und Eigenwillen, betrachten und mit ihm mitempfinden. Es wäre viel gewonnen, wenn Sie nicht mehr denken: “Hoffentlich ist diese Zeit bald vorbei” , sondern eine Begeisterung in Ihnen für diese Entwicklungsstufe wächst. Im Trotzalter macht das Kind grundlegende Erfahrungen, die ihm im gesamten weiteren Leben helfen werden.
Die meisten Eltern genießen die ersten eineinhalb Jahre mit ihrem Kind, da es ganz mit ihnen verbunden ist, es sie anstrahlt und ihm das Gehorchen noch leicht fällt. Aber schon mit 10 bis 12 Monaten beginnt das Kind sehr deutlich Wut und Ärger zu äußern, wenn es etwas nicht bekommt, das es haben will. In diesem Alter lässt es sich noch relativ leicht wieder beruhigen und ablenken, da es ihm von seiner Entwicklung her ein Bedürfnis ist, im Einklang mit den Wünschen und dem Willen der Eltern zu leben. Und genau das verändert sich im so genannten “Trotzalter” . Ungefähr ab dem zweiten Lebensjahr beginnt das Kind zu erkennen, das es ein selbstständiges Wesen ist und dass es einen Unterschied zwischen sich und dem anderen gibt.
“… Es ist nicht auszuhalten, meine Tochter (zwei Jahre und 6 Monate) wirft sich ohne ersichtlichen Grund auf den Boden, schreit, tobt und schlägt wie wild um sich. Jeder Versuch sie zu beruhigen bringt sie noch weiter in Wut. Manchmal würde ich am liebsten weglaufen und sie einfach liegen lassen!”
Solche Schilderungen hören wir in unserer Praxis als Erziehungsberater immer wieder. Nicht selten wird das Trotzverhalten des Kindes zu einem Problem in der Elternbeziehung und immer wieder wird gegenseitig die Schuldfrage gestellt: Wer hat was (Was habe/n ich/wir) getan oder nicht getan, damit das Kind sich so verhält. Verschärft wird die ohnedies schon angespannte Lage durch Schuldzuweisungen und Vorwürfe von “lieben Verwandten und Freunden” . Der Gipfel ist dann erreicht, wenn gut gemeinte Ratschläge in Form von: “Du musst nur ….” , “Ich habe dir immer schon gesagt…” “Es ist ganz einfach, probier mal …” kommen.
Die Erfahrung zeigt, dass das einzig wirklich hilfreiche Mittel, um mit dieser Entwicklungsphase umgehen zu können, Wissen ist, was in der Trotzphase vor sich geht. Stellen wir einmal fest: Die so genannten “Trotzphasen” gehören zur Entwicklung eines gesunden Menschen dazu (In der Pubertät wird eine zweite und sehr viel schwierigere Trotzphase durchlebt). Tatsächlich muss man diese Phasen eigentlich als “Autonomiephasen” bezeichnen, da nicht der Widerstand und Trotz das Wesentliche dieser Entwicklungsphase ist, sondern die Ablösung und das Selbstständigwerden des Kindes. Für das Kind sind dies ganz wichtige Meilensteine in seiner Entwicklung.
Die Trotzphase beginnt ca. am Ende des 2. Lebensjahres – dauert bis zum ca. 4. Lebensjahr – und ist dadurch gekennzeichnet, dass das Kind immer stärker nach Autonomie strebt und versucht, sich aus der Verschmelzung mit den Eltern (vor allem der Mutter) zu lösen. (Trotzreaktionen tauchen auch schon bei sehr viel jüngeren Kindern auf und der Zeitraum des Auftretens unterliegt relativ großen Schwankungen. Bei Kindern, die um das 3. Lebensjahr scheinbar keine Trotzphase zeigen, stellt sich diese zum Schuleintritt ein.) Das, was vorher das “Wir machen es miteinander” war, wird jetzt zu einem “Ich will das selber Tun!” . Der eigene Wille des Kindes erwacht und zeigt sich immer häufiger in Form von Trotzreaktionen und Gehorsamsverweigerungen. Das bedeutet aber nicht, dass sich das Kind primär gegen seine Eltern wendet, sondern vielmehr, dass das Kind an seiner eigenen Unzulänglichkeit, seine Wünsche auf die ihm eigene Weise erfüllen zu können, leidet. Am einfachsten ist das Verhalten des Kindes in Trotzsituationen als “Panikreaktion” zu verstehen. D.h., es ist in dieser Phase nicht mehr in der Lage die Situation zu überblicken oder zu kontrollieren und gerät darum völlig aus den Fugen.
