Schulangst

Detlef Träbert
Traebert Porträt-2017-05

Der Artikel beschreibt Schulangst als eine spezielle Erscheinungsform der Angst und zählt neun Formen der Ängste von Schülerinnen und Schülern sowie die häufigsten Symptome dafür auf. Er benennt ihre Ursachen vom elterlichen Leistungsdruck über den der Schule bis hin zu Gruppendruck und Mobbing. Vor allem aber zeigt er Wege zum konstruktiven Umgang mit Schulangst auf und plädiert für ein gemeinsames Vorgehen von Eltern und Lehrpersonen gegen dieses Phänomen. Dabei werden zahlreiche konkrete Vorschläge gemacht, aber auch hinderliche Systembedingungen nicht verschwiegen.

„Angst ist eine Farbe unseres Lebens“, sagt der Psychoanalytiker Horst-Eberhard Richter. Angst ist ein elementarer Bestandteil des Menschseins – und auch Kinder haben Ängste, darunter eben solche in Bezug auf die Schule.

Angst ist nicht nur unvermeidlich, sondern überlebensnotwendig für unsere Art – denken wir heutzutage nur an die atomare Bedrohung oder Umweltzerstörungen, die wir zu Recht fürchten müssen. Unseren vorzeitlichen Vorfahren ermöglichte das Angstgefühl, Gefahren wahrzunehmen und – davon rechtzeitig gewarnt – sich auf Kampf oder Flucht einzustellen. Darum erleben wir heute noch die gleichen physiologischen Angstreaktionen wie die Steinzeitmenschen, nämlich einen „Zustand flinker Mobilisierung“, wie Verhaltensbiologen das nennen. Dieser wird durch die Ausschüttung von Hormonen (Adrenalin, Noradrenalin, Kortikosteroide u.a.m.) ausgelöst und ist gekennzeichnet durch

  • Erhöhung von Herztätigkeit und Blutdruck, was der zu erwartenden motorischen Beanspruchung gerecht wird.
  • Zudem können bei starken Ängsten kalter Schweiß,
  • Zittern,
  • evtl. sogar Verlust der Kontrolle über die Schließmuskulatur („Es geht vor Angst in die Hose“) und vor allem
  • das Abschalten des Vorderhirns auftreten; letzteres ist für die Denkblockaden unter Angst verantwortlich.

Wenn auch ein Leben mit Ängsten unvermeidlich ist, so heißt das doch nicht, dass man Schulangst als „einfach dazugehörig“ akzeptiert. Um in dieser Leistungsgesellschaft bestehen zu können, braucht man eine starke, stabile Persönlichkeit, die sich jedoch nur entwickeln kann, wenn das Kind in einem geschützten Raum seine Anlagen entfalten darf – ohne Angst vor Experimenten, Fehlern und Irrtümern. Darum ist es so wichtig, die Schulängste von Kindern wahrzunehmen, sie zu verstehen und hilfreich mit ihnen umzugehen, denn sie sind nicht unvermeidlich und ihre Ursachen können zumindest reduziert werden.

Das Wechselverhältnis zwischen Angst und Macht

Kleine Kinder erleben die Welt ganz anders als Erwachsene. Was dem Vater kaum ein Zucken entlockt, beispielsweise der Knall beim Zerplatzen eines Luftballons, kann ein Kleinkind zu einer „Massenreaktion“ mit Schreien, Weinen und völliger Panik veranlassen. Das hat damit zu tun, dass der Erwachsene bereits eine Menge an Erfahrungen im Leben sammeln konnte, die es ihm ermöglichen, eine Situation schnell und relativ zutreffend als harmlos oder gefährlich für ihn selbst einzustufen. Bei derartigen Situationsprüfungen wägen wir immer ab, ob unsere Möglichkeiten der Situationsbewältigung ausreichend sind, ob wir über genug „Macht“ verfügen, sie auszuhalten oder gar zu beeinflussen. Die Quellen unserer Macht liegen im körperlichen und geistigen Bereich. Beide Ebenen entwickeln sich von klein auf und sind zudem trainierbar, denn sowohl Kraft und motorische Geschicklichkeit als auch Wissen und denkerische Fähigkeiten lassen sich durch Übung steigern.

