Erzählen, vorlesen, selber lesen
Elisabeth C. Gründler
Das Erzählen von Geschichten gehörte für frühere Generationen gehörte ebenso selbstverständlich zum Alltag wie in schriftlosen Kulturen. Es schafft Beziehung, ob daheim oder in der Kita, unterstützt die kindliche Sprachentwicklung, fördert nicht nur das symbolische Denken, sondern hilft auch, emotionale Erlebnisse zu verarbeiten. Zur ErzählerIn wird man, indem man sich ganz praktisch vom Vorlesen löst und eine Geschichte einfach nacherzählt. Damit wird der Blick frei für die kindlichen ZuhörerInnen und ihre Bedürfnisse
“Da bekam das kleine Gespenst einen furchtbaren Schreck und sprang mit einem Satz hinter einen dicken Baum. Zitternd hielt es sich Augen und Ohren zu und machte sich ganz klein.”
Andreas zieht die Bettdecke etwas höher und kuschelt sich wohlig ein. “Dem kleinen Gespenst klapperten die Zähne und es schlotterte an allen Gliedern.”
Andreas seufzt tief. Er kann gut verstehen, dass jemand so große Angst haben kann. Fast jeden Abend kommt das kleine Gespenst an sein Bett, in der Gute-Nacht-Geschichte, die ihm seine Mutter erzählt.
“Das kleine Gespenst hockte eine Weile zitternd und zähneklappernd hinter dem Baum. Lange Zeit passierte gar nichts. Schließlich riskierte es einen kurzen Blick.”
Andreas atmet erleichtert auf. Die Stelle, die jetzt kommt, mag er am liebsten.
“Das kleine Gespenst sah zwei glühende Augen, die es unbeweglich anstarrten. Wieder saß es ganz still und wagte kaum zu atmen. Da hörte es plötzlich ein leises Miauen, das ihm gut bekannt vorkam”, hört er seine Mutter sagen.
“Seidenfell!”, fährt Andreas fort, denn er kennt diese Geschichte auswendig, “wie hast Du mich erschreckt! ‘Man wird sich doch noch sein Abendbrot fangen dürfen’, erwiderte Seidenfell beleidigt.” Andreas bemüht sich, die Stimme der Katze zu imitieren: “Jetzt hast Du meinen Mäusebraten verjagt, mit Deinem Zähneklappern.”
“Dem kleinen Gespenst tat es leid, dass Seidenfell nun kein Abendbrot hatte”, fährt Andreas Mutter fort, “und es überlegte, was zu tun sei. ‘Bei uns gibt’s heute Abend Pizza, komm doch zu uns Pizzaessen lud das kleine Gespenst seine Freundin ein.” “Nein”, protestiert Andreas, “nicht immer Pizza. Seidenfell will heute Würstchen”. Die Mutter geht darauf sofort ein und ändert den Schluss der Geschichte: “Bei uns gibt’s heute Abend Würstchen, komm doch zu uns zum Würstchenessen. Und so gingen das kleine Gespenst und Seidenfell zusammen nach Hause.”
Erzählen schafft Beziehung
Kein Medium steht als Vermittler zwischen dem Erwachsenen und dem Kind. Eine entspannte ErzählerIn kann ihr Publikum offen wahrnehmen. Das ist besonders wichtig, wenn der Tag voll war mit Stress, Hetze und Terminen – ein “normaler” Tag also. Ist das Kind müde, traurig, aufgekratzt oder aggressiv? Wenn es schon Geschichten kennt, wird es sich genau die wählen, die passt. Manchmal möchte es eine Geschichte immer und immer wieder hören und gibt acht, dass nichts verändert wird. Die aufmerksame ErzählerIn wird den Grund bald entdecken und fortfahren, die Geschichte immer wieder neu zu erzählen. Andreas kann sich sehr gut vorstellen, wie das kleine Gespenst sich fühlt und ist jedes mal erleichtert, wenn sich die Angst als grundlos erweist.
Was tun, wenn man noch nie erzählt hat?
“Einfach anfangen,” rät eine erfahrene ErzählerIn, “mit einer Geschichte, die man schon oft vorgelesen hat, oder einem Märchen, das man auswendig weiß. Es gibt eigentlich kein Kind, dass das Erzählen nicht genießt. Es war die positive Reaktion meiner Kinder, die mich ermutigt hat, immer wieder zu erzählen. Oft schauen sie wie gebannt auf meine Gesten und meine Mimik. Vor ihren inneren Augen erleben sie mit, was ihren Helden passiert.”
Erzählen fördert das Denken der Kinder
Beim Erzählen oder Vorlesen hören kleine Kinder oft wie gebannt und in sich gekehrt zu, denn das gesprochene Wort erzeugt bei ihnen einen inneren Bilderstrom, dem sie sich fasziniert hingeben. Das menschliche Gehirn verfügt über die Fähigkeit der inneren Bilderzeugung. Diese entwickelt sich ab dem 18. Lebensmonat – vorausgesetzt das Kind erhält die Gelegenheit dazu. Das sind Situationen, die seiner Vorstellungskraft Raum lassen, wie z.B. eine Geschichte, die erzählt wird. Phantasie und Kreativität werden von inneren Bildern ebenso genährt, wie das symbolische Denken. Es ist dieses symbolische Denken, das später den Umgang mit Buchstaben und Zahlen, also das Erlernen von Lesen und Rechnen, ermöglicht. Wird dem kleinen Kind ständig ein äußerer Bilderstrom angeboten, z. B. durch dauernden Fernsehkonsum, wird seine Fähigkeit zur inneren Bilderzeugung nicht aktiviert und damit der Grund für spätere Lernstörungen gelegt. Durch Erzählen und Vorlesen jedoch können sich symbolisches Denken und kindliche Kreativität entwickeln.
