Schulfähigkeit fördern im Jahr vor dem Schulstart
Detlef Träbert
Schulfähigkeit wird in diesem Beitrag als ein Zusammenspiel von fünf Faktoren verstanden: Der körperliche Entwicklungsstand beinhaltet grob- sowie feinmotorische Grunderfahrungen; Denkfähigkeit beruht auf den Wahrnehmungen aller fünf Sinne; Motivation schließt das Konzept der Frustrationstoleranz ein, die in heutiger Zeit zunehmend defizitär ausgeprägt ist; soziale Fähigkeiten umfassen u.a. Kontakt- und Kommunikationsfähigkeit; gezielte Aufmerksamkeit ist die Basis der Konzentration beim Lernen. Entsprechende Förderung in Kombination mit früher Einführung in die Welt der Bücher schafft positive Grundlagen für die Schulfähigkeit unserer Kinder.
Als ich 1960 eingeschult wurde, war ich schulreif. Das hatte der „Schularzt“ gesagt, der mich ein paar Wochen zuvor untersucht hatte. Vorher hatten sich weder meine Eltern noch ich selbst Gedanken über den Beginn der Schullaufbahn gemacht. Heute jedoch fragen sich Eltern bereits ein Jahr vor diesem Ereignis, ob die oder der Kleine bis dahin schulfähig sein wird. Für die Kinder ist dieses Jahr noch eine Ewigkeit – ein Fünftel ihres bisherigen Lebens. Für ihre Eltern hingegen klingt „nur noch ein Jahr“ eher nach Stress: Was wird die Schuleingangsuntersuchung des Gesundheitsamtes ergeben? Kann man sein Kind zurückstellen lassen, wenn es noch nicht schulfähig zu sein scheint? Wer wird die erste Lehrerin des Kindes werden? Solche und viele weitere Fragen gehen Eltern beim Gedanken an den nahenden Schulstart durch den Kopf.
Schulreife oder Schulfähigkeit?
Was „Schulfähigkeit“ eigentlich bedeutet und umfasst, ist den meisten Eltern gar nicht bewusst. Der alte Begriff der Schulreife trifft nicht, worauf es heute beim Schulstart ankommt, denn das Reifen geschieht natürlicherweise und ohne weiteres Zutun. Die Schulfähigkeit hingegen schließt darüber hinaus vorschulische Erfahrungen ein, ohne die das systematische Lernen im Unterricht nicht gelingen kann. Deswegen ist der mehrjährige Besuch einer Kita vor dem Schulstart so wichtig, zumal heutige Kinder im Durchschnitt nur halb so viele Geschwister haben wie ich in meiner Kinderzeit. Schulfähigkeit besteht aus fünf Bereichen: körperlicher Entwicklungsstand, Denkfähigkeit, Motivation, soziale Fähigkeiten sowie Aufmerksamkeit. Darüber hinaus können gesundheitliche Beeinträchtigungen, aber auch der elterliche Erziehungsstil und erst recht vorschulische Leseerfahrungen eine Rolle für die Entwicklung von Schulfähigkeit spielen.
„Wache Aufmerksamkeit“
gilt als die Mutter der Intelligenz. „Kinder, merket auf!“, sagten Lehrer deshalb in früherer Zeit, wenn sie etwas erklären wollten. Wer seine Aufmerksamkeit bewusst auf etwas richtet, konzentriert sich – eine Fähigkeit, die in der Schule unverzichtbar ist. Konzentration kann man jedoch nicht an der Ausdauer messen, mit der man einen fesselnden Roman liest, sondern eher an der Spanne, mit der man sich einem trockenen Fachbuch widmet. Wenn ein Kind im Schulstartalter in der Lage ist, 10-15 Minuten etwas zu tun, was es soll, aber nicht unbedingt mag, liegt seine Aufmerksamkeitsfähigkeit im Durchschnitt. Sie lässt sich spielerisch wunderbar mit Lauschübungen fördern: Wie viele Vögel zwitschern gerade? Hörst du den Wind in den Bäumen rauschen? Kannst du den Bach plätschern hören? So lernt das Kind, genau hinzuhören und „die Ohren zu spitzen“. Beim Malen und Basteln kann man die Konzentration genauso trainieren wie beim Riechen, Schmecken und Tasten, bei Geschicklichkeitsspielen und Rätseln oder auch beim Musizieren oder Kasperletheater spielen. Je ausdauernder ein Kind bei der Sache zu bleiben vermag, auch wenn es sie nicht als besonders fesselnd empfindet, desto besser.
