Matsch und Modder, Blumen und Steine: Warum Kinder die Natur brauchen
Elke Leger
Kinder lieben es draußen in der Natur zu sein, zu matschen und zu toben. Sie können stundenlang mit Stöcken und Steinen spielen, ohne sich zu langweilen. Aber nicht nur der spielerische Anteil kommt Kindern draußen zu gute, auch die Sinne und die Wahrnehmung werden geschult. Kinder sind noch eins mit der Natur. Der nachfolgende Artikel unterstreicht diese positiven Aspekte in der Kindererziehung- und betreuung.
Wie gut hatten es die Kinder aus Bullerbü. Sie fühlten die Stoppeln der Getreidehalme unter den Füßen, wenn sie barfuß über die Felder liefen. Bauten Höhlen im Heu und badeten im eiskalten See. Im fühlbaren Wechsel der Jahreszeiten wuchsen sie heran, kletterten, sprangen, krochen, rannten, waren eins mit der Natur, die sie umgab.
Vielleicht sind die Geschichten der schwedischen Kinderbuchautorin Astrid Lindgren über Generationen hinweg so beliebt, weil hier die großen und kleinen Leser spüren: Diese Kinder haben das, was sie zu einer glücklichen Kindheit brauchen: Geborgenheit in der Familie, gleichzeitig Freiheit und die Natur als Spiel-Raum.
Alexander Mitscherlich, Psychoanalytiker und einer der Wegbereiter der psychosomatischen Medizin in Deutschland, drückte es so aus: “Der junge Mensch braucht seinesgleichen – nämlich Tiere, überhaupt Elementares: Wasser, Dreck, Gebüsche, Spielraum. Man kann ihn auch ohne dies alles aufwachsen lassen, mit Stofftieren, Teppichen, auf asphaltierten Straßen und Höfen. Er überlebt es, doch man soll sich dann nicht wundern, wenn er später bestimmte soziale Grundleistungen nicht mehr erlernt.”
Noch ganz verbunden mit der Natur
Bei seiner Geburt bringt das Kind die Neugier auf seine natürliche Umgebung mit auf die Welt. Es liebt das Wasser, vielleicht als Erinnerung an das Element, in dem es herangewachsen ist. Es liebt Matsch und Modder, Blumen, Stöckchen und Steine, will sich bewegen, klettern, toben. Es liebt die Sonne und den Schnee, spürt gern den kalten Wind auf seinem Körper und weigert sich entschieden, die warme Jacke anzuziehen, die die fürsorgliche Mutter ihm reicht. Es liebt Tiere, für die es verantwortlich sein darf und mit denen es Zwiesprache halten kann. Es liebt den Wald mit seinen geheimnisvollen Düften nach nassem Laub und Pilzen und den Versteck-Plätzen zwischen tief hängenden Zweigen. Es möchte die Natur spüren, weil es noch eins ist mit ihr. Wie wenig Rücksicht nimmt unsere moderne Welt auf dieses Bedürfnis!
Dass jedoch pessimistisches Jammern über betongraue Lebensräume nichts bringt, erkannten engagierte Pädagogen schon vor Jahren. Die Außenbereiche vieler Kindergärten und Schulen wurden mit tatkräftiger Eltern-Mithilfe vom Beton befreit und als naturnahe Spiel-Plätze angelegt: Hier können die Kinder buddeln und pflanzen, klettern und sich verstecken. Zu wahren Naturparadiesen sind mittlerweile einige öffentliche Spielplätze geworden, und in allen Bundesländern finden sich “Waldkindergärten” , in denen die Kinder unter freiem Himmel spielen, lernen, basteln und toben (siehe Kasten).
Durch den Umgang in und mit der Natur öffnen sich die Sinne und schult sich der Verstand. Kein Fernsehfilm könnte das ersetzen, was ein Kind etwa beim Klettern erlebt: Augen, Hände und Füße müssen gut kooperieren, um sicheren Tritt zu fassen an der Rinde des Baumstamms, ein Ausrutschen verwandelt Übermut in Vorsicht, das Einschätzen der Tragfähigkeit eines Astes lehrt planendes Handeln. Seine körperlichen Grenzen erfährt das Kind hier ebenso wie das überwältigende Gefühl, ein Ziel erreichen zu können. All diese Erfahrungen nisten sich ein in der Psyche des Kindes, formen seine Persönlichkeit.
