Eine Frage der Qualität: Hausaufgaben und Lernzeit

Die Schulpädagogin Prof. Britta Kohler von der Universität Tübingen forscht zum Thema Hausaufgaben. Im Interview erläutert sie, warum es auf die Qualität von Hausaufgaben und Lernzeiten ankommt.

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Online-Redaktion: Frau Prof. Kohler, eine Ganztagsgrundschule, die ich kürzlich besuchte, hat mit diesem Schuljahr die Hausaufgaben abgeschafft. Der Schulleiter begründete dies unter anderem damit, dass er keine wissenschaftlichen Belege für die Wirksamkeit von Hausaufgaben gefunden habe. Ist das möglich?

Britta Kohler: Ich würde den Schulleiter erst einmal fragen, wofür er keine Wirksamkeit gefunden hat, um welches Kriterium es ihm geht. Wenn es um die Steigerung der Fachleistungen geht, also um die didaktische Funktion der Hausaufgaben, ist die Studienlage uneinheitlich. Es gibt Studien, die leistungssteigernde Effekte nachweisen konnten, und es gibt solche, die keine Effekte erbrachten. Das hat unter anderem damit zu tun, dass unter Hausaufgaben Verschiedenes verstanden werden kann. Was gehört dazu? Sind es nur schriftliche Aufgaben, die bis zum nächsten Tag zu erledigen sind, geht es auch um mündliches Lernen oder darum, Vokabeln zu wiederholen?

Die unterschiedlichen Ergebnisse hängen auch mit den unterschiedlichen Fächern und Klassenstufen zusammen, auf die sich die Studien beziehen. Steht zum Beispiel die Lesekompetenz oder die Rechtschreibung im Zentrum? Und diese verschiedenen Bereiche können beispielsweise über Tests oder Schulnoten auch noch unterschiedlich erfasst werden. Außerdem: Handelt es sich um eine Längsschnittuntersuchung oder um einen Querschnitt? Hier haben wir es einfach mit sehr unterschiedlichen Gegebenheiten zu tun.

Wenn man über alles sieht, kann man nach heutigem Wissensstand im Mittel von einem kleinen Effekt der Hausaufgaben auf die Schulleistung ausgehen. In den Grundschulen ist der Effekt kaum auffindbar, in der Sekundarstufe fällt er etwas höher aus. Zusammengenommen kann man sagen: Hausaufgaben wirken nicht per se, aber es besteht die Möglichkeit einer leistungssteigernden Wirkung.

Online-Redaktion: Welche Wirkungen von Hausaufgaben gibt es neben der Leistungssteigerung noch?

Kohler: Die zweite Hauptfunktion der Hausaufgaben ist die erzieherische Funktion. Damit gemeint ist die Förderung von Selbstdisziplin, Verantwortung oder Zuverlässigkeit. Für diesen Bereich existiert überhaupt keine Forschung. Er wäre allerdings auch sehr schwierig zu erforschen. Hier müssten wir erst einmal bestimmen, was wir beispielsweise unter Verantwortung verstehen und wie wir diese messen wollen.

Eine weitere Wirkung, die in diesen Bereich hineinspielt, aber gar nicht intendiert ist, könnte auch eine Verstärkung des Vermögens der Schülerinnen und Schüler sein, sich durchzumogeln, also bei zu umfangreichen oder zu schwierigen Hausaufgaben irgendetwas im Heft zu haben und auf der Oberfläche fleißig und erfolgreich zu wirken. Auch das Abschreiben von Hausaufgaben, zu dem ich gesondert geforscht habe und das eine sehr vielfältige Praxis in der Schule darstellt, gehört hier dazu. Das Abschreiben ist gerade in der Sekundarstufe weit verbreitet, ohne dass es beispielsweise in der Lehrerbildung thematisiert werden würde.

Online-Redaktion: Wie lassen sich Hausaufgaben historisch herleiten?

Kohler: Hausaufgaben haben eine lange Tradition. Der Begriff tauchte schon im 15. Jahrhundert auf, und Hausaufgaben hatten damals, soweit man das heute rekonstruieren kann, in den einklassigen Lateinschulen die Aufgabe, Möglichkeiten der Differenzierung und individuelle Übungen bereitzustellen. In den folgenden Jahrhunderten bestanden die Hausaufgaben mit unterschiedlichen Begründungen fort. Manche Autoren sprechen davon, dass es darum ging, ins Elternhaus hineinzuwirken, Übungen auszulagern, fehlenden Nachmittagsunterricht auszugleichen, die Schülerinnen und Schüler zur Selbstdisziplin an- und sie vom Müßiggang abzuhalten.