Wer sich körperlich „stark“ fühlt oder auch kompetent und sicher, der verfügt über viel Macht. Wer Macht hat, braucht andere Menschen weniger als die Schwachen. Manchmal überschätzen sich Menschen aber auch – bis hin zu Allmacht-Phantasien. Es gibt Kinder, die haben das Gefühl, für sie sei alles möglich; in der Regel haben sie noch nicht genügend Erfahrungen mit Grenzen gemacht, weil ihnen stets alle Schwierigkeiten aus dem Weg geräumt wurden (z.B. von über die Maßen verwöhnenden Eltern). Sie scheinen keine Angst zu kennen; aber wenn ihnen etwas nicht gelingt, geben sie sehr schnell auf.

Wer sich schwach oder inkompetent fühlt, erlebt viel Angst, denn ständig ist das Gefühl präsent, Erwartungen, Anforderungen oder Situationen nicht gewachsen zu sein. Dieses Schwächegefühl verlangt dann nach Kompensation (= Ausgleich), z.B. durch einen starken Erwachsenen, um die Angst zu überwinden.

Je besser wir unsere Fähigkeiten und Grenzen kennen, desto realistischer kann unsere Einschätzung einer potentiellen Gefahr ausfallen. Kinder sind sich dieser ihrer Fähigkeiten und ihrer wirklichen Stärke oder Schwäche nicht so bewusst bzw. sind tatsächlich schwach. Dieses Defizit an „Macht“ können sie nur durch die Anwesenheit einer Bezugsperson ausgleichen, die sie als freundlich-annehmend und stark erleben. Darum beruhigen sich verängstigte Kinder, wenn sie von der Mutter in den Arm genommen werden; darum sind Kinder gegenüber einem Quälgeist auf dem Spielplatz viel mutiger, wenn eine erwachsene Begleitperson dabei ist.

Beispiel: Timo ist acht Jahre alt und besucht die Grundschule in seinem Dorf. Oft provoziert er seine Mitschüler mit Angeberei und Frechheiten, so dass sie ihm gelegentlich nach Unterrichtsschluss hinterher rennen, um ihn zu verprügeln. Timo hat dann große Angst, dass sie ihn erwischen könnten. Deshalb bemüht er sich um einen kleinen Vorsprung, um rechtzeitig in Sichtweite des Elternhauses zu gelangen. Laut ruft er nach seiner Mutti, und wenn sie auf dem Balkon erscheint, trauen sich die anderen nicht mehr an ihn heran. Dann fühlt sich wieder sicher und dreht seinen Verfolgern eine lange Nase. „Na warte, wenn wir dich erwischen!“, rufen sie ihm hinterher …

Je stärker wir selbst uns in Bezug auf eine Situation fühlen, je mehr wir uns selbst diesbezüglich zutrauen, desto weniger Angst empfinden wir. Je geringer ein Mensch seine Möglichkeiten zur Bewältigung einer Situation einschätzt, desto mehr Angst empfindet er und desto abhängiger ist er von der Kompensation durch einen stärkeren anderen, der ihn freundlich annimmt.

Ist der „starke Erwachsene“ jedoch nicht freundlich annehmend, sondern feindselig, dann kann die Angst bis ins Unermessliche steigen. Das erleben Kinder von misshandelnden oder übermäßig strengen Eltern täglich, denn ihre wichtigsten Bezugspersonen, so empfinden sie es, schützen sie nicht nur nicht, sondern stellen selber eine Gefahr dar.

Mit zunehmendem Alter wächst die Fähigkeit, das Bedrohungspotenzial einer Situation realistisch einzuschätzen, weil das Bewusstsein von den eigenen Fähigkeiten (und Grenzen) zunimmt.

Der fünfjährige Dirk fing noch an zu weinen und versteckte sich hinter seiner Mutter, als ein Dackel hinter einem Gartenzaun wütend kläffte. Mit zwölf Jahren lacht er nur noch über den aufgeregten, kleinen Hund. Begegnet ihm aber ein streunender Schäferhund, verhält er sich vorsichtig.

Je mehr Erfahrungen ein Kind selber machen kann, desto mehr Selbstbewusstsein (=Bewusstsein von sich selbst) entwickelt es. Damit kann es zunehmend unabhängiger von den freundlich-annehmenden Erwachsenen werden, die es als kleines Kind noch so sehr brauchte.

„Der Weg
des Kindes zum Erwachsenen
ist der Weg
von Abhängigkeit
zu Selbstvertrauen.“

(Benjamin B. Wolman)

Was ist eigentlich „Schulangst“?

