Kinder und Fantasie oder: „Papa, ich habe den Drachen besiegt“

Christina Zehetner
Foto Zehetner Ifp

Die Sprüche „Du hast aber eine blühende Fantasie“ oder „Da geht deine Fantasie mal wieder mit dir durch“ kennt sicher jeder. Doch was bedeutet es eigentlich, Fantasie zu haben? Und wie entwickelt sich Fantasie bei Kindern? Der Artikel geht diesen Fragen auf den Grund und gibt Eltern Tipps, mit den Fantasiegeschichten ihrer Kinder im Alltag umzugehen. Gleichzeitig können Eltern dabei auch von ihren Kindern lernen.

Max (4 Jahre) sieht in jeder Wolke ein fantastisches Wesen. Beim Spaziergehen kommt er nur langsam voran, weil sein Blick immer wieder zum Himmel geht und er entdeckt, dass die Wolken manchmal sogar miteinander kämpfen.

Julia (6) ist eine gute Fee. Der Kochlöffel wird zum Zauberstab und aus Stühlen und Decken baut sie sich eine Feenhöhle. Ihre Mutter muss einen großen Schritt machen, um zur Feenhöhle zu gelangen. Denn diese wird von einem magischen See umgeben, in dem Meerjungfrauen schwimmen.

Sebastian (8 Jahre) schreibt tolle Fantasiegeschichten, in denen es von Monstern und Drachenbekämpfern nur so wimmelt. Dabei ist er immer der Held seiner eigenen Geschichten.

Haben alle Kinder Fantasie? 

Allen Kindern wird Kreativität und Fantasie geradezu in die Wiege gelegt. Mit der richtigen Förderung und einer vertrauensvollen, zugewandten Erziehung, können Kinderfantasien richtig erblühen und zum Leben erwachen. Wichtig dabei ist es, den Kindern möglichst viele Freiräume für das Ausleben kindlicher Gedanken und Ideen zu lassen (1).

Es wäre sehr schade, wenn die kindliche Fantasie im Keim erstickt würde. Dies passiert, wenn man kindliche Erzählungen, Träume und Rollenspiele sofort in die Realität holt. „Fabian, es ist gar nicht möglich, dass Autos fliegen.“ „Nein Paula, im Wohnzimmer laufen keine Dinosaurier“. „Ach Mia. Das Christkind gibt es doch gar nicht und es gibt auch keine Engelwerkstatt im Himmel. Dort ist nur das Weltall.“

Wie entwickelt sich Fantasie? 

Etwa im dritten Lebensjahr beginnt bei Kindern die „magische Phase“, die bis ins 6./7. Lebensjahr hinein das Denken und Handeln von Kindern bestimmt und maßgeblich mitbeeinflusst. In diesem Zeitraum ist der Glaube an Fabelwesen aus Märchen, den Osterhasen oder den Nikolaus besonders ausgeprägt. Vieles was für Erwachsene unrealistisch erscheint, ist in dieser Phase für die Kinder möglich. So kann es sein, dass Eltern das unter dem Bett ihres Kindes lebende Krokodil füttern dürfen oder plötzlich einen Piratenkapitän oder eine Prinzessin zuhause haben. Kinder lieben es, in andere Rollen zu schlüpfen und diese zu spielen.

Auch beim Gestalten und Malen beweisen Kinder dieser Altersstufe viel Fantasie und Kreativität. Feuerwehrautos werden Flügel gemalt und Fische leben in Wohnungen. Ungefähr bis zum Beginn der Grundschulzeit dauert diese Phase und flacht danach von alleine wieder ab. Auch viele alterstypische Ängste treten in diesem Zeitfenster auf (2). Einfach auch, weil für Kinder so viel mehr vorstellbar ist als für uns eher kognitiv denkende Erwachsene. Maßgeblich entwickelt sich Fantasie bei Kindern weiter, wenn Kinder Raum und Zeit für ihre kreativen Ideen und Fantasien zur Verfügung haben.

Dabei helfen Farben, Naturmaterialien, Kartons, Stoffe, Tücher. Eben alle Materialien, mit denen Kinder sich kreativ ausleben können. Eltern dürfen hier ruhig erfinderisch sein. So kann die selbstgebastelte Rakete aus Pappkarton natürlich auch ins All fliegen. Also sollten sich alle gut anschnallen und auf jeden Fall einen Helm aufsetzen. Der Spielfreude sind hier keine Grenzen gesetzt. Darüber hinaus fördern das Vorlesen von fantasievollen Bilderbüchern und das Erfinden eigener Geschichten kreative kindliche Prozesse.

Was bringt fantastisches Denken den Kindern? 

Mittlerweile ist sich die Wissenschaft sicher, dass Fantasie das Lernen von Kindern beflügelt und somit auch die gesamte kindliche Entwicklung positiv beeinflusst (3). Kinder ziehen viel Energie und Lebensfreude aus ihren fantastischen Geschichten und Darstellungen. Sie lernen soziale Kompetenzen in Rollenspielen und begreifen Realitäten besser, wenn sie die Möglichkeit des fantasievollen Ausprobierens haben.

Es kommt nicht selten vor, dass Kinder nach ihrem ersten Friseurbesuch intensiv mit Kamm und Bürste arbeiten und neben Mama und Papa auch alle Kuscheltiere, inklusive Einhorn eine neue fantasievolle Frisur bekommen. Kinder eignen sich auf diesem Weg wichtige Fähigkeiten und Fertigkeiten an und lernen durch das eigene Tun. Viele schöpferische und künstlerische Werke entstehen zuallererst aus fantasievollen Gedanken. Dabei „spielen“ Kinder im Gegensatz zu Erwachsenen nicht Prinzessin oder Pirat. Sie sind es in ihrer Fantasie und kindlichen Vorstellung wirklich. Das unterscheidet das kindliche Denken klar von der rationalen Sichtweise der Erwachsenen.

