Wie können Eltern mit Noten umgehen?
Prof. Dr. Britta Kohler
„Was, schon wieder eine Vier?“ - Noten sind immer wieder Thema in Familien mit Schulkindern. Viele Eltern kennen das noch aus ihrer eigenen Schulzeit. Denn: Noten haben eine lange Tradition in der Schule. Gleichwohl sind sie mit Blick auf ihre Nachteile sehr kritisch zu sehen. Doch was heißt dies für Sie als Eltern?
Im Folgenden wird gezeigt, warum es wichtig ist, als Eltern Noten nicht unnötig wichtig zu nehmen. Es werden verschiedene Tipps gegeben und erklärt, zum Beispiel: Vergleichen Sie die Noten Ihres Kindes nicht mit den Noten anderer Kinder. Vergüten Sie Noten nicht mit Geld. Üben Sie mit jüngeren Kindern nicht extra für Tests und Klassenarbeiten. Damit wird hier ganz bewusst ein kritischer Blick auf jene Verhaltensweisen von Eltern gelenkt, die weit verbreitet sind und oftmals kaum hinterfragt werden. Auf diese Weise gewinnen Sie Ideen, wie Sie neu über Noten denken und selbst besser handeln können.
Die Idee, dass Noten zur Schule gehören, ist in unserer Gesellschaft weit verbreitet. Vielleicht sind auch Ihnen Noten wichtig, damit Sie wissen, „wo Sie dran sind“. Gleichzeitig finden sich viele kritische Stimmen. Und so gibt es bei uns am Schulanfang noch keine Noten. Manche Schulen verzichten sogar in höheren Klassenstufen erfolgreich darauf. Auch in Skandinavien lernen Kinder jahrelang ohne Noten. Und so stellen sich Fragen: Brauchen wir Noten? Wie können Sie mit Noten umgehen?
Im Folgenden finden Sie einige Überlegungen dazu:
Welche Vorteile haben Noten?
Noten können vergleichsweise schnell geschrieben und gelesen werden. Sie zeigen Ihnen an, ob oder inwieweit die Leistung Ihres Kindes den vorhandenen Kriterien entspricht und ob sie eher in der Mitte der Klasse oder darüber oder darunter liegt. Noten werden weltweit genutzt, wenn es darum geht, Schul- oder Studienplätze zu vergeben. Vor allem aber haben Noten eine lange Tradition.
Welche Nachteile haben Noten?
Noten sind informationsarm
Einer Note können Sie nicht entnehmen, was Ihr Kind kann und was es noch nicht kann, was ihm leicht- oder schwerfällt und was ihm helfen könnte.
Noten sind nicht objektiv
Nicht nur in Deutsch, auch in Mathematik sind Noten nicht objektiv. Studien zeigen immer wieder, dass ein und dieselbe Leistung ganz unterschiedlich benotet werden kann. Dies liegt unter anderem daran, dass verschiedene Lehrkräfte verschiedene Kriterien haben.
Noten sind nicht vergleichbar
Die Leistung Ihres Kindes wird in einer leistungsstarken Klasse anders als in einer leistungsschwachen Klasse benotet. Auch lassen sich Lehrkräfte beim Benoten oftmals von äußeren Dingen beeinflussen, so z.B. von der Handschrift.
Noten sind für ein Lernen aus eigenem Antrieb problematisch
Noten lenken vom Inhalt und vom eigenen Lernfortschritt ab. Wer nur der Noten wegen lernt, vertieft sich nicht aus Interesse und lernt nicht nachhaltig.
Noten sind problematisch für Leistungsstarke und Leistungsschwache
Wiederholt schlechte Noten sind bei Kindern, die sich angestrengt haben, problematisch für die Motivation. Auch sehr leistungsstarke Kinder entwickeln ihre Kräfte mit Blick auf die sowieso schon guten Noten nicht unbedingt weiter.
Noten fördern Konkurrenz
Wer anderen in der Klasse hilft, sorgt unter Umständen dafür, dass es viele gute Leistungen gibt, die eigenen Leistungen also nichts Besonderes mehr sind, und schneidet sich damit letztlich ins eigene Fleisch. Mit Blick auf die Noten ist es also „sinnvoll“, anderen nicht zu helfen. Aus Mitschülern werden Konkurrenten.
Noten bringen oftmals ein Schummeln und Verheimlichen mit sich
Wer die erwarteten Noten nicht auf ehrliche Weise erreichen kann oder will, findet viele Wege des Schummelns. Kinder verheimlichen auch zu Hause immer wieder schlechte Noten oder belügen ihre Eltern.