Angst ist (im Unterschied zur Furcht vor konkreten Situationen) ein allgemeines und dauerhaftes Gefühl, dessen Auftreten nicht von einem konkreten Objekt oder Ereignis abhängt. Wer Angst vor Hunden hat, bekommt schon bei dem Gedanken an eine mögliche Begegnung mit einem Hund Herzklopfen. Die Angst spiegelt also das Gefühl einer allgemeinen Schwäche wider, das Gefühl, bestimmte Gefahren nicht bewältigen zu können. Das Problem liegt somit innerhalb der Persönlichkeit. Wer in Bezug auf viele Situationen Ängste hat, ist eine ängstliche Persönlichkeit; Ängstlichkeit gilt als Charaktereigenschaft. Sie kann durchaus von konkreten, Furcht erregenden Situationen herrühren:

Beispiel: Rüdiger wird von seiner Mutti beim Spazierengehen noch an die Hand genommen. Als sie an einem Gartenzaun vorbeikommen, kläfft dahinter wütend ein kleiner Dackel und springt gegen den Zaun. Der Junge erschrickt und sucht hinter seiner Mutter Deckung. Sie lacht und sagt: „Aber schau mal, der ist doch so klein, der tut dir nichts“, und schiebt ihn vor zum Zaun. Rüdiger gerät in Panik und wehrt sich. „Jetzt sei aber vernünftig!“, schimpft die Mutti. „Der kann dir nichts tun, da ist doch ein Zaun dazwischen.“ Wieder schiebt sie ihn zum Dackel hin, doch Rüdiger schreit und lässt sich fallen. Ärgerlich geht die Mutter mit ihm weiter.

Wenn das Gefühl der Machtlosigkeit in Bezug auf den Hund groß ist, braucht das Kind den starken, freundlich-annehmenden Erwachsenen. Rüdiger fühlte sich machtlos, weil er die reale Ungefährlichkeit der Situation noch nicht erkennen konnte. Der laute und sich heftig bewegende Hund schreckte ihn. Das Verhalten seiner Mutter, die nicht verstand, warum er so furchtsam reagierte, bot ihm nicht den Schutz, den er sich gewünscht hatte, sondern lieferte ihn – in seinem Erleben – der Gefahr geradezu aus. Das war eine leichte Form von Traumatisierung, die zu Angstträumen und genereller Ängstlichkeit in Bezug auf Hunde führen kann.

Andere Situationen, in denen ein freundlich-annehmender Erwachsener gebraucht wird:

  • Wenn Kinder beim Rechtschreiben immer wieder, vor allem aber ungeduldig und mit Schimpfen oder gar Strafen, auf ihre Fehler hingewiesen werden, können sie Angst vorm Schreiben entwickeln.
  • Wird ein Schulkind von anderen regelmäßig wegen fehlerhafter Antworten ausgelacht, kann es Angst entwickeln, sich am Unterricht zu beteiligen.
  • Kinder, die in der ersten Zeit auf dem Gymnasium immer wieder zu hören bekommen: „Wer das nicht kann, gehört nicht hierher!“, entwickeln Angst vor dem Versagen, denn wer das Gymnasium wieder verlassen muss, blamiert sich und beschämt die Eltern. Das möchte kein Kind.

Schulangst ist somit eine spezielle Erscheinungsform der Angst. Sie ist eine Reaktion auf Gefahren oder Bedrohungen in Bezug auf Schule und kann vielfältige Ursachen haben. In der Literatur werden verschiedene Formen der Angst von Schülern genannt:

  • Lern- und Leistungsangst (Prüfungsangst),
  • Schullaufbahnangst (vor schlechten Zensuren, Sitzenbleiben und Schulversagen),
  • Stigmatisierungsangst (vor Bloßstellen, Lächerlichmachen oder Prestigeverlust),
  • Trennungsangst,
  • Strafangst,
  • Personenangst, manchmal auch als soziale Angst bezeichnet (vor dem Rektor, vor Lehrkräften oder Mitschülern),
  • Konfliktangst,
  • Institutionsangst (vor den hierarchischen Herrschaftsstrukturen, der Größe, Komplexität, Unüberschaubarkeit der Schule) und
  • neurotische Angst (= Angst vor der Angst).