Auch das Träumen gehört zur Fantasie dazu. Der pädagogische Berater Jan-Uwe Rogge sieht darin unter anderem auch den Schlüssel zur Entfaltung des geistigen Potenzials eines Kindes (4). Daher sind Fantasie und Kreativität oft bedeutender als Eltern es annehmen. Auch wenn kognitive Denkprozesse natürlich wichtig sind, stärken Fantasie und Kreativität die Leistungsbereitschaft und Persönlichkeitsentwicklung des Kindes.

Wie können Eltern sinnvoll auf Fantasiegeschichten ihrer Kinder reagieren? 

Eltern sollten sich nicht zu viele Sorgen machen und können sich ruhig auf die fantastische Gedankenebene der Kinder einzulassen. Zuhören. Mitmachen. Mitspielen heißt die Devise – und das kann wirklich viel Freude bereiten. Egal ob Eltern den Geburtstag des Kuscheltierhasen mitfeiern oder bei der Operation der Lieblingspuppe assistieren. So ist es möglich, Brücken zu schlagen und mit den Kindern in Beziehung zu gehen.

Wichtig ist bei allem Spaß und aller Fantasie allerdings auch, dass sich Kinder nicht zu sehr in ihre fantasievollen Gedankenwelten hineinsteigern. Ein ausgedachtes Krokodil unter dem Bett kann auch Angst machen und ein imaginärer Freund ist zwar toll, aber doch nicht zu vergleichen mit echten Freunden, mit denen man draußen spielen und toben kann. Eltern sollten ihre Kinder daher im Alltag vertrauensvoll begleiten, auf kindgerechte Fernsehsendungen achten und den natürlichen Bewegungsdrang ihrer Kinder unterstützen. Dann sind der Fantasie keine Grenzen gesetzt. Mit älteren Kindern können Eltern gut ins Gespräch kommen, in dem sie fantastische Fragen aufgreifen und sie in die Realität holen. „Was wäre denn, wenn du wirklich unsichtbar wärst?“ So kann ein tolles Miteinander entstehen, von dem Erwachsene und Kinder profitieren.

Was können sich Eltern in Sachen Fantasie von Kindern abschauen? 

Schon Albert Einstein erkannte, dass „Fantasie wichtiger ist als Wissen“. Denn Wissen ist begrenzt. Fantasie ist unbegrenzt und schafft auch für Eltern im familiären und beruflichen Bereich neue Möglichkeiten (5). Eltern sollten sich unbedingt von der Unbefangenheit ihrer Kinder anstecken lassen. Sich einzulassen auf Neues, alles auch einmal von einer anderen Perspektive aus betrachten und vielleicht alte eingetretene Pfade zu verlassen, schafft neue Freiheiten.

Viele Erwachsene wünschen sich, wieder einmal Kind zu sein. Eigene Kinder zu haben, schafft für Eltern die Möglichkeit diesem Traum ein Stück näher zu kommen. Der eigenen Fantasie freien Lauf zu lassen, sich seine eigenen Wünsche und Träume bunt auszumalen, setzt Energien frei und stärkt für den privaten und beruflichen Alltag. Vielleicht ist es dann auch für Erwachsene wieder möglich, die ein oder andere Fantasie, den ein oder anderen Traum, Wirklichkeit werden zu lassen.

Literatur

(1) Weisberg, Deena (08.12.2016): Wie Fantasie das Lernen beflügelt.     https://www.spektrum.de/news/wie-fantasie-kindern-beim-lernen-hilft/1431798 (abgerufen am 11.12.2019)

(2) Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA): Die magische Phase:

https://www.kindergesundheit-info.de/themen/entwicklung/entwicklungsschritte/geistige-entwicklung/magische-phase (abgerufen am 12.12.2019)

(3) Weisberg, Deena (08.12.2016): Wie Fantasie das Lernen beflügelt.     https://www.spektrum.de/news/wie-fantasie-kindern-beim-lernen-hilft/1431798 (abgerufen am 11.12.2019)

(4) Jan-Uwe Rogge/Angelika Bartram: Lasst die Kinder träumen. Warum Phantasie wichtiger ist als Wissen. Rohwolt Taschenbuch Verlag. 30. Januar 2015

(5) Phantasie ist wichtiger als Wissen. Aufgezeichnet von Dorothee Nolte (20.01.2005)  https://www.tagesspiegel.de/themen/gesundheit/phantasie-ist-wichtiger-als-wissen/578556.html (abgerufen am 18.12.2019)

Weiterführende Literatur

Jan Uwe Rogge/Angelika Bartram: Lasst die Kinder träumen. Warum Phantasie wichtiger ist als Wissen. Rohwolt Taschenbuch Verlag. 30. Januar 2015

Autorin

Christina Zehetner (geb. Kursawe) ist Erzieherin und Sozialpädagogin. Sie hat langjährige praktische Erfahrungen in der ambulanten und stationären Kinder- und Jugendhilfe und arbeitete mehrere Jahre im Jugendamt. Die Autorin ist aktuell als Freie Mitarbeiterin am Staatsinstitut für Frühpädagogik in München tätig. Zudem hält sie als Beraterin humorvolle Seminare und Vorträge für Familien und Fachkräfte.

Weitere Beiträge der Autorin hier in unserem Fanilienhandbuch

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eingestellt am 10. Januar 2020

 

 

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