Weitere Fördermöglichkeiten
Denkfähigkeit
Intelligenz ist jedoch nicht alles, denn man muss sie schließlich auch in geistige Leistung umsetzen können. Dazu gehört Denkfähigkeit; sie hat viel mit visueller Wahrnehmung, also dem genauen Hinschauen, zu tun. Aber auch gut (zu)hören zu können ist wesentlich, desgleichen die Merkfähigkeit. Wer sein Kind diesbezüglich fördern will, kann es ab und zu auffordern, drei Sachen aus einem anderen Raum zu holen. Kreativität und Denkfähigkeit werden in Rollenspielen wie dem uralten „Vater, Mutter und Kind“ geübt. Aber auch Museumsbesuche, die heutzutage dank museumspädagogischer Führungen lebendig und anschaulich verlaufen, sind förderlich. Sammelhobbys gehören gleichfalls in diesen Bereich, denn wenn Kinder etwa Steinchen sammeln und aufbewahren können, werden sie sie bald nach Größe, Form und Farbe sortieren. So entwickeln sie Ordnungsprinzipien, die für das später in der Schule gesammelte Wissen hilfreich sind. In der Schule wird zudem sprachliche Ausdrucksfähigkeit verlangt; da sind Bilderbücher und das Reden darüber oder die Aufforderung zum Erzählen vom Spielplatzbesuch hilfreich.
Körperlicher Entwicklungsstand
Schulfähigkeit umfasst jedoch neben Intelligenz und Denkvermögen auch körperliche Fähigkeiten. Dazu gehören unter anderem die Grob- und die Feinmotorik. Grobmotorik meint die Geschicklichkeit mit Armen und Händen sowie Beinen und Füßen. Auf einem Bein stehen und zehnmal hüpfen können, balancieren auf kleinen Mauern oder auf liegenden Baumstämmen, klettern, Hindernisse überspringen, rückwärts gehen, einen Hampelmann nachmachen oder einen großen Ball werfen und fangen zu können, sind alles grobmotorische Kunststücke. Heutige Kinder haben deutlich mehr Probleme in diesem Bereich als frühere Generationen, weil sie sich weniger und vor allem weniger vielfältig bewegen. Das führt unter anderem zu einer gestiegenen Häufigkeit von Verletzungen bei Missgeschicken und Unfällen.
Auch die feinmotorischen Fähigkeiten haben nachgelassen. Damit meint man vor allem die Fingergeschicklichkeit, die man beim Malen, Ausschneiden und Basteln, aber auch bei Geschicklichkeitsspielen mit Murmeln, Lego, Puzzles oder Schütteldosen übt. Das Entwickeln einer lesbaren Schreibschrift hängt nicht allein von den Schreibübungen in der Schule ab, sondern vom Training der Fingergeschicklichkeit in den Jahren davor.