Zugleich ist auch die Kritik an Hausaufgaben schon alt, es gibt sie seit über 150 Jahren. Zunächst kritisierten vor allem Mediziner die Überlastung der Schülerinnen und Schüler durch das viele Stillsitzen, von dem man negative Auswirkungen auf die Gesundheit befürchtete.

Online-Redaktion: Gibt es auch in anderen Ländern Hausaufgaben?

Kohler: In vielen Ländern will man auf Hausaufgaben nicht verzichten, vor allem nicht in höheren Klassen. Die gleichzeitige Diskussion, ob man sie nicht doch abschaffen sollte, gibt es dort aber ebenfalls. So kenne ich das beispielsweise aus der Schweiz, aus Österreich, Italien, Luxemburg und den USA. Es scheint aber sehr schwierig, hier eine Änderung herbeizuführen. Besonders markant ist ein Beispiel aus der Schweiz. Ende der 1990er Jahre hatte dort eine Untersuchung gezeigt, dass Hausaufgaben in der Primarstufe in den Klassen 4 und 6 keine leistungssteigernden Effekte hatten, nachdem es insgesamt eine Wochenstunde Unterricht mehr gegeben hatte. Trotzdem wurden die abgeschafften Hausaufgaben wieder eingeführt.

Online-Redaktion: Viele Schulleitungen berichten, dass sie weniger im Kollegium als bei den Eltern auf Widerstand stoßen, wenn es darum geht, die Hausaufgaben abzuschaffen. Wie ist das zu erklären?

Kohler: Auch Eltern sind unterschiedlich. Allgemein kann man sagen, dass die Eltern es auch nicht anders kennen. Sie haben früher ja selbst Hausaufgaben gemacht. Eltern wollen auch nichts versäumen, wenn es um die Schulbildung geht. Sie meinen es schließlich gut. Die Hausaufgaben stellen für viele eine Brücke zwischen Schule und Elternhaus dar. An den Hausaufgaben können die Eltern sehen, wie ihr Kind mit den Anforderungen der Schule zurechtkommt, und hier können sie bei unzureichend erscheinenden Leistungen – wenn sie wollen – entsprechend gegensteuern. Wenn man ihnen diese Möglichkeit nimmt, muss man ihnen entweder etwas Anderes bieten oder ihnen den Sinn der Änderung gut erklären.

Eltern haben vielleicht auch Angst, dass ihren Kindern ohne Hausaufgaben eine Lernchance genommen wird. Diese Sorgen entspringen einer guten Intention: Die Eltern kümmern sich um ihre Kinder. Daher sollten Schulen dies ernst nehmen.

Online-Redaktion: Sie haben zu spezifischen Aspekten der Hausaufgaben geforscht, von der Art des Aufgebens bis zur Durchführung der Kontrolle. Haben Sie Kriterien für die Lernwirksamkeit von Hausaufgaben herausgefunden?

Kohler: Zunächst einmal geht es um die Qualität der Aufgaben. Hausaufgaben sollten kognitiv aktivierend, motivierend und individuell angepasst im Niveau sein. Letzteres ist sehr schwierig, wenn man sich vorstellt, dass etwa 25 Schülerinnen und Schüler mit unterschiedlichen Lernvoraussetzungen in einer Klasse sitzen. Damit die Aufgaben überhaupt aufgenommen, verstanden und umgesetzt werden können, muss genügend Zeit für die Aufgabenstellung eingeplant werden, um auch auf eventuelle Rückfragen einzugehen. Es hat sich gezeigt, dass dies häufig nicht der Fall ist.

Beim späteren Besprechen der Aufgaben kommt es außerdem häufig vor, dass einige Schülerinnen und Schüler sich langweilen, wenn ein Lehrer die Aufgaben nochmals erklärt, während andere diese trotz Erklärungen schwer nachvollziehen können, weil ihnen die Grundlagen fehlen. Die Situation zieht sich in die Länge und ist insgesamt sehr unbefriedigend für alle Beteiligten.

Und letztlich ist zu fragen, wie viel Zeit für die Kontrolle und Auswertung der Hausaufgaben aufgewendet wird. Ein Argument für Hausaufgaben ist ja, Lernzeit einzusparen. Wenn die Besprechung aber länger braucht als das Anfertigen, ist dieses Argument hinfällig.

Online-Redaktion: Wie beurteilen Sie es, wenn Ganztagsschulen die Hausaufgaben zu Lernzeiten umwandeln wollen?