Die Symptome von Schulangst können von Kind zu Kind sehr unterschiedlich aussehen. Sie können auch eine Reaktion auf ganz andere seelische Belastungen darstellen, etwa auf Spannungen zwischen den Eltern, einen Umzug oder auch einen Todesfall. Darum muss in solchen Fällen stets erst medizinisch und dann psychologisch abgeklärt werden, was hinter dem beobachteten Verhalten steckt. Die häufigsten Symptome sind:

  • Magenprobleme („Schul-Bauchweh“) mit Schmerzen im ganzen Oberbauchbereich, gelegentlich Übelkeit und Erbrechen bis hin zu Essstörungen und langfristig daraus folgenden Gewichtsschwankungen;
  • andauernde Müdigkeit, Erschöpfungszustände, Konzentrationsstörungen;
  • Kopfschmerzen;
  • Schlafstörungen, auch Angst- und Alpträume;
  • Verhaltensauffälligkeiten vom Trödeln vor der Schule über Aggressionen oder auch Depressionen, neuerliches Nägelkauen oder Einnässen bzw. Einkoten bis hin zur totalen Schulverweigerung.

Was hinter Schulangst stecken kann

Eine wesentliche Ursache von Schulangst ist der Leistungsdruck. Die Angst vor Noten und Klassenarbeiten bestimmt vor allem bei Schülern höherer Schularten den Alltag. In den Bundesländern, in denen am Ende der Grundschulzeit die weitere Schullaufbahn aufgrund der Noten festgelegt wird und nicht der freien Elternentscheidung überlassen ist, wirkt der Leistungsdruck ganz enorm auch schon im 4. Schuljahr und strahlt sogar in die 3. Klassenstufe und noch weiter nach vorne aus.

Der Leistungsdruck ist natürlich nicht nur Resultat schulischer Anforderungen, sondern ist immer im Zusammenspiel mit den elterlichen Erwartungen zu sehen. Insofern beginnt er schon beim Kleinkind, das mit Gleichaltrigen hinsichtlich des Laufen- und Sprechenlernens oder des Sauberwerdens verglichen wird. Schulischer Leistungsdruck wird dann erstmals bei der Einschulung akut, wenn die Eltern kein anderes Bildungsziel als das Abitur für ihr Kind gelten lassen wollen und von Anfang an Ist und Soll auf dem Weg dorthin beobachten. In solchen Fällen werden auch Lehrkräfte dem Erwartungsdruck der Eltern ausgesetzt, die diesen die Verantwortung für mehr Leistung ihres Kindes aufbürden. Das Fatale an diesen Erwartungen ist jedoch, dass gerade der Druck, der leistungssteigernd wirken soll, letztlich Blockaden durch Angst erzeugt.

Neben der Noten- bzw. Leistungsangst spielen heutzutage soziale Ängste die wohl größte Rolle in der Schule. Sie beziehen sich auf das Verhältnis zu den Lehrkräften und den Mitschülern. Da der Leistungsdruck am Gymnasium am größten ist, wird von der Schülerschaft auch das Verhältnis zu ihren Lehrerinnen und Lehrern dort am kritischsten gesehen. Gerade an Gymnasien passiert es immer wieder, dass einzelne Schüler oder ganze Klassen darauf hingewiesen werden, sie müssten diese Schulart ja nicht besuchen, wenn sie nicht wollten – womit gemeint ist: Wer sich nicht anpasst, der soll gehen. Selektion per Notenbuch und Sarkasmus ist sicher nicht die Regel, aber immer noch weit verbreitet und sehr ängstigend. Und gleichzeitig existiert die Angst, bei guten Leistungen von den Mitschülern gleich als „Streber“ stigmatisiert zu werden, was besonders die Mädchen bedrückt und ihre Leistungsfähigkeit in gemischten Klassen nachgewiesenermaßen erheblich beeinträchtigt.

Ansonsten existieren soziale Ängste in Bezug auf die Schulkameraden zum einen aufgrund von Gruppenzwängen, die das „Outfit“ betreffen. Noch nie definierten sich der Status und die soziale Zuordnung von Jugendlichen so sehr über die käufliche Mode wie heute. Die Marken der Jeans und Turnschuhe entscheiden über „in“ oder „out“ und damit über Anerkennung.