Ein Kind in diesem Lebensabschnitt möchte die Welt erobern und in Besitz nehmen und “seine eigenen Wege” gehen – ganz und grenzenlos. Dabei stößt es unweigerlich und permanent an “natürliche” Grenzen. Gleichzeitig erfährt es auch, dass sogar die geliebten und bislang so einfühlsamen Eltern nicht so “funktionieren” , wie es sich das vorstellen und wünschen würde. Sie verbieten, sagen nein und unterbinden ständig den Drang alles auszuprobieren; kurz, sie setzen Grenzen, wenden sich ab und entfernen sich dabei weit davon “gute Eltern” zu sein.
Diese Begrenzungen und Einschränkungen des eigenen Weges führen das Kind in eine tiefe Verzweiflung, da sein Wille nicht mit dem der Eltern oder mit den eigenen Vorstellungen und Fähigkeiten übereinstimmt. Die Welt scheint für das Kind auseinander zu triften und alle bislang gewohnten Ordnungen lösen sich auf. Ein inneres Chaos von Gefühlen stellt sich ein, dem das Kind nicht Herr werden oder sich entziehen kann. Dementsprechend “chaotisch” sind in solchen Ausnahmesituationen die Reaktionen bzw. das Verhalten des (Aber Vorsicht, die “Symptome” können ganz unterschiedlich sein. Bei manchen Kindern verläuft die Trotzphase völlig unspektakulär. Es gibt aber auch eine Art stummen Trotz – wenn ein Kind sich z.B. zurückzieht und kaum noch sprechen oder essen mag. Am häufigsten äußert sich Trotz jedoch in den für diese Phase typischen Wutausbrüchen.). Die Probleme in der Trotzphase verschärften sich noch, wenn zusätzliche “Stressoren” (Geburt eines Geschwisterchens, Beziehungsprobleme der Eltern, Wohnortwechsel etc.) gegeben sind.
Diese ersten Erfahrungen mit dem eigenen Willen und den damit verbundenen aggressiven Gefühlen und Konfliktsituationen bzw. der Umgang damit, werden zu Grunderfahrungen, die das weitere Leben des Kindes er- oder entmutigend prägen werden. Die Kinder erlernen im Idealfall, dass:
- … es ist gut, einen eigenen Willen zu entwickeln. Dadurch wird es fähig, eigene Entscheidungen zu treffen und zu erproben, und zu erkennen welche Konsequenzen diese Entscheidungen nach sich ziehen.
- … Konfliktsituationen nichts wirklich Bedrohliches sind und zum Leben dazugehören und Lösungen gefunden werden können.
- … Konfliktsituationen innere und äußere Spannungen erzeugen. Diese Spannungen sind aber auszuhalten und müssen nicht durch andere Tätigkeiten (z.B. Essen) abreagiert oder sogar verdrängt werden.
- … es seine Gefühle äußern und zum Ausdruck bringen kann und seine Eltern halten das aus, bewerten sie nicht, sondern helfen ihm dabei, sie zunehmend in Worte zu fassen und auszudrücken. “Auch wenn ich um mich schlage, schreie und tobe, werde ich von meinen Eltern gemocht.”
- … bewältigte Konflikte Ereignisse sind, auf die man gemeinsam zurückblicken kann und welche die Beziehung vertiefen.
- … es macht Spaß, eigene Erfahrungen zu sammeln, auch wenn manchmal Schmerz und Enttäuschung mit dabei sind. Das Kind verzweifelt nicht, da es von seinen Eltern unterstützt wird, es immer wieder neu zu versuchen.