Kohler: Hier sehe ich große Chancen. Es kommt aber darauf an, wie diese Lernzeiten konzipiert und gestaltet werden – ob sie zum Beispiel täglich stattfinden und ob sie verpflichtend sind und welche Gruppengrößen bestehen. Wenn Lernzeiten erfolgreich sein sollen, müssen sie so gestaltet sein, dass die Kinder gerne hingehen, sich nicht gestört fühlen, gut arbeiten können und Unterstützung erhalten. Ganz wesentlich ist, dass am Ende der Lernzeit nicht ein Rest an Aufgaben doch wieder mit nach Hause genommen werden muss. Nach einem langen Schultag ist es nicht wünschenswert, dass vor allem jene Schülerinnen und Schüler, die sich sowieso schon schwertun, zu Hause noch weiterarbeiten müssen.

Eine große Chance, die Lernzeiten bieten, ist die Befreiung des Familienlebens von den Hausaufgaben. Viele Eltern haben das bestätigt, das zeigt auch die StEG-Studie. Eine Chance bieten Lernzeiten auch für Kinder aus benachteiligten Familien, weil für deren Lernentwicklung das Umfeld in der Schule zuträglicher ist. Lernzeiten in der Schule haben auch den großen Vorteil, dass die Lehrkräfte es gleich sehen, wenn es Schwierigkeiten gibt.

Online-Redaktion: Woran forschen Sie aktuell?

Kohler: Ich habe das Stellen von Hausaufgaben an Gymnasien erforscht und möchte dies im nächsten Jahr an Grundschulen untersuchen. Was mich außerdem weiterhin interessiert, ist das Abschreiben von Hausaufgaben. Das ist ein sehr spannendes Thema.

Online-Redaktion: Vielen Dank für das Interview!

Zur Person

Dr. Britta Kohler ist Professorin für Schulpädagogik und Akademische Oberrätin am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Tübingen. Nach dem Studium der Erziehungswissenschaft, Psychologie und Soziologie in Tübingen wurde sie an der Ludwig-Maximilians-Universität München mit der Dissertation „Problemorientierte Gestaltung von Lernumgebungen“ promoviert. 2004 erhielt sie einen Förderpreis der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGfE). Ihre Forschungsschwerpunkte sind Schulforschung und Schulentwicklung, insbesondere Hausaufgaben, der Umgang mit Heterogenität und die Entwicklung von Ganztagsschulen.

Veröffentlichungen u. a.:

  • Kohler, B. (2019). Gelassen durch die Grundschule. Antworten auf die 55 wichtigsten Elternfragen. Von A wie Aufmerksamkeit bis Z wie Zeugnis. Weinheim. Beltz.
  • Kohler, B. (2017). Hausaufgaben. Überblick und Praxishilfen für Halbtags- und Ganztagsschulen. Weinheim: Beltz.
  • Kohler, B. (2016). Ganztagsschule gestalten: Chance oder Bürde? Entscheidungsfelder für schulische Akteure am Beispiel von Lernzeiten. Schulmagazin 5-10, 84, 7-10.
  • Kohler, B. (2015). Die Vergabe von Hausaufgaben im Unterricht: Erste Daten zu einer vernachlässigten Schlüsselsituation. Empirische Pädagogik, 29 (2), 189-210.
  • Kohler, B. (2015). „Das sollte ich eigentlich öfter tun“ – Zur Praxis differenzierter Hausaufgaben aus der Sicht von Lehrkräften an Grundschulen und Gymnasien. Zeitschrift für Grundschulforschung, 8 (2), 100-113.
  • Kohler, B. (2013). Was wissen wir über Hausaufgaben? Ergebnisse der Forschung und Konsequenzen für die Praxis. Pädagogik, 65 (3), 6-9.
  • Kohler, B., Merk, S. & Zengerle, I. (2013). Hausaufgaben abschreiben: Täuschungsverhalten aus theoretischer, empirischer und praktischer Perspektive. Pädagogik, 65 (3), 18-21.
  • Kohler, B. (2003). Hausaufgaben. Helfen - aber wie? (7. Auflage). Weinheim: Beltz.

Weitere Beiträge der Autorin hier in unserem Familienhandbuch

Quelle

Ralf Augsburg, Eine Frage der Qualität: Hausaufgaben und Lernzeit, 21.10.2016 In: http://www.ganztagsschulen.org/de/18024.php, Datum des Zugriffs: 08.11.2016

Foto: © Britta Kohler

eingestellt am 10.11.2016

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