Zum anderen existieren soziale Ängste aufgrund der Gewaltentwicklung in Schulen. Sachbeschädigung, Auflauern, Anmachen, Belästigen, Erpressen um Geld, Handys oder Kleidungsstücke bis hin zum gruppenweisen Verprügeln und systematischen Mobbing (auch in den sozialen Medien) gehören zu einem Spektrum von Verhaltensweisen, das – wenn auch nach Wohngegend und Schulart unterschiedlich – üblich geworden ist. Das ist alles nicht so spektakulär, wie die Medien es vorführen, aber es ist da und macht prinzipiell vor keiner Schulart halt.

Was Eltern gegen Schulangst tun können

Niemand ist einem Kind näher als die eigenen Eltern. Insofern haben Eltern weitreichende Möglichkeiten, ihren Kindern auch in Bezug auf deren Schulängste beizustehen.

Noten- und Leistungsangst beispielsweise entsteht aus dem Vergleich mit den Noten und Leistungen anderer. Wenn ein Kind bei diesem Vergleich nicht so abschneidet, wie die Eltern es sich wünschen, leidet es darunter, ihren Erwartungen nicht gerecht geworden zu sein, und entwickelt möglicherweise sogar Schuldgefühle. Bei weiteren Vergleichen kann sich dann die Erinnerung an die letzte Enttäuschung störend auf die Leistung auswirken – aus der Angst vor dem Versagen entsteht so allmählich ein Verzagen und damit ein Teufelskreis, der ein pädagogisch-psychologisches Eingreifen erforderlich macht.

Manchmal glauben Eltern, ihr Kind sei von sich aus besonders ehrgeizig. Wenn es auch einen anlagebedingten Anteil am Charakter gibt, so ist dennoch die prägende Wirkung elterlicher Wünsche, Hoffnungen und Erwartungen (selbst aus der vorgeburtlichen Zeit) nicht zu vernachlässigen. Darum ist es ungeheuer wichtig, dass Eltern gelassen sein können und ihr Kind so sein lassen, wie es eben ist. So, wie man einen Hund nicht zum Jagen tragen kann, kann man einen Menschen nicht dauerhaft zu Verhaltensweisen oder Interessenschwerpunkten nötigen, die seinem Wesen nicht entsprechen. Wenn bei jüngeren Kindern ein gewisser Druck auch noch erfolgreich zu sein scheint, so wirkt er spätestens mit dem Eintreten der Pubertät nicht mehr und hat zudem in der Regel die Eltern-Kind-Beziehung belastet.

„Selbstkritische Fragen

Wenn Sie Ihr Verhältnis zu Ihrem Kind überdenken, wenn Sie sich die Frage vorlegen, ob und inwieweit Sie die Folgen des schlechten Abschneidens in der Schule und der Schulangst verstärken, dann bedenken Sie bitte folgendes:

  • Tue ich selber für mich genug, und gibt es genügend Berührungspunkte zwischen mir und meinen Kindern, die mit der Schule nichts zu tun haben?
  • Haben meine Kinder genügend Möglichkeiten, ihr Selbstwertgefühl bei Sport, Freizeitaktivitäten, Hobby und mit Freunden zu entwickeln, so dass die Schule nicht so überwichtig für sie werden muss?
  • Tragen meine Erwartungen und die Art und Weise, wie ich Freude und Enttäuschung über Erfolg bzw. Misserfolg meines Kindes in der Schule äußere, dazu bei, die Bedeutung der Schulangst für das Kind zu vergrößern?“

(Horst Speichert, S. 170; neue Rechtschreibung: D.T.)


Jeder Mensch erlebt in seinem Leben unvermeidlich immer wieder Angst, wenn auch in unterschiedlicher Häufigkeit und Intensität. Kindern hilft es, wenn sie sich mit ihren Ängsten nicht allein fühlen, weil ihre Eltern mit ihnen darüber sprechen. Die Tatsache, dass Vati oder Mutti die gleichen Gefühle aus eigener Erfahrung kennen, ist ungeheuer beruhigend. Es ist dann ja offensichtlich okay, genauso zu empfinden. Die offene Kommunikation vermittelt auch Akzeptanz und will dem Kind seine Angst nicht ausreden. In dem Maße, in dem Eltern sich in ihr Kind einfühlen, es mit seiner Gefühlslage annehmen und ihm ihre eigene Befindlichkeit offen mitteilen, kann ein Kind weitgehend selbstständig mit seinen Problemen umgehen.