Was bedeuten diese Vor- und Nachteile für Sie?
Die wenigen Vorteile und die vielen Nachteile von Noten machen deutlich: Es wäre unklug, wenn Sie als Eltern Noten von Anfang an betonen würden. Erst dann, wenn es um den Schulabschluss geht, ist es sinnvoll, auf die Bedeutung von Noten für den Erhalt eines Studien- oder Ausbildungsplatzes hinzuweisen. Vor dem Schulabschluss sind Noten „nur“ für die Versetzung oder Nicht-Versetzung relevant. Damit ist jedoch ein ganz anderes, neues Thema angesprochen, welches hier aus Platzgründen ausgespart wird.
Wie können Sie mit den anfänglichen Rückmeldungen ohne Noten umgehen?
Am Schulanfang bekommen Kinder noch keine Noten, sondern Rückmeldungen beispielsweise in Form von Smileys oder schriftlichen Hinweisen („Prima!“ – „Gut gemacht!“ – „Das ist viel übersichtlicher geworden! Achte noch darauf, die Anfangsbuchstaben untereinander zu schreiben.“). Auch das Zeugnis ist anfangs ohne Ziffernzensuren und enthält Beschreibungen des Lernens und Verhaltens („Lea arbeitet zielstrebig und ausdauernd an ihren Aufgaben“). Durch die verschiedenen Rückmeldungen erfahren Sie und Ihr Kind etwas über die Qualität seiner Arbeit („Leon zeigt immer wieder kreative Lösungen“) oder auch über seinen Lernfortschritt („Marcello konnte seine Leistungen im Rechtschreiben erheblich steigern“). Dabei lernt Ihr Kind, die Qualität seiner Leistungen selbst einzuschätzen. Es übt sich darin, Kritik anzunehmen und umzusetzen („Bitte benutze zum Durchstreichen ein Lineal“). Ein Vergleich mit den anderen Kindern der Klasse findet nicht statt.
Wenn Ihnen Ihr Kind positive Rückmeldungen zeigt, so ist dies natürlich ein Anlass zur Freude. Zeigt es Ihnen hingegen negative Rückmeldungen, so können Sie zunächst einmal lobend herausstellen, dass Ihr Kind Ihnen diese überhaupt zeigt. Vielleicht fragen Sie aber auch erst einmal oder versuchen zu erspüren: Wie geht es dir mit dieser Rückmeldung? Zusätzliche Kritik ist dann kaum zu empfehlen. Vielmehr geht es darum, zu überlegen, wie das Lernen besser gelingen kann.
Wie können Sie auf die ersten Noten reagieren?
Im Laufe der Grundschulzeit bringt Ihr Kind in der Regel die ersten benoteten Arbeiten mit nach Hause. Wann das genau ist, hängt vom jeweiligen Bundesland ab. Im ersten Schuljahr gibt es allgemein noch keine Noten. Danach ergibt sich für Sie die Frage: Wie wollen Sie auf die Noten reagieren? Vermutlich wird es Ihnen wichtig sein, Ihr Kind einerseits zu stärken und ihm Rückhalt zu geben und es andererseits zum Lernen und Arbeiten und letztlich zu einem erfolgreichen Schulabschluss zu bewegen. Doch wie kann dies gelingen? Die folgenden Überlegungen können helfen:
- Nehmen Sie die Noten nicht zu wichtig! Was wirklich zählt, ist die Frage, ob das Kind dazu gelernt hat.
- Vergüten Sie Noten nicht mit Geld. Die Idee „Geld für gute Noten“ wird besonders schwierig, wenn Geschwister in die Schule kommen oder es um die Frage geht, wie Noten in Deutsch und Sport verrechnet werden sollen.
- Fragen Sie Ihr Kind, ob es zufrieden ist und wie es selbst zum erreichten Ergebnis steht.
- Machen Sie sich ein eigenes Bild: Fehlen dem Kind entscheidende Punkte in einer Arbeit, weil es etwas überlesen oder verwechselt hat? Oder fehlen ihm zentrale Wissensbestände und Kompetenzen?
- Überlegen Sie gemeinsam, was gelungen und was weniger gelungen ist und was beim nächsten Mal besser gemacht werden kann.
- Fragen Sie nicht nach dem Klassendurchschnitt und nach den Noten der anderen. Gerade im Falle einer guten Note sollte die Freude nicht dadurch geschmälert werden, dass andere auch erfolgreich waren.