Nun wird es vielleicht auch leichter verständlich, dass es in einer solchen Entwicklungsphase keinen Sinn hat, zusätzlich irgendwelche “Begrenzungen” zu setzen, oder das Kind durch weitere Einschränkungen zu bestrafen. Der Schmerz und die damit verbundene Reaktion würde damit nur noch verstärkt werden. Sehr viel wichtiger ist es zu verstehen, dass das Kind in dieser für es so unsicheren Situation unbedingt sehr viel Aufmerksamkeit und Zuwendung braucht; gerade, da es Probleme mit der Anpassung an die Welt hat. Vielmehr lohnt es sich, diesen schwierigen Zeitabschnitt aktiv durchzustehen.
Noch ein wichtiger Punkt muss hier angemerkt werden. Um das dritte Lebensjahr kommt es zu Veränderungen im innersekretorischen Bereich (Drüsenausscheidungen). Diese entwicklungsbedingten Umgestaltungen haben zur Folge, dass die Kinder leichter müde werden, ihre Konzentration abnimmt und sich das Durchhaltevermögen u.U. radikal verändert. Sie fangen Spiele an, beenden sie nicht, räumen alles aus und nicht wieder ein, streifen durch die Wohnung und nehmen mal dies und dann wieder das… etc. und sind dabei äußerst unausgeglichen und unruhig. Ein wichtiger Teil dieser Veränderung sind rasche Stimmungsschwankungen. Unterschiedlichste Gefühle brechen plötzlich über das Kind herein, nehmen es in Besitz und es fühlt sich hilflos und verwirrt. Das im vorangegangenen Augenblick noch freche und eigenwillige Kind wird schlagartig anlehnungsbedürftig und will in den Arm genommen werden, fordert Zärtlichkeit und Nähe.
Das ist ein ganz schwieriger Bereich! Da die Eltern häufig selbst sehr aufgebracht und verärgert über das Verhalten ihres Kindes sind, fällt es besonders schwer, dieses plötzliche Bedürfnis des Kindes nach Nähe an- und aufzunehmen. Aus Erfahrung wissen wir, dass in diesen Momenten die Vorstellung hilft, was ihr Kind ihnen in solchen Augenblicken sagen würde, wenn es seine Situation in Worte fassen könnte. Es würde u.U. sagen: “Alles ist durcheinander und nichts passt mehr. Ich kann MICH, DICH und die WELT nicht fassen und darum verliere ich mich in Wutausbrüchen, die mir helfen mit meiner Verzweiflung fertig zu werden” . Denken Sie an sich selbst, was Sie brauchen, wenn es Ihnen so oder ähnlich geht!
Welche Hilfestellungen gibt es für den oft mühevollen Alltag mit dem trotzenden Kind?
Am wichtigsten erachte ich, dass Sie selbst (vielleicht gemeinsam mit Ihrem Partner) sich einmal Gedanken darüber machen, welche Erfahrungen Sie als Kind mit Autorität gemacht haben und wie es Ihnen heute gelingt damit umzugehen. Denn, wenn wir selbst Autorität ablehnen, werden wir bei aller Einsicht, dass Wachstum ohne Grenzen und Regeln nicht möglich ist, unseren Kindern keine Grenzen setzen können.
Denken Sie auch einmal darüber nach, wie es Ihnen gelingt, mit ihren eigenen Wünschen umzugehen. Wissen Sie was sie wollen? Können Sie auf die Durchsetzung Ihres Willens aus Einsicht oder aus Liebe zu einem anderen Menschen verzichten? Wenn wir selbst kaum einen Zugang zu unserem eigenen Wünschen und Wollen haben, wird es uns auch schwer fallen, die Entwicklung des Willens unserer Kinder zu fördern bzw. ihre Willensäußerungen positiv anzunehmen.