Erzählen im Kindergarten
“Ritter Dullibu schlich in der Nacht heimlich aus seiner belagerten Burg…” Zwölf Kinder sitzen im Morgenkreis und lauschen einer Geschichte. In dieser Kita in Berlin werden noch regelmäßig Geschichten erzählt. Ritter Dullibu mögen die Kinder sehr, denn er kann sich verwandeln: in einen Räuber, einen Postboten oder einen Feuerwehrmann. Er gerät selten in Prügeleien, meist weiß er sich mit List und Witz aus der Affäre zu ziehen. “Oft fallen mir die Fortsetzungen auf dem Fahrrad ein, wenn ich auf dem Weg zur Arbeit bin,” sagt sein Schöpfer, der Erzieher Karl Freytag. “Wenn ich keine Ideen habe, lasse ich die Kinder Vorschläge machen. So entsteht eine Geschichte, an der alle beteiligt sind.”
Höhepunkt im Alltag ist das Geschichtenerzählen auch im Ev. Kindergarten St. Markus in Hannover. Höhepunkt, verbunden mit den Festen Weihnachten, Ostern oder Erntedank. “Geschichten sollen in erster Linie Spaß machen und unterhalten”, findet Reinhard Krüger, Leiter des Kindergartens. Alle Gruppen, mehr als sechzig Kinder, versammeln sich dazu im Bewegungsraum der Kita. Es ist eng und heimelig, wie in einer Höhle. Für kurze Zeit reisen alle in eine andere Welt und bringen ein Stück Verzauberung in den Alltag mit.
“Vorgelesen wird bei uns täglich”, berichtet Krüger. “Ich ermutige alle, sich vom Text des Buches zu lösen und die Geschichten anhand der Bilder frei zu erzählen. So wird es der ErzählerIn möglich, auf die Kinder zu achten und ihre Bedürfnisse wahrzunehmen. Mit der Zeit wird jeder, der Geschichten erzählt so sensibel, dass er bemerkt, wann ein Kind oder mehrere aus der Gruppe die Geschichte variieren möchte. So wird es möglich, diesem Impuls nachzugeben. “Die Kinder erleben sich als Handelnde und Gestaltende und finden eine Möglichkeit, ihr Erleben, ihre Ängste auszudrücken. Kinder, die solche Aufmerksamkeit erfahren, fühlen sich verstanden und angenommen.
Erzählen motiviert zum Lesen
Kindern, denen Vorlesen und der Umgang mit Büchern vertraut sind, werden irgendwann selbst zu “Leseratten”. Sie kommen an den Punkt, wo ihnen das Vorlesen nicht mehr schnell genug geht. Begierig zu wissen, wie die Geschichte weitergeht, lesen sie das Buch allein zu Ende. Aber auch Kinder, die schon selbständig Bücher lesen, bitten ihre Eltern noch oft genug um das Vorlesen oder Erzählen einer Geschichte. Es ist die Zuwendung und Nähe und Aufmerksamkeit des Erwachsenen, was die Kinder so genießen.
Das Lernen der Sprache geschieht beim Erzählen, Vorlesen und Lesen nebenbei, lustvoll und ohne Anstrengung. Komplexe Satzmuster prägen sich ein, in unzähligen Varianten, denn jeder Erzähler und jeder Autor hat seinen eigenen Stil. Neue Wörter und Ausdrücke erschließen sich aus dem Kontext und das Kind nimmt sie in seinen Wortschatz auf. Das Kind merkt nicht, dass es lernt. “Eine Leseratte, die eine schlechte Schülerin war, ist mir noch nicht vorgekommen”, berichtet eine erfahrene Grundschullehrerin. “Selbst wenn Rechtschreibung und Interpunktion Schwierigkeiten bereiten, sprühen die Aufsätze oft vor Ideen und heben sich sprachlich deutlich hervor. An den Aufsätzen kann ich klar erkennen, welche Kinder Lesepraxis haben.”
Kinder, denen erzählt und vorgelesen wurde, entwickeln ein sicheres Gefühl für Sprache und für gute Geschichten. “Comics sind mir nach zwei oder dreimal lesen langweilig”, sagt z.B. eine Achtjährige, “aber ‘Michel in der Suppenschüssel’ kann ich immer wieder lesen.”
Literatur
- Rebeca Wild (2001): Lebensqualität für Kinder und andere Menschen, Weinheim.
- Elisabeth C. Gründler (2008): Rohstoff Intelligenz, Cornelsen-Verlag.
Weitere Beiträge der Autorin hier in unserem Familienhandbuch
- Wie durch Geruch Bindung entsteht
- Kooperation mit dem Säugling
- Freies Spiel von Säuglingen und Kleinkindern. Das Kind als Akteur seiner Entwicklung.
- Sich die Welt ertasten: Der Tastsinn bei Säuglingen und Kleinkindern
- Sprache lernen und Bewegung
- Die Eltern-Kind- Beziehung kann nicht demokratisch sein.
Autorin
Elisabeth C. Gründler
Freie Journalistin
Prinzregentenstraße 69a
10715 Berlin
Erstellt am 6. Mai 2002, zuletzt geändert am 18. Oktober 2013