Sagen Sie möglichst nie:

  • Da musst du doch keine Angst haben!“
  • „Das ist doch nicht so schlimm!“
  • „Komm, stell’ dich nicht so an!“

Diese Sätze sagen dem Kind, dass sein subjektiv existierendes Gefühl verkehrt sei und nötigen es dazu, die Angst zu verdrängen anstatt sie zu bewältigen.

Sagen Sie lieber:

  • Das hat dir wohl ganz schön Angst gemacht.“
  • „Das ist richtig schlimm für dich gewesen, was?“
  • „Jetzt weißt du gar nicht, was du machen sollst.“

Solche Sätze sagen dem Kind, wie Sie sein Gefühl (für) wahr-genommen haben und dass Sie es damit annehmen. Auf dieser Basis kann es sich selbst mit der Angst auseinandersetzen und sie eigenaktiv zu überwinden versuchen („Aktives Zuhören“, mehr dazu bei Thomas Gordon).

Einmischen sollten Eltern sich nur so viel, wie es unbedingt nötig ist. Ein Kind, das Angst zeigt, weckt Beschützerinstinkte – das ist ganz natürlich und im Sinne des Überlebens der Art notwendig. Aber wie soll der Beschützerinstinkt umgesetzt werden?

Schutz muss gewährt werden, wenn eine reale Gefahr droht; das ist klar und braucht nicht weiter begründet zu werden. Erwachsene haben die Verantwortung dafür, dass reale Gefährdungen vermieden werden und nehmen deswegen ein kleines Kind beispielsweise beim Gehen entlang einer befahrenen Straße an die Hand. Doch Eltern haben nicht die Verantwortung für das Fühlen ihres Kindes! Fühlen Sie mit ohne Mit-Leid und zeigen Sie ihm Ihre Liebe unabhängig von seiner Angst und seinen Noten. Der Schülerin, die sich vor dem Diktat ängstigt, weil sie schon ein paar Mal schlecht abgeschnitten hat, hilft die Aufforderung „Du musst halt mehr üben!“ nicht über ihre Angst hinweg. Allein Ihr Verständnis dafür, dass der Gedanke an die nächste Fünf Kopfschmerzen bereitet (nicht selten tatsächliche Kopfschmerzen!), nimmt dem Kind einen Teil des Drucks. Dazu muss dann eine konkrete Hilfe kommen, die ihm Erfolgszuversicht gibt. Manchmal sind ergänzend Entspannungsübungen, autogenes Training oder Phantasiereisen hilfreiche Mittel zur Überwindung der Angst.

Bei sozialen Ängsten in der Beziehung zum Lehrer oder zu Mitschülern ist es richtig, sich nicht von vornherein einzumischen, sondern dem Kind Ansprechpartner zum Mitteilen seiner Gefühle zu sein. Wenn das Kind sich dabei angenommen und verstanden fühlt, wird es am ehesten in der Lage sein, einen eigenen Stil im Umgang mit solchen Problemen zu entwickeln, den es braucht, da Eltern nicht ein Leben lang alle Schwierigkeiten aus dem Weg räumen können.

Sind Gewalt oder Erpressung im Spiel, gibt es allerdings einen Bereich, in dem Intervention auch gegen den Willen des Kindes richtig sein kann. Häufig wollen die betroffenen Schüler nicht, dass ein Erpresser oder Schläger der Schulleitung oder gar der Polizei gemeldet wird, weil sie glauben, sie hätten dann noch größere Gefahr zu befürchten. Doch bei nicht mehr harmlosen Straftatbeständen wie der Erpressung, der Androhung von Körperverletzung, der tatsächlichen Körperverletzung oder gar dem Einsatz von Waffen gibt es keine andere Alternative, um sich wirksam gegen Täter durchzusetzen! Die Kooperation mit der Schule kann als erster Schritt sinnvoll sein, und bevor man die Polizei einschaltet, kann man noch prüfen, ob es soziale Einrichtungen wie einen Streetworker oder Stadtteil-Sozialarbeiter gibt, der seine Klientel kennt und auf sie Einfluss nehmen kann. Prinzipiell jedoch sollte man die Einschaltung der Polizei nicht ausschließen.