Wenn Sie nun noch ihr Regelsystem in der Familie auf ein Minimum reduzieren und die Grenzen klar und deutlich formulieren und durchsetzen können, haben sie alles in der Hand, um mit der Trotzphase Ihres Kindes umgehen zu können bzw. eine gesunde Autonomieentwicklung ihres Kindes zu fördern.
Hilfen
- Helfen Sie Ihrem Kind dadurch, dass sie es in der “Phase der Verwirrungen” nicht zusätzlich in Verwirrung und in Konfliktsituationen bringen. D.h., überprüfen Sie Ihre “Regel- und Verbotsliste” : “Weniger ist mehr!” Teilen Sie Ihrem Kind klar mit, was sie von ihm wollen und verlieren Sie sich nicht in endlos langen Erklärungen und Vorträgen.
- Geben Sie Ihrem Kind die Möglichkeit sich auf Veränderungen einzustellen. D.h., planen sie einfach mehr Zeit für Ihre Tätigkeiten ein. Alles, worauf man sich einstellen kann, kann auch leichter angenommen werden.
- Helfen Sie Ihrem Kind, indem sie in Ihrem Verhalten berechenbar bleiben. Nichts führt leichter in eine noch tiefere Verwirrung, als unterschiedlichstes Verhalten zu den selben Auslösern; … Manchmal Ja, dann wieder Nein, dann mit viel Diskussion etc. Nehmen Sie Ihr Kind einfach öfter in den Arm und teilen Sie ihm in “ruhigen Phasen” mit, das sie es mögen.
- Handeln Sie in dieser Phase der Entwicklung nach dem Grundsatz: “Jetzt ist wichtig für Übermorgen!” Das was Ihr Kind in dieser Phase erlernt, trägt sein gesamtes weitere Leben.
- Unterstützen Sie Ihr Kind so oft es irgend geht in seinen Bestrebungen nach Selbstständigkeit. Bieten Sie Situationen an, in denen Ihr Kind selbstständig sein kann. Nehmen Sie sich Zeit für gemeinsame Unternehmungen, in denen Ihr Kind das Tempo angibt.
- Wenn Sie sich selbst der Situation nicht mehr gewachsen fühlen, ziehen Sie rechtzeitig eine Beratung und Hilfe bei.
Immer wieder fragen mich Eltern in Beratungsgesprächen, woher sie die Kraft nehmen sollen, in den schwierigen Phasen nicht nur zu reagieren, sondern aktiv zu handeln und dabei noch freundlich zu bleiben? Wichtig ist, zu wissen, dass es für die Ablösung des Kindes auch förderlich ist, wenn es die Eltern auch mal wütend oder “böse” erlebt, wenn es z.B. um die Durchsetzung von Grenzen geht. Das ist für das Kind wesentlich leichter zu ertragen und auszuhalten, als Abwendung, Drohung oder versteckte Abwertungen. Ärger und Enttäuschungsreaktionen sind erlaubt. D.h., indem Sie selbst, so wie Ihr Kind, Ihre Gefühle ausdrücken, lernt es sie nicht nur kennen, sondern es lernt mit Ihrer Hilfe und Unterstützung zunehmend einen konstruktiven Umgang damit. In der Regel können Sie darauf vertrauen, dass die Beziehung zu Ihrem Kind diese Konflikte aushalten wird.
Eine Mutter erzählt: “… ich bin total wütend und kann es nicht fassen, was Melanie heute wieder angestellt hat! (Kurze Nachdenkpause) … aber wenn ich mir vorstelle, dass sich mein Kind später einmal so klar abgrenzen kann, dann geht es mir eigentlich ganz gut! (Die Mutter dreht den Kopf zur Seite und schmunzelt.)
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen viel Kraft und Ausdauer für die schwierige Zeit mit Ihren Kindern!
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Autor
Dr. Manfred Hofferer – Vater von 3 Kindern – ist der pädagogische Leiter im Institut für Kommunikationspädagogik-Wien und dort als Berater und Therapeut für den Bereich “Kleinkind” zuständig.
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Mag. Dr. Manfred Hofferer
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Erstellt am 13. Februar 2002, zuletzt geändert am 22. Juni 2015