- Trösten Sie Ihr (jüngeres) Kind im Falle einer schlechten Note. Nach einem Misserfolg benötigt es keine weitere Kritik, sondern eine Umarmung und den Hinweis, dass es beim nächsten Mal besser werden kann. Jugendliche hingegen müssen es auch lernen, dass geringe Anstrengung zu einem schwachen Ergebnis führen kann.
- Bestärken und stützen Sie Ihr Kind, wenn es trotz Anstrengung keine besseren Noten zu erzielen vermag.
- Versuchen Sie nicht Ihrem Kind mit vordergründig entlastenden Hinweisen zu helfen. Die Aussage „Mathe konnte ich auch nie“ oder „Na ja, Jungs und Schreiben, das ist halt schwierig“ mögen gut gemeint sein, können aber auch ungünstig ankommen und Entwicklung verhindern.
Wissen Sie eigentlich noch, wie es Ihnen früher in der Schule erging? Wie haben Ihre Eltern reagiert, wenn Sie gute oder schlechte Noten mit nach Hause brachten? Welche Reaktionen fanden Sie hilfreich, welche nicht? – Es ist immer wieder wichtig, seine eigene Schulbiographie zu überdenken und auch zu prüfen, ob man nicht früher beobachtete Verhaltensweisen einfach unbesehen übernimmt. So stellte eine Mutter einmal erschrocken fest: „Ich fragte meine Tochter: ‚Kannst du denn nicht EINMAL was ordentlich ohne Fehler abschreiben …?‘ Plötzlich habe ich mit meinem Satz meine eigene Mutter wieder gehört, mit dem genau gleichen Tonfall und der gleichen lauten Stimme. Das hat mich richtig erschreckt.“
Sollten Sie extra für Tests und Klassenarbeiten üben?
Viele Eltern üben mit ihren Kindern extra für Tests und Klassenarbeiten („Wir müssen noch üben“). Vielleicht tragen Sie sich auch mit dem Gedanken, dies zu tun? Doch was signalisieren Sie Ihrem Kind damit? Sie zeigen ihm, dass es in der Schule letztlich darauf ankommt, gute Noten zu erzielen. Sie zeigen nicht, dass es wichtig ist, sich weiterzuentwickeln und dazuzulernen. Dazu müssten Sie Ihr Kind nämlich unabhängig von Tests und Klassenarbeiten fragen: Gab es in der Schule neue und spannende Erkenntnisse? Ist etwas unklar geblieben?
Üben speziell für Tests: Mögliche negative Folgen
Wenn schulisches Lernen vornehmlich auf Tests hin ausgerichtet wird, dann ist es wenig nachhaltig. Interesse und Motivation aus der Sache heraus können sich so nur schwer entfalten. In der Pubertät kann es in der Schule dann richtig schwierig werden. Wenn jetzt kein eigenes Interesse am Lernen vorhanden ist und diesbezügliche Erwartungen von außen entwicklungsbedingt zurückgewiesen werden: Wie soll Anstrengungsbereitschaft für schulische Aufgaben entstehen? Auch kommt ein Lernen für Klassenarbeiten in höheren Klassenstufen an seine Grenzen, wenn beispielsweise in einer Woche drei Arbeiten geschrieben werden.
Außerdem kann es geschehen, dass Kinder, die von Test zu Test arbeiten und in deren Familien viel über die nächste Klassenarbeit gesprochen wird, an Gelassenheit verlieren. So berichtete eine Lehrerin: „Als ich zum ersten Mal eine vierte Klasse übernahm, fiel mir auf, wie schwierig es für manche war, wenn eine Arbeit geschrieben werden sollte. Ein Mädchen weinte schon vor der Arbeit. Da fragte ich die Kinder, ob ich die Arbeiten eigentlich ansagen sollte oder nicht. Die Kinder stimmten schließlich ab: Ich sollte die Arbeiten nicht mehr ansagen. Die Begründungen lauteten: Damit die Eltern nicht wissen können, wann wir eine Arbeit schreiben. Damit uns die Eltern nicht nervös machen. Das hat mich sehr betroffen gemacht.“
Mit Blick auf den Schulabschluss ergibt ein Lernen spezifisch für Prüfungen durchaus Sinn. Zuvor und insbesondere in der Grundschule ist es jedoch völlig ungeeignet. Hinzu kommt, dass Sie Ihrem Kind mit dem häuslichen Üben für Klassenarbeiten eventuell auch signalisieren, dass Sie ihm wenig zutrauen. Sie zeigen ihm letztlich, dass Sie der Meinung sind, Ihr Kind könne die Schule nicht ohne Sie bewältigen.