Schulangst gemeinsam mit der Schule überwinden

Angst ist nach wie vor ein Strukturmerkmal der deutschen Schule. Rund 40 Prozent aller Schülerinnen und Schüler leiden unter ihr, wie der Dresdener Erziehungswissenschaftler Wolfgang Melzer sagt. Bei diesem Ausmaß ist es unverständlich, dass nur wenig aktuelle Fachliteratur zu Schulangst auf dem Markt ist und kaum Ratgeberbücher erhältlich sind.

Umso wichtiger ist es, dass Eltern und Lehrkräfte sich gemeinsam des Themas annehmen. Es reicht nicht aus, wenn zu Hause verständnisvoll über Angst geredet wird, wenn Entspannungsübungen, Phantasiereisen und autogenes Training eingesetzt werden. Es gilt auch, die konkrete Klassen- und Schulsituation gemeinsam zu reflektieren. Ein „Fragebogen zur Angst in der Schule“ (per E-Mail beim Autor erhältlich) kann dabei hilfreich sein. Wenn Schüler ihn ausfüllen und später im Kreisgespräch über die Ergebnisse diskutieren, erleben sie einerseits, dass sie ihre Ängste mit vielen anderen teilen, und andererseits, dass sie auch selbst Ängste bei Mitschülern auslösen, etwa indem sie bei falschen Antworten lachen oder schnell jemanden als „Streber“ verunglimpfen oder beim Mobbing mitspielen.

Möglicherweise lässt sich das Thema „Schulangst“ bei einem gemeinsamen Pädagogischen Tag bearbeiten. Vielleicht ist es nützlich, ein Profil als „angstfreie Schule“ zu entwickeln und ins Schulprogramm aufzunehmen. Denkbar wären auch Projektwochen zum Thema, in denen Szenisches Spiel, Entspannungstechniken, Selbstverteidigung, Persönlichkeitstraining u.v.m. angeboten werden. Schüler könnten ihre persönlichen Tipps gegen Schulangst auf der Internetseite der Schule veröffentlichen. Doch bei all dem darf nicht vergessen werden, dass bestimmte angstauslösende Bedingungen des Schulsystems davon immer noch nicht berührt werden.

„Zweierlei ist darum notwendig:
a) In den Schulen gilt es, den Schülerinnen und Schülern angstfreies Lernen zu ermöglichen. Dazu gehört u.a.
– die Schaffung eines kommunikativen und kooperativen Lernklimas,
– die Thematisierung von Ängsten und anderen Gefühlen im Unterricht,
– die Individualisierung der Lernprozesse wie der Leistungsrückmeldungen sowie
– die intensive Arbeit an uns selber als Eltern und Lehrer, um den blockierenden Leistungsdruck nicht zu verstärken.
b) Auf der politischen Ebene gilt es, den Politikern das Brett vom Kopf zu nehmen, damit sie Schule angstfrei neu zu denken vermögen“ (Träbert, S. 5).

Empfehlenswerte Literatur zum Weiterlesen

  • Thomas Gordon: Familienkonferenz. Die Lösung von Konflikten zwischen Eltern und Kind, München (Heyne TB) 2012
  • Hans Hopf: Schulangst und Schulphobie. Wege zum Verständnis und zur Bewältigung. Hilfen für Eltern und Lehrer, Frankfurt a.M. (Brandes & Apsel Verlag) 2014

Zitierte Literatur

  • Speichert, Horst: Schulangst, Reinbek (rororo 7101) 1977 (vergriffen)
  • Träbert, Detlef: „Angst macht dumm“, in: Humane Schule, 28. Jahrg., Heft Okt. 2002, S. 1-5
  • Wolman, Benjamin B., Die Ängste des Kindes, Frankfurt/M. (Fischer-Taschenbuch 6727) 1980 (vergriffen)

Weitere Beiträge des Autors hier in unserem Familienhandbuch

Autor

Detlef Träbert ist nach 18 Jahren als Lehrer und Beratungslehrer in Baden-Württemberg seit 1996 freiberuflich tätig. Der Diplom-Pädagoge betreibt seinen Schulberatungsservice Schubs® in Köln, von wo aus er Elternvorträge und
–workshops sowie Lehrerfortbildungen u.a.m. anbietet.
Er ist Autor zahlreicher Bücher im pädagogischen Bereich.
Ehrenamtlich ist Träbert in der Aktion Humane Schule e.V. engagiert.

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Dipl.-Päd. Detlef Träbert
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Erstellt am 17. März 2003, zuletzt geändert am 30. Juli 2015