Motivation und soziale Fähigkeiten
Sie merken schon: Ein möglichst aktives Leben mit seinem Kind im Hier und Jetzt ist die beste Vorbereitung auf die Schule. Spezielle Fördermaterialien sind dafür absolut überflüssig. Aber EINE Eigenschaft braucht Ihr Kind ganz besonders:
Motivation
Dazu gehören nicht nur Interesse, Neugier und Selbstständigkeit, sondern ganz besonders eine gute Frustrationstoleranz. Das ist die Fähigkeit, mit Enttäuschungen umgehen oder ein Bedürfnis aufschieben zu können, ohne wütend zu werden oder vorschnell aufgeben zu wollen. Schätzungen von zahlreichen Erzieherinnen, die ich dazu befragt habe, gehen von mehr als 50 Prozent Kindern mit Problemen in diesem Bereich aus. Aber man kann Frustrationstoleranz in jedem Alter üben, auch wenn sie schon in den ersten drei Lebensjahren grundgelegt wird:
- Gesellschaftsspiele sind eine Möglichkeit dafür – und nicht nur „Mensch ärgere dich nicht“ ist da nützlich. Voraussetzung ist natürlich, dass Eltern nicht absichtlich verlieren, um ihrem Kind ein Erfolgserlebnis zu verschaffen. Wenn vier Personen ein Gesellschaftsspiel spielen, werden drei von ihnen verlieren. Das Gewinnen ist also eine Ausnahme. Wer mit dieser Erfahrung groß wird, lernt eine realistischere Erwartungshaltung als Kinder, die man ständig gewinnen lässt.
- Bei Geschicklichkeitsspielen wird der Wille der Kinder herausgefordert, immer besser zu werden. Deswegen wirken Jonglage, Klettern und „Ball an die Wand“ positiv. Sogar die kleinen Schütteldosen, bei denen man mehrere Kügelchen in dafür vorgesehene Löcher bugsieren muss, helfen beim Aufbau von Frustrationstoleranz.
- Auch Familien, die regelmäßig eine „Familienkonferenz“ abhalten, um beispielsweise Ausflugs- und Urlaubspläne gemeinsam zu entwickeln, helfen ihren Kindern dabei. Schließlich wird nicht jeder jedesmal seine Idee durchsetzen können, sondern es müssen Kompromisse gefunden und Entscheidungen akzeptiert werden, auch wenn der eigene Vorschlag sich nicht durchgesetzt hat.
- Selbst der Fernsehapparat kann zum Trainingsgerät für Frustrationstoleranz werden – wenn er häufig aus bleibt. In den ersten zwei Lebensjahren sollten unsere Kleinen möglichst gar keine Zeit vor einem Bildschirm verbringen, weil sie aufgrund ihrer noch nicht ausgereiften Wahrnehmungsfähigkeit daran Schaden nehmen können. Von drei bis fünf Jahren empfiehlt die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufkläung max. 30 und von sechs bis neun Jahren max. 60 Minuten pro Tag.
- Und schließlich vermag auch die Spardose Frustrationstoleranz zu fördern, wenn Kinder Sparziele verfolgen, um sich einen neuen Ball oder die begehrte Puppe zu kaufen. Dass Geld einen Wert hat, begreifen Sie erst, wenn sie die Erfahrung machen, dass sich nicht jeder Wunsch sofort erfüllen lässt.
Soziale Fähigkeiten
Bleiben noch die sozialen Fähigkeiten, deren Entwicklung den Kontakt mit anderen Kindern unterschiedlichsten Alters voraussetzt. Wer mit mehreren Geschwistern vom Kleinkind bis zum Jugendlichen aufwächst, hat deutliche Vorteile in diesem Bereich. Auf jeden Fall brauchen Kinder den Kontakt mit anderen, wie er beispielsweise in der Kita gelebt wird.
Wer kontaktfähig ist, tut sich leichter, mit bekannten wie auch noch nicht bekannten Menschen eine Beziehung aufzubauen, in welchem Alter auch immer. Das Überwinden von Schüchternheit ist ein Lernprozess und beginnt mit dem Aufbau von Selbstbewusstsein. Dieses wiederum hat nur durch Kontakt mit anderen Menschen einen Sinn, und dafür braucht man soziale Sensiblität. Das Kommunizieren umfasst weit mehr als lediglich den Austausch von Worten, denn Tonfall, Mimik und Gestik sowie die gesamte Körpersprache machen rund 90 Prozent davon aus – die Worte lediglich zehn Prozent. Deswegen ersetzen Telefonieren, Simsen und WhatsAppen nicht das direkte, persönliche Gespräch.