Statt Kontrolle und Einmischung: Interesse ist wichtig
Und nun? Vielleicht fällt es Ihnen schwer, sich mit Blick auf benotete Arbeiten zurückzuhalten. Es ist gut möglich, dass Sie von allen Seiten hören, wie zu Hause noch für Tests geübt und gelernt wird. Auch wollen Sie ja nichts versäumen und das Beste für Ihr Kind tun. Doch was ist das Beste?
Diese Frage ist schwer zu beantworten. Was Sie aber tun können: Weniger kontrollieren und mehr Interesse an den Fortschritten und den Inhalten zeigen. Und: Dem Kind die Verantwortung für sein Lernen mehr und mehr übergeben. Bei Fragen bereitstehen, sich aber nicht einmischen.
Sie können sich sicher sein: Langfristig wird sich ein nachhaltig angelegtes Lernen aus einem inneren Antrieb heraus im Vergleich zu einem punktuellen und von außen veranlassten Üben als überlegen erweisen. Auch die Eltern-Kind-Beziehung wird gewinnen, wenn Sie wenig Kontrolle und viel Interesse zeigen.
Literatur zum Weiterlesen für Eltern
- Kohler, B. (2019). Gelassen durch die Grundschule. Antworten auf die 55 wichtigsten Elternfragen. Von A wie Aufmerksamkeit bis Z wie Zeugnis. Weinheim: Beltz.
Literatur zum Weiterlesen für Lehrkräfte
- Brügelmann, H. (2013). Die Not mit den Noten. Bildung & wissenschaft, 12, 15-19.
- Kohler, B. (2019). Mündliche Noten geben: Lösungsmöglichkeiten für ein vielschichtiges Problem. Schulmagazin 5-10, 87 (3), 7-14.
- Kohler, B. (2014). „Welche Note bekomme ich?“ Leistungsbeurteilung aus der Perspektive von Schülerinnen und Schülern. Schulmagazin 5-10, 82 (11), 51-54.
- Kohler, B., Grimm, M., Ibach, K., Mörike, D. & Unfried, M. (2019). Mündliche Noten in der Praxis. Lehrkräfte stellen ihre Lösungen vor. Schulmagazin 5-10, 87 (3), 53-57.
- Kohler, B. & Seewald, M. (2018). Ehrlichkeit in der Schule? So können Lehrkräfte mit dem Schummeln und Mogeln ihrer Schülerinnen und Schüler umgehen. Schulmagazin 5-10, 86 (11), 7-14.
- Maier, U. (2015). Leistungsdiagnostik in der Schule. Bad Heilbrunn: Klinkhardt UTB.
- Sacher, W. (2014). Leistungen entwickeln, überprüfen, beurteilen (6. Auflage). Bad Heilbrunn: Klinkhardt.
- Zabarowski, K. U., Meier, M. & Breidenstein, G. (2011). Leistungsbewertung und Unterricht. Ethnographische Studien zur Bewertungspraxis in Gymnasium und Sekundarschule. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Weitere Beiträge der Autorin hier in unserem Familienhandbuch
- "Wir" müssen nocht Hausaufgaben machen!? Wissenswertes über Hausaufgaben und die Frage, wie Eltern ihre Kinder gelassen unterstützen können
- Eine Frage der Qualität: Hausaufgaben und Lernzeit
Autorin
Prof. Dr. Britta Kohler
Dr. Britta Kohler ist Professorin für Schulpädagogik und Akademische Oberrätin am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Tübingen. Nach einem Lehramtsstudium in Heidelberg und dem Studium der Erziehungswissenschaft, Psychologie und Soziologie in Tübingen wurde sie an der Ludwig-Maximilians-Universität München mit der Dissertation „Problemorientierte Gestaltung von Lernumgebungen“ promoviert. 2004 erhielt sie für eine Arbeit im Rahmen ihrer Habilitationsschrift „Zur Rezeption externer Evaluation“ einen Preis der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGfE). Nach Tätigkeiten an der Schule und an verschiedenen Hochschulen lehrt sie nun am Institut für Erziehungswissenschaft in Tübingen. Ihre Forschungsinteressen gelten derzeit insbesondere den Hausaufgaben, dem Umgang mit Heterogenität, der Entwicklung von Ganztagsschulen und den unterschiedlichen Perspektiven schulischer Akteure.
Kontakt
Prof. Dr. Britta Kohler
Eberhard Karls Universität Tübingen
Institut für Erziehungswissenschaft
Abteilung Schulpädagogik
Foto: © Britta Kohler
eingestellt am 16. Januar 2020