Mit dem Herzen verstehen
Seit Jahren beobachten Experten die zunehmenden Defizite der Kinder: Sie sind ungelenkig und übergewichtig, und Erzieherinnen und Lehrer klagen über wachsenden Egoismus ihrer Schützlinge. Wie aber soll ein Kind seinen Bewegungsdrang ausleben, wenn seine Umgebung fürs Stillsitzen gemacht ist, im Auto, vor dem Fernseher, in der Wohnung? Wie soll es soziale Kompetenz erlernen, wenn es sich vor seiner Umwelt fürchten muss anstatt sie erobern zu können? Und wenn es die Achtung vor allem Lebendigen nicht durch eigene Erfahrung entwickeln konnte? Das kleine Kind, für das die Welt noch voller Magie und Zauber steckt, versteht mit dem Herzen, dass es einem Baum weh tut, wenn seine Rinde beschädigt wurde, oder dass ein Tier leidet, wenn man es falsch behandelt. So etwas kann man nicht aus einem Film lernen. Mitgefühl entsteht aus Reaktion aufs eigene Tun.
Um einem Kind die Natur nahe zu bringen, braucht es gar nicht viel. Genug Raum und Zeit zum Toben und Kräftemessen unter freiem Himmel. Die Aufmerksamkeit für die Stille in einem dichten Wald. Zuneigung und Zuverlässigkeit Tieren gegenüber – sei es ein Heimtier oder die Drossel, die regelmäßig auf dem Balkon zu Besuch kommt. Das bewusste Erleben der Jahreszeiten und das Bekanntwerden mit den vier Elementen: mit der Luft und dem Wasser, dem Feuer und dem Erdboden.
Im Rahmen der “Erlebnispädagogik” lernen problembeladene Jugendliche, sich wieder als Teil der Natur zu empfinden, sich in ihr zu behaupten und an ihr zu messen – oft über viele Monate. Kleine Kinder, die noch ganz unmittelbar und aufnahmebereit in ihrer Welt stehen, brauchen noch nicht solche pädagogisch ausgefeilten Konzepte. Sie schaffen sich selbst den Zugang zu allem, was sie für ihre gesunde Entwicklung brauchen. Wenn man sie nur lässt.
Waldkindergärten: Bei jedem Wetter draußen
Vor rund 30 Jahren entstand in Dänemark der erste “Waldkindergarten” , und seit etwa 10 Jahren gibt es diese Einrichtungen auch in Deutschland: Kindergärten ohne Türen und Wände. Die Gruppen gehen morgens in den Wald (oder, in Küstennähe, an den Strand), und hier wird gespielt und gegessen, getobt und gelernt. Befürworter dieser Einrichtungen sehen darin große Förder-Möglichkeiten für die Kinder: eine natürliche Schulung der Motorik und körperlichen Entwicklung, unmittelbare und kreative Naturerfahrung statt des Umgangs mit vorgefertigten Spielmaterialien, eine gesunde Entwicklung der Persönlichkeit. Und nicht zuletzt: die körperliche Robustheit, die das Spielen bei Wind und Wetter in der frischen Luft mit sich bringt.
Die Schutzgemeinschaft Deutscher Wald unterstützt diese Idee nach dem Motto »Nur das, was man kennt, liebt und schützt man«.
Inzwischen gibt es bundesweit etwa 270 Waldkindergärten. Eine Auflistung dieser Einrichtungen finden Sie beim Bundesverband der Natur- und Waldkindergärten in Deutschland.
Experimente für Natur-Detektive
Natur-Schaufenster
Kleiden Sie die Innenseite eines großen Glases mit Löschpapier aus und stopfen Sie das Glasinnere locker mit Zeitungspapier aus. Zwischen Glaswand und Löschpapier stecken Sie einige Bohnen und stellen das Glas unbedeckt an einen hellen Platz. Wird das Papier regelmäßig feucht gehalten, entwickeln die Bohnen nach einiger Zeit Wurzeln und dann Triebe. Ihr Kind kann diese Entwicklung wie durch ein Schaufenster miterleben.
Wald-Quiz
Ein Kind sammelt im Wald zehn (bei jüngeren Kindern: fünf) Gegenstände – Zapfen, Steine, Tannennadeln, Beeren, Zweige eines bestimmten Baumes …
Die anderen Kinder dürfen sich diese Gegenstände eine Weile ansehen, dann wird ein Tuch darüber gedeckt. Wer hat sich alle Dinge gemerkt und kann sie im Wald wieder finden?
Weitere Beiträge der Autorin hier in unserem Familienhandbuch
- Verkleiden: Die Lust, neue Rollen auszuprobieren
- "Meins" - Kinder und Besitz
- Perfektion: das falsche Ziel für Eltern
- Die Kunst des Schenkens - Wie Eltern auf Kinderwünsche richtig reagieren
- Lernen mit allen Sinnen
- Warum Kinder fragen müssen
- Auf der Suche nach dem richtigen Beruf: Wer die Wahl hat ...
- Zeitmanagement: Wie Kinder lernen, mit der Zeit umzugehen
Autorin
Elke Leger, Psychologin, Journalistin, Buchautorin, Mutter von zwei Kindern, viele Jahre Redakteurin einer Familienzeitschrift
Kontakt
Elke Leger
Journalistin – Autorin – Psychologin
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Erstellt am 7. Juli 2003, zuletzt geändert am 6. August 2014