Zu guter Letzt
Wer das weiß, versteht, warum man viel mit den Kleinen reden soll – und das schon lange, bevor sie selbst sprechen können. Dass die Babys uns beim Telefonieren zuhören, bringt ihnen für ihre sprachliche Entwicklung absolut nichts, aber es schadet unserer Beziehung zu ihnen. Weil jedes Kind häufiger Konflikte erlebt und verarbeiten muss, sind direkte Gespräche mit ihm ungeheuer wichtig. Nur so kann es seine Person mit all ihren Ideen, Wünschen und Absichten im Laufe der Zeit immer besser mit der Welt in Einklang bringen und lernen, wie es die unvermeidlichen Konflikte sinnvoll austragen kann.
Eine große Hilfe in diesem Prozess stellt der Umgang mit Büchern dar. Kinder, die von klein auf regelmäßig vorgelesen bekommen, entwickeln Freude an Literatur. Ganz am Anfang stehen die reinen Bilderbücher, die man mit ihnen anschaut und erklärt. Bald kommen Bilderbücher mit Text ins Spiel, ob Prosa oder gereimt. Und schließlich kann man ihnen, etwa ab vier, fünf Jahren, Märchen oder auch moderne fantastische Geschichten vorlesen. Kinderromane wie die Jim-Knopf-Bücher von Michael Ende oder die Bullerbü-Geschichten von Astrid Lindgren wirken ebenso anregend wie beruhigend. Die allabendliche Fortsetzung eines Romans hat schon so manches Kind dazu veranlasst, selber das Lesen auszuprobieren – rund fünf Prozent können das bereits vor der Einschulung. Und die regelmäßigen Besuche in der Bibliothek tun das Ihre dazu, Freude an Literatur zu entwickeln und damit immer wieder weitere Beispiele für das Bewältigen von Konfliktsituationen im Leben kennenzulernen.
Alle hier angesprochenen Fähigkeiten und vorgeschlagenen Übungen sollten natürlich möglichst nicht erst im letzten Jahr vor dem Schulstart in den Blick genommen werden. Die ersten drei Lebensjahre eines Kindes sind die Zeit, die es am stärksten prägt, und nichts dient der Vorbereitung auf den Schulstart mehr als ein Kinderleben mit viel Aktion und Kommunikation.
Weiterführende Literatur
Detlef Träbert: Das Jahr vor dem Schulstart. Wie Eltern ihr Vorschulkind fördern können, Dreieich (MEDU Verlag) 2019, 212 S., € 14,95 (ISBN 978-3-96352-032-7)
Der Autor hält (nicht nur) zu diesem Thema Elternvorträge vor allem in Kindergärten und Familienzentren, zu weiteren Themen auch in sämtlichen allgemeinbildenden Schulen.
Weitere Beiträge des Autors hier in unserem Familienhandbuch
- Legasthenie - was ist das eigentlich?
- Schulangst
- Wie können wir die Lernmotivation von Kindern fördern?
- Die Schubs®-Methode – ein Rechtschreibtraining mit allen Sinnen
Autor
Detlef Träbert ist nach 18 Jahren als Lehrer und Beratungslehrer in Baden-Württemberg seit 1996 freiberuflich tätig. Der Diplom-Pädagoge betreibt seinen Schulberatungsservice Schubs® in Köln, von wo aus er Elternvorträge und –workshops sowie Fortbildungen für ErzieherInnen und Lehrkräfte in ganz Deutschland anbietet.
Er ist Autor zahlreicher Bücher im pädagogischen Bereich und seit 2016 Ehrenvorsitzender der Aktion Humane Schule e.V.
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Dipl.-Päd. Detlef Träbert
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eingestellt am 3